Samstag, 20. April 2024

Archiv

Marie-Alice Schultz: "Mikadowälder"
Die kleinste Bewegung kann alles verändern

Ein Junge, der Holzkisten zimmert, um Luft darin aufzubewahren. Eine junge Frau, die ihr Leben ganz der bildenden Kunst widmet: Marie-Alice Schultz erzählt in ihrem Debüt vom Leben der Großfamilie Tsarelli. Deren Mitglieder können ihre Träume nicht so verwirklichen, wie sie es sich wünschen.

Von Isabelle Bach | 17.05.2019
Zu sehen ist Marie-Alice Schultz und das Cover ihres Romans "Mikadowälder"
Die Figuren in Marie-Alice Schultz' Debüt lehnen aneinander wie die im Titel erwähnten Stäbchen (Autorenfoto: Rasmus Tanck / Cover: Rowohlt)
Mikado ist ein Geschicklichkeitsspiel. Ein Spiel, bei dem jede Bewegung zählt, bei dem jede Entscheidung die Struktur des großen Ganzen verändert. Wie ein solches Mikado lehnen auch die einzelnen Mitglieder der Großfamilie Tsarelli in Marie-Alice Schultz' Debütroman aneinander. Immer wieder wirken Kräfte von außen auf die etablierte Struktur ein und verändern sie. Entscheidungen jedes einzelnen Familienmitgliedes können das gesamte Gefüge ins Wanken bringen. Vom elfjährigen Oskar bis zum alten Herrn Tsarelli, jeder sieht die Welt mit anderen Augen, wie die junge Künstlerin Mona im Gespräch mit ihrem Freund Johannes feststellt:
"Ich kenne deine Geschichte gar nicht. Johannes lässt die Kühlschranktür zufallen, hat nichts in den Händen, mustert Mona, die schräg an ihm vorbeischaut. Deine Geschichte. Sie muss schmunzeln. Als gäbe es nur eine, allgemeingültige. Ihr Vater würde sie sicher ganz anders beginnen als sie selbst. Und Oskar? Einzelteile, aus unterschiedlichen Ecken zusammengetragen und auf vielerlei mögliche Weisen zusammensetzbar. Selbst sie könnte sich nicht auf eine Sicht festlegen, müsste springen. Vom Tag hängt es ab, was ihr in den Sinn kommt. Am nächsten könnte sie es schon vergessen haben."
"Ich wollte arbeiten, wie das Gedächtnis funktioniert"
Immer wieder springt die Erzählung von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück. Für den Leser sind diese Sprünge teilweise schwer nachvollziehbar. Einzig durch die An- oder Abwesenheit von Monas Mutter Ruth lässt sich eine Passage zeitlich einordnen, denn sie ist in der Gegenwart nicht mehr am Leben. Marie-Alice Schultz hat sich bewusst gegen eine lineare Handlung entschieden:
"Ich wollte arbeiten, wie das Gedächtnis funktioniert. Sprunghaft und abstrakt. Durch ein Lied oder durch einen bestimmten Geruch kann ja eine Erinnerung ausgelöst werden. In diesem Text sind es vor allem die Räume, die Erinnerungen auslösen und in denen sich die Figuren zu ganz unterschiedlichen Zeiten befinden. Da kommt es dann im Text zu Überlagerungen, also dass man springt und dann eine eigentlich verstorbene Figur wieder auftaucht. Es ging mir um Gegenstände oder Räume, die von Leuten immer wieder bespielt und belebt werden, weniger als um eine lineare Handlung."
Wipfel, Regal, Kerbe oder Rutsche – die 46, teilweise sehr kurzen Kapitel des Romans sind mit Worten überschrieben, die zunächst beiläufig gewählt scheinen. Bei wiederholtem Lesen fällt jedoch auf, dass sie in Verbindung mit den Gemütszuständen der Figuren stehen. So denkt Johannes im Kapitel "Zimt" an gemeinsame Erlebnisse mit Mona und erkennt, dass seine Gefühle für sie niemals wirklich erwidert wurden.
"Mich interessiert an der Erinnerung immer auch die Materialität, die damit einhergeht. Zimt stäubt auf, das hat aber gleichzeitig auch etwas Flüchtiges, außer dass es im Geschmack vielleicht bleibt. Ich glaube, das hat mir als Bild gefallen an Zimt, dass etwas nochmal kurz aufpoppt. Das ist dann die Erinnerung an Mona in diesem Fall. Vielleicht hat es gleichzeitig auch etwas Bitteres, was dann die Frustration von Johannes wiederspiegelt."
Verdichtete Erinnerungen
Mit Hilfe von Alltagsbeschreibungen verdichtet Marie-Alice Schultz die Erinnerungen ihrer Figuren; reduziert diese teilweise auf einzelne Begrifflichkeiten, die sorgfältig ausgewählt und präzise mit dem Text verflochten werden. An anderen Stellen sind es gerade die detaillierten und nuancenreichen Beschreibungen einzelner Gedankengänge, die Aufschlüsse über die Charaktereigenschaften einer Figur geben.
"Es gab Dinge ohne schönes Ende, Dinge, die verpufften oder ausliefen, ohne dass man ein letztes Mal Gefallen daran fand, sie in guter Erinnerung behalten konnte. Dina denkt gegen die Müdigkeit an. Dinge, die gut begonnen hatten und uns dennoch enttäuscht zurücklassen. Dina erinnert sich an all die Anfänge in ihrem Leben. An die Freude, die sie als Kind verspürte, wenn ein Bettlaken frisch ausgebreitet wurde. Einfach so. Der Geruch von Waschmittel, von Neuem. Keine Falte. Sie strich mit der flachen Hand über den Stoff, der sich frisch gebügelt über die vier Ecken des Bettes spannte. Alles lag ruhig und in der Schwebe. Später erst kam der Schweiß, kam das Knittern."
Aus den unterschiedlichen Gedankengängen entsteht im Verlauf des Romans ein Mosaik aus Träumen, Wünschen und Hoffnungen der erweiterten Großfamilie Tsarelli. Genaue Beschreibungen sind Marie-Alice Schultz besonders wichtig:
"An kleinen Beobachtungen interessiert mich, was das Spezielle eines Menschen ausmacht. Durch den Alltag kann man auch wieder Rückschlüsse auf die Idee dahinter oder wie ein Mensch sich zum Leben stellt, bekommen. Mich interessiert der Alltag in seinen kleinen Abweichungen oder Besonderheiten."
Ein Platz im Netzwerk
Die Figuren beschäftigen sich viel mit sich selbst und wenig mit ihrer Umwelt. Sie lassen das Gegenüber nur selten an ihren Gedankengängen teilhaben. So bleibt das Verhältnis der Figuren untereinander auf seltsame Art distanziert. Es kommt zu keinem Austausch und keiner damit verbundenen Weiterentwicklung der Charaktere. Den Figuren scheint ausschließlich wichtig zu sein, einen Platz im Netzwerk der Familienmitglieder und Freunde zu finden und zu halten. In diesem Versuch ecken sie aber immer wieder an und können ihre Träume nicht so verwirklichen, wie sie es sich wünschen.
"Es gibt Momente, wo man sich erst mit anderen abgleichen muss und gleichzeitig aber auch den eigenen Weg verfolgen will. Ich glaube an dieser Schnittstelle zwischen den eigenen Ideen und Utopien und der Realität im Zusammengefüge mit den anderen entsteht auch das Spannende des Menschlichen."
Die Autorin Marie-Alice Schultz musste sich selbst auch mit dieser Schnittstelle auseinandersetzen – nämlich nach dem Abschluss ihres Kunststudiums in Wien.
"Das ist auch das, was wir erfahren, wenn wir von den Kunsthochschulen runtergehen, dass wir mit wahnsinnigem Idealismus da an die Sache rangegangen sind und plötzlich gibt es einen Markt und bestimmte Kriterien. Und man versucht dann doch, den eigenen Willen und die Ideen zu verfolgen. Gleichzeitig landet man dann vielleicht beim Gebrauchsobjekt oder beim Gegenstand, der eine Nützlichkeit hat."
Festgefahrene Denkstrukturen hinter sich lassen
Einzig der elfjährige Oskar schafft es, sich der Außenwelt zu öffnen und wird damit zur interessantesten Figur des Romans. Zu Beginn ist er, genau wie die Erwachsenen, in sich gekehrt und beschäftigt sich viel mit sich selbst. Er hat keine Freunde und baut in seiner Freizeit Kisten, in denen er Luft sammelt. Das ändert sich, als er den gleichaltrigen Theo kennenlernt, dem er sich öffnen kann. Von ihm lernt er, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Ab diesem Zeitpunkt ändern sich Oskars Denken und Handeln.
"Oskar hat aufgelegt, legt Erics Handy dorthin zurück, wo er es gefunden hat. Ganz oben im Wäschekorb. Einige Ideen, denkt er, sind vielleicht nur als Ideen gut. Die Realität ist wie Schmirgelpapier, sie schleift an den Träumen und Ideen herum. Und am Ende bleibt nur ein kleiner, hölzerner Klotz."
Oskar ist das einzige Familienmitglied, das es schafft, sich von festgefahrenen Denkstrukturen zu befreien. Indem er sich von seinen Kisten trennt, öffnet er sich und ist den Erwachsenen damit einen großen Schritt voraus.
Marie-Alice Schultz: "Mikadowälder"
Rowohlt Verlag, Hamburg. 320 Seiten, 22 Euro.