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Marianne Birthlers Memoiren
Ein Stück deutscher Demokratiegeschichte

Marianne Birthlers politisches Leben begann in der DDR - überwacht von der Staatssicherheit. Als spätere Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde drehte sie einst den Spieß um. Ihre nun erschienenen Memoiren entpuppen sich als sprachlich gelungene Zeitgeschichte.

Von Winfried Dolderer | 24.02.2014
    Marianne Birthler war 29, als sie erstmals bei der Stasi aktenkundig wurde. Deren Wissbegierde kannte wie üblich keine Grenzen. Erarbeitung eines umfassenden Persönlichkeitsbildes, Aufklärung des Charakters der Verbindungen in der DDR und nach der BRD/ Westberlin (kirchlicher und weltlicher), Aufklärung der Motive der B für ihre Aktivitäten in der evangelischen Kirche.
    So lautete in schönstem Spitzeldeutsch die Zielbeschreibung einer 1977 eingeleiteten Operativen Personenkontrolle, die in den Memoiren abgedruckt ist. Im Vorjahr war es Birthler und einigen Mitstreitern gelungen, ein Konzert des verfemten Dichters und Sängers Wolf Biermann in der Stadtkirche von Prenzlau zu organisieren: Biermanns ersten öffentlichen Auftritt seit elf Jahren, gut zwei Monate vor seiner Ausbürgerung im November 1976. Birthler lebte damals als Tierarztgattin im Nordosten des heutigen Brandenburg.
    Es ist ein facettenreiches Leben, das die Autobiografin vor uns ausbreitet. Bürgerrechtlerin in der DDR. Abgeordnete in der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer, zwei Monate lang auch im Bundestag. Bildungsministerin im neu gegründeten Land Brandenburg. Bundesvorsitzende der Grünen. Zuletzt zehn Jahre lang Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde. Wie fügt sich ein solcher Lebensweg? Mit Birthlers eigenen Worten gefragt:
    Zur Freiheit gehört, dass die Regierung nicht alles verbieten darf
    "Was war im Leben meiner oppositionellen Freundinnen und Freunde anders gelaufen? Warum lebten sie nicht genauso angepasst und unauffällig wie die meisten Menschen? Den wenigsten meiner politischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter wurde das Lied des Widerstands schon an der Wiege gesungen."
    Birthler dagegen schon, wie sie in ihrem Buch darlegt. In der Warschauer Straße im Osten Berlins wurde sie 1948 geboren. Mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 lässt sie ihre Erzählung beginnen. Die früheste Kindheitserinnerung: Die gedrückte Stimmung der Erwachsenen, die Sorge des Vaters um die Mutter, die den Tag auswärts verbracht hatte und erst abends kurz vor Beginn der Sperrstunde nach Hause kam. Die Eltern standen dem politischen System der DDR konsequent fern. Zur Freiheit gehört, dass die Regierung nicht alles verbieten darf. So lautete eine der Maximen, die die nach dem frühen Tod des Vaters alleinerziehende Mutter der Tochter einprägte. Als ein Fernseher im Haus war, wurden Debatten des Bundestages im fernen Bonn zum familiären Pflichttermin: Kinder, seht euch das an, das ist Demokratie!
    Ein zweites Zuhause fand Birthler durch den Konfirmandenunterricht in der evangelischen Offenbarungsgemeinde in Berlin-Friedrichshain. Zum ersten Mal begegnete die damals 15-Jährige hier einem jungen Mann, der wegen "staatsgefährdender Hetze" in Haft gesessen hatte. Sein Vergehen: Er hatte 1961 eine Kommunalwahl boykottiert. Als sie selber vom Direktor ihrer Schule vor die Entscheidung gestellt wurde, entweder Mitglied der Jungen Gemeinde oder der FDJ zu bleiben, bestand sie darauf, der FDJ den Rücken zu kehren. In späteren Jahren bot eine Ausbildung zur Katechetin und Gemeindehelferin den Ausweg aus dem politischen Dilemma:
    "Alles sprach dafür, meine berufliche Zukunft in der Kirche zu sehen. Ich würde mich mit den Themen beschäftigen, die mich interessierten, vergleichsweise selbstbestimmt arbeiten und vor allem nicht mehr mit den täglichen Zumutungen des sozialistischen Arbeitsalltags behelligt werden."
    Im Dienst der Eliasgemeinde im Bezirk Prenzlauer Berg, später als Mitarbeiterin der Jugendseelsorge im Ost-Berlin der 80er-Jahre war sie bald Teil der überschaubaren Dissidentenszene, die im Schutzraum der Kirche für Abrüstung, Umweltschutz und Bürgerrechte stritt. "Der Druck im Kessel steigt", ist eines der Kapitel überschrieben, die diese Zeit behandeln. Das war damals sicherlich noch nicht so klar erkennbar, wie wir es heute rückblickend wissen. Birthler schildert in eindrucksvollen Episoden, wie in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre die Verhältnisse allmählich in Bewegung kamen, die neu entstandenen Oppositionsgruppen selbstbewusster, die Staatsorgane vorsichtiger wurden. Die Sorge um das Bild in den Westmedien hemmte immerhin gelegentlich den Repressionsdrang. Die "friedliche Revolution" brach nicht aus heiterem Himmel über die DDR herein. Das kann man hier noch einmal nachvollziehen.
    Als erfüllten und glücklichen Lebensabschnitt hat Birthler das Jahr empfunden, das auf den Herbst 1989 folgte.
    "Wir hatten so viel erreicht. Wir waren frei. Wir waren Akteure einer Zeit, die als eine der glücklichsten in die deutsche Geschichte eingehen würde."
    So bilanziert sie die sechs Monate, die sie für Bündnis90 in der Volkskammer verbrachte. Das vereinte Deutschland bescherte ihr ein Regierungsamt in Brandenburg. Und ein politisches Obdach bei den Grünen, wenn auch wohl keine wirkliche Heimat. Mit Wärme schreibt sie über jene West-Grünen, die schon vor 1990 der Bürgerrechtsbewegung nahestanden. Doch das waren wenige. Den Maßgeblichen war die DDR-Opposition gleichgültig, wenn nicht verdächtig. Ihr Befremden über den Politikbetrieb im damaligen Bonn schildert Birthler in einprägsamen Passagen. Das Jahr an der Parteispitze mit Ludger Volmer nach dem Zusammenschluss von Bündnis90 und Grünen hat sie entsprechend in keiner angenehmen Erinnerung.
    Umstritten war ihr Rücktritt als Bildungsministerin nach nur knapp zwei Jahren. War es zwingend, an der Vergangenheit des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe dermaßen Anstoß zu nehmen? Als Kirchenmitarbeiterin in der DDR hatte Birthler erlebt, wie beflissen der Konsistorialpräsident Stolpe regimekritischen Initiativen möglichst die Spitze abzubrechen suchte. Dass er mit der Stasi agierte, mochte sie ihm schließlich nicht mehr nachsehen.
    "Immer deutlicher ist für mich zu erkennen, dass die Demokratie, die wir gewonnen haben, durch die Art und Weise der Diskussion um die Vergangenheit des Ministerpräsidenten, dass dieser Demokratie ein schwerer Schaden zugefügt wird."
    Eine "politische Biografie" nennt die Autorin ihre Erinnerungen. Geschrieben hat sie einen auch sprachlich gelungenen spannenden Bericht. Ein Stück deutscher Demokratiegeschichte, das die Anteilnahme der Leser verdient.
    Marianne Birthler: "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Erinnerungen."
    Hanser Verlag, Berlin, 398 Seiten, 22,90 Euro
    ISBN 978-3-446-24151-0