Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Mao als blutrünstiges Monster

Mao Tse-tung, der jahrzehntelang politische Macht ausübte über das Leben eines Viertels der Weltbevölkerung, sei persönlich verantwortlich für über 70 Millionen Tote in Friedenszeiten. Kein anderer politischer Führer des 20. Jahrhunderts reiche hier an ihn heran. Das ist die zentrale These der Mao-Biographie von Jung Chang und Jon Halliday. Sebastian Heilmann von der Harvard Universität stellt das Buch auf den Prüfstand.

Von Sebastian Heilmann | 14.11.2005
    Dieses Buch ist keine Biographie, sondern eine Anklageschrift. Die von Krieg und Terror geprägte Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert wird als Ergebnis des Machthungers und der Menschenverachtung Mao Zedongs dargelegt: Mao habe als Diktator in seiner Grausamkeit gegenüber dem eigenen Volk Hitler und Stalin noch übertroffen.

    Bereits in ihrem autobiographischen Bestseller "Wilde Schwäne" hatte Jung Chang die Hauptschuld für die Leiden ihrer Familie unter kommunistischer Herrschaft Mao persönlich angelastet. Für ihr neues Mao-Buch hat Jung Chang gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem britischen Historiker, mehr als zehn Jahre lang recherchiert. Es geht ihr darum, mittels neuer Quellen die Verzerrungen und Lügen der offiziellen chinesischen Parteigeschichtsschreibung bloßzulegen und Maos Verantwortung für die Leiden des chinesischen Volkes zu beweisen.

    In den 58 Kapiteln des Buches werden maßgebliche Ereignisse und Entwicklungen der Jahrzehnte zwischen dem politischen Aufstieg Maos nach 1928 bis zu dessen Tod 1976 auf Kalküle, Intrigen oder geheime Weisungen Maos zurückgeführt. Aufstände, Kriegshandlungen, politische Morde, Folterungen, öffentliche Hinrichtungen, Terrorkampagnen, Hungersnöte – Mao war aus der Sicht der Autoren fast immer direkt oder indirekt beteiligt. Die kommunistische Revolution in China erscheint nach der Lektüre dieses Buch als eine große wilde Verschwörungsgeschichte mit Stalin und Mao als übermächtigen Strippenziehern, die eine Unzahl mehr oder weniger tumber Marionetten manipulieren und in den Untergang treiben. Selbst der militärische Vorstoß Japans auf Shanghai 1937 wird als Ergebnis einer Verschwörung kommunistischer Agenten dargelegt, die im Interesse Stalins die japanische Militärmacht von den Grenzen der Sowjetunion weg in den Süden Chinas lockten. Solche Verschwörungstheorien sind unterhaltsam, erscheinen aufgrund der dürren Quellenbasis und bereits vorliegender seriöser historischer Studien aber unhaltbar.

    Zu den wenigen guten Elementen des Buches gehört die Verwendung eines breiten Spektrums sowjetischer Quellen. Die Schilderungen der von wechselseitigen Täuschungsmanövern geprägten Beziehungen zwischen Mao und Stalin sind aufschlussreich. Auch wird der Terror, der in den von Mao geleiteten kommunistischen Sowjetgebieten bereits vor 1949 herrschte, gestützt auf eine Reihe neuer Quellen mit großer Eindringlichkeit geschildert. Der Mao-Kult wird plausibel als Produkt von gezielten Terrormaßnahmen und Geschichtsfälschungen bereits in der Zeit vor dem kommunistischen Sieg 1949 dargelegt. In diesen Punkten trägt das Buch zu einem geschärften Verständnis der Vorgeschichte der Volksrepublik China bei.

    Die Verarbeitung der historischen Quellen fällt in Jung Changs Buch allerdings durchweg parteiisch aus. Mao werden stets die schlimmsten Motive unterstellt, obwohl sich diese Motive aus den vorliegenden Quellen nicht herauslesen lassen. Quellen und Deutungen, die diesem vorgefassten Mao-Bild widersprechen, werden systematisch ignoriert. Einige Mao-Zitate, die im Sinne der Autoren Maos totale Menschenverachtung belegen sollen, sind grob aus dem Kontext gerissen. Mao erscheint nach der Lektüre des Buches als ein geradezu übermenschliches, blutrünstiges Monster.

    Dass es sich bei Mao um einen in höchstem Maße egomanischen, menschenverachtenden und ideologisch erstaunlich prinzipienlosen Diktator handelte, steht außer Zweifel. Mao aber zu einem monströsen Killer aufzubauen, der gleichsam im Alleingang Krieg, Revolution und Terror über China brachte, ist unhaltbar. Wer sich der Person und den Herrschaftsmethoden Mao Zedongs mit einem ausgewogeneren und auch lebendigeren Blick nähern möchte, sollte zu den Erinnerungen Li Zhisuis greifen, der als Leibarzt Maos über mehrere Jahrzehnte hinweg Zeuge der Vorgänge im Zentrum der Macht wurde. (Das Buch ist in deutscher Übersetzung 1994 unter dem Titel "Ich war Maos Leibarzt" im Lübbe-Verlag erschienen.) Das Buch des Leibarztes hat in weiten Teilen einer kritischen Quellenüberprüfung durch Chinahistoriker standgehalten. Li bestätigt durch seine Schilderungen die grausamen Züge Maos. Er weist zugleich aber auf die innere Zerrissenheit, Ängste und Selbstzweifel hin, die Mao immer wieder in längeren Phasen seiner Herrschaft ergriffen. Mao geht aus Lis Erinnerungen nicht als kalter todbringender Dämon hervor, sondern als ein entrückter, von Schlafstörungen gequälter Gewaltherrscher, der sich politisch zeitlebens verwundbar fühlte, keinem Mitglied der Staats- und Parteiführung wirklich traute und zu radikalen politischen Maßnahmen neigte, ohne jemals die fatalen Folgen für Volk und Land zu bedenken.

    In seinem großartigen Werk über Hitler hat der britische Historiker Ian Kershaw die Standards für Biographien der großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts gesetzt. Kershaw warnt ausdrücklich davor, komplexe historische Entwicklungen auf die Psychologie oder das Handeln einzelner Personen zu reduzieren und den sozialen und politischen Kontext auszublenden. Die eigentliche Herausforderung für das Verständnis der Diktaturen des 20. Jahrhunderts besteht darin, herauszuarbeiten, welche Faktoren die besondere Art und Weise der Machtausübung überhaupt erst möglich machten. Um Maos Rolle in der chinesischen Revolution und in den ersten Jahrzehnten der Volksrepublik China zu verstehen, muss deshalb geklärt werden, warum eigentlich so viele Menschen und Führungsmitglieder bereit waren, dem Diktator Mao zu folgen und so große Opfer für dessen unberechenbare Herrschaft zu bringen. Die neue Mao-Biographie trägt zum Verständnis dieser Herrschaftsmechanismen nichts Neues bei, denn der Autorin geht es ausschließlich um die moralische Anprangerung des Diktators. Die Eigeninitiativen anderer chinesischer Politiker oder gesellschaftlicher Kräfte, die auch ohne Weisung Maos die Radikalisierung von Ideologie und Terror vorantrieben, werden nahezu ausgeblendet. Die ganze Geschichte Chinas wird auf die psychologischen Motive und politischen Manipulationen Maos reduziert. Der historische Kontext verschwindet so hinter einer Wand von persönlichen Anschuldigungen.

    Jung Chang zielt mit ihrem Mao-Buch vermutlich gar nicht in erster Linie auf das westliche Publikum, sondern auf die chinesische Öffentlichkeit. Zwar wird das Buch nicht in der Volksrepublik China erscheinen können. Aber auf dem Wege illegaler Kopien und über das Internet wird das Werk dennoch in China Verbreitung finden und dort – ganz im Sinne Jung Changs – den Mao-Mythos beschädigen, der in weiten Teilen der Bevölkerung fortwirkt und von der Parteipropaganda gepflegt wird. Insofern muss man dieses Buch als politisches Projekt verstehen.

    Wer aber begreifen will, wie die Diktatur Mao Zedongs möglich wurde und wie sie wirklich funktionierte, der sollte seine Finger von diesem Buch lassen.

    Sebastian Heillmann über Jung Chang und Jon Halliday "Mao, Das Leben eines Mannes – Das Schicksal eines Volkes." Ursel Schäfer, Heike Schlatterer und Werner Roller haben das Werk aus dem Englischen übersetzt. Erschienen ist es im Karl Blessing Verlag in München, 976 Seiten für 34 Euro.