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Marie Gamillscheg: "Alles, was glänzt"
Die Dorfgemeinschaft am Abgrund

Der Berg ist unterhöhlt vom Erzabbau, er wird einstürzen und alle begraben. Als Martin tatsächlich verunglückt, bekommt die Gemeinschaft der Dorfbewohner Risse. Dieser vielstimmige Debütroman einer jungen Autorin macht das kollektive Gedächtnis zum Thema und greift Motive aus der Romantik auf.

Von Bettina Hesse | 24.07.2018
    Buchcover: Marie Gamillscheg: "Alles was glänzt"
    Junge Autoren schreiben wieder Heimatromane (Buchcover: Luchterhand Literaturverlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
    Einen Ort kann man auf viele Arten beschreiben, Marie Gamillscheg wählt in ihrem Debüt die Aufsicht: Dicht an einer Handvoll Hauptfiguren erzählt sie von einer Dorfgemeinschaft im Schatten des maroden Berges. In einem gewissen Sinne geht sie archäologisch vor: die Erzählung fächert das Dorfsoziotop in personale Perspektiven auf und arbeitet sich mit kurzen Passagen tiefer und tiefer ins Gedächtnis des Ortes und der Menschen vor, in die vielen Schichten von Erinnerung. Eine Freilegung – wie sie der Ort in jahrelangem Erzabbau betrieben und damit den Berg unterhöhlt hat, bis er akut einsturzgefährdet ist. Je tiefer gegraben wird, umso deutlicher tritt die Welt des Verschwindens hervor: der brüchige Berg, die sich auflösende Dorfgemeinschaft, die verblassenden Erinnerungen, selbst der Glanz einzelner Dinge wie die Parkbank im Mittagslicht.
    In diesen diffusen Auflösungsprozess platzt das reale Verschwinden: der Tod des jungen Martin, er verunglückt mit dem Auto auf den Serpentinen am Berg, zwischen den Tagebauterrassen Thekla (1163,3) und Hubertus (1186,9). Ausgerechnet er, der immer vor der sinnlosen Zerstörung durch den Erzabbau gewarnt hat. So wird sein Unfalltod zum Omen. Der abwesende Martin taucht in den Gedanken und Gesprächen der Dorfbewohner auf und wird als Sinnbild für Unheil und Fehlen von Verantwortung zur existenziellen Leerstelle.
    Ein Todesfall als Katalysator
    "Ja genau, am Anfang steht natürlich noch die Trauer über seinen Tod, aber im Laufe der Zeit ist er nunmehr Projektionsfläche für ihre eigenen Sorgen und für ihre eigenen Gedanken, ob sie gehen oder bleiben, das Verhältnis zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Mensch und Natur, also Martin wird tatsächlich zum Katalysator und somit auch für den Text natürlich", sagt Marie Gamillscheg.
    In diese Situation kommt Merih als Regionalmanager: Er soll den Ansässigen ein Umsiedlungsprogramm schmackhaft machen, aus den Siedlungen in den Ortskern zu ziehen; neue Begegnungsorte will er schaffen. Aber der Mann mit dem seltsamen Namen – er hat einen türkischen Vater – stammt aus der Stadt und wird von den Dörflern misstrauisch beäugt, doch für seine Aufgabe ist er darauf angewiesen, dass sich die Einheimischen ihm öffnen. Denn jeder geht mit dem maroden Berg und der Einsturzgefahr anders um: Susa, die Gastwirtin hält beherzt die Stellung, obwohl die Gäste ausbleiben. Sie serviert das letzte Bier vorm Untergang und stellt sich dabei die Todesarten der anderen vor: "Der Regionalmanager wird richtig dumm sterben" – Föhn ins Badewasser, von einer Drehtür zerquetscht, sowas in der Art.
    Das Chamäleon verhungert
    Vorstellungen und Visionen hat auch die junge Teresa; sie soll sich um Martins Chamäleon kümmern, denn ihre Schwester Esther, Martins Freundin, ist seit dem Unfall verstört. Teresa lässt das Tier verhungern, sie träumt von einem Leben in der Stadt und übt fleißig Klavier, um dort auf die Musikschule gehen zu können. Und der alte Bergmann Wenisch verwaltet das Museum mit einem Schaubergwerk, wo die Elektrik im Besucherstollen kaputt ist und weder Licht noch erläuternde Sprecherstimme funktionieren.
    "Manchmal schaut Wenisch auf die Uhr und sieht, dass früher gerade Sprengzeit gewesen wäre. Dann öffnet er das Fenster und sieht auf den Berg. Ein dumpfer, leiser Knall. Es könnte auch die Nachbarin sein, die die Tür zuschlägt."
    Wenisch wird zunehmend dement und lebt von seinen Erinnerungen als Bergmann, doch er ist "Teil des Ortes", wie Merih feststellen muss. Erfüllen die Figuren auch symbolische Funktionen?
    "Ich versuche die Figuren natürlich in allem ernst zu nehmen und was sie sind und wie sie dastehen und keine reine Funktionsrollen ihnen zuzudichten – das würde ihnen nicht gerecht werden – der einzige, bei dem das passiert ist Martin, aber das passiert in diesem Text, weil es für die Figuren selbst passiert."
    Eine Welt der Gegensätze
    Den wie Kurzprosa anmutenden Kapiteln ist eine Höhenangabe vorangestellt, ein Bezug zum Berg, und das macht ihn zum ähnlich sozialen Gebilde wie die Dorfgemeinschaft. So entwickelt sich aus der knappen, leicht spröden Form mit genauer Sprache ein spannender Kontrast. In der Dynamik zwischen vielstimmigen Tableau und Sagenhaftem tauchen Gegensatzpaare auf, und der Landschaft, dem Berg, den Tieren, also der Unberechenbarkeit von Natur sowie Erinnerung wird etwas Messbares gegenübergestellt: die Zahlen der Höhenmeter, die Tiefe des Stollens, die 123 Km Entfernung zur Stadt. Es geht um den Gedanken des Ausgleichs, auf den auch Teresa fixiert ist, sie kann nur in die Stadt gehen, wenn ihre Schwester im Ort bleibt. Manchmal offenbart der Text darin seinen feinen Humor:
    "Ich denke, das funktioniert vor allem von der Statik dieses Ortes aus tatsächlich, alles ist eben routiniert und rhythmisiert, aber wenn man es näher betrachtet, liegt unter allem Vibrieren ein Zittern, und ständig muss ich die Balance halten zwischen eben Soziotop und Biotop … darum ging es mir ein bisschen eigentlich, um zu zeigen, dass der ganze Ort und viele Figuren an der Kippe stehen."
    Motivische Nähe zur Romantik
    Dramaturgie und Figurenführung entwickeln einen eigenen Sog, etwas Geheimnisvolles, was die Schicksalsgemeinschaft verbindet. Erster Höhepunkt ist das jährliche Dorffest zu Ehren des Blintelmann, der nach der alten Sage die leuchtenden Bodenschätze über den Ort warf. Beim Fest kommt zu es zu einem Gerangel, die Dorfgesellschaft ist über Martins Tod in Streit und aus den Fugen geraten. Zugleich ist es die Gelegenheit, bei der sich Teresa und Merih auf wunderbare Weise begegnen: Als sie im Getümmel droht umzufallen, fängt er das junge Mädchen leicht auf und erhebt es im doppelten Sinn.
    Teresa zehrt noch lange von dieser traumartigen Begegnung, und wenn Merih am Ende des Sommers in die Stadt zurückkehrt, dann will sie mit ihm gehen. Sie führt den Regionalmanager zu einem der Bodenschäden: einem großen Spalt in der Wiese. Dieses romantische, fast märchenhafte Motiv bildet, neben den eingestreuten Anspielungen auf die Romantik ein dramaturgisches Scharnier für die Dynamik der Figurenbewegung zwischen Rückbau und Weggehen. Warum stellt die Autorin den Bezug zur Romantik her?
    "Mich hat dann sehr schnell fasziniert, wie hier mit naturwissenschaftlichen Themen und Topoi umgegangen wird, also auf einer sehr poetischen Weise … dass man das nicht getrennt betrachten muss sondern als Symbiose funktioniert. […] Genau, dieses romantische Bergbauthema impliziert immer diesen Zukunftsgedanken, diesen Aufbruch, und ich fand spannend, das gegenüberzustellen, gegenüber meinen Ort, der dem Untergang geweiht ist."
    Alles, was glänzt
    "Mancher Stein war von besonderer Beschaffenheit. In ihm schien ein weißes Licht, das sich tausendfach ins Innere spiegelte. Es erzählte von unbekannten Welten, entdeckte im Gewöhnlichen das Geheimnis, im Einzelnen den Zusammenhang, im Endlichen die Unendlichkeit."
    Das heimliche Novalis-Zitat spricht vom anziehenden Glanz der Bodenschätze, einem wesentlichen Motiv in romantischen Bergbautexten, besonders bei E.T.A. Hoffmann. – Soll die ins Metaphysische gehende romantische Ader auch eine Anspielung auf den Kapitalismus sein?
    "Klar, der Bergbau steht ja immer ein bisschen für den Beginn des Frühkapitalismus, und genau an diesem Ort, wo quasi nichts mehr funktioniert und auch wirtschaftlich nichts mehr zu erarbeiten ist, fand ich spannend, dieser Stimmung etwas entgegenzustellen, diese kapitalistische Vorstellung, die etwas sehr sehr romantisches hat – und das ist gar nicht mehr romantisch, am Ende."
    Die wieder gefundene Stimme
    Der Sommer ist zu Ende, der alte Bergmann Wenisch lebt im Pflegeheim, und das Fest, das Merih veranstaltet hat, um für die Umsiedlungspläne schön Wetter zu machen, war nur ein mäßiger Erfolg. Auch der Seismograph im Amtszimmer des überforderten Bürgermeisters versagt weiterhin seinen Dienst. Einzig die Elektrik im Besucherstollen funktioniert wieder, und Susa überkommt eine wohlige Erinnerung, als sie die Erklärungen der Sprecherstimme nach Jahren wieder hört, sie fragt sich, warum sie sich nur an die glänzenden Steine und nicht an diese Stimme erinnert hat.
    "Alles was glänzt" ist ein kleiner, aber komplexer Kosmos im empfindlichen Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur, ein Panorama, das in Auflösung begriffen ist, am Übergang, bis in die verschiedenen Erdzeitalter hinein. Und doch ist es Teil des großen Kosmos‘. Marie Gamillscheg schildert ihn im Moment seiner Auflösung, und im Hauptmotiv der Transformation wird das zu einem Akt der erzählerischen Bergung. Man darf gespannt sein, was diesem glänzenden Debüt folgt.
    Marie Gamillscheg: "Alles was glänzt". Luchterhand Literaturverlag, München. 223 Seiten, 18 Euro.