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Marie NDiaye
Ladivine

Marie NDiaye gilt als eine der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen französischen Literatur. Nun liegt auch "Ladivine" auf Deutsch vor, übertragen von Claudia Kalscheuer. Unsere Rezensentin findet: Man möchte nicht aufhören, in diesem Buch zu lesen.

Von Marie Luise Knott | 05.08.2014
    "Ich tue mich immer schwer mit der Frage, wie es angefangen hat mit dem Roman, denn ich erinnere mich selber nicht so genau. Ich glaube mit der Konstellation der Personen, die am Anfang jedoch noch recht vage war. Ich erfand mir ein Mutter eine Tochter, eine Enkelin, und dann versuchte, ich mir etwas um diese Frauen herum auszudenken, Aber ich weiß nie wirklich, die Ideen kommen nach und nach. Ich weiß nie so genau, woher sie kommen. Das baut sich dann über Monate ....
    Die französischen Autorin Marie NDiaye brauchte lange, die Geschichte von „Ladivine" in die heute vorliegende Gestalt zu bringen. Als der Roman schließlich abgeschlossen ist, beginnt er mit dem Satz:
    „Sie wurde wieder zu Malinka, kaum hatte sie den Zug bestiegen, und das war für sie weder erfreulich noch unangenehm, denn es fiel ihr schon lange nicht mehr auf."
    Überanpassung und Härte
    Schon in diesem ersten Satz hat man der Geschichte in den Abgrund geschaut, denn Malinka, die hellhäutigere Tochter der in den Fünfziger Jahren schwanger nach Frankreich immigrierten Schwarzen Ladivine Sylla hat sich von ihrer Mutter losgesagt und sich in Clarisse (die Helle) umbenannt. Durch Überanpassung und Kälte will sie sich die Zugehörigkeit zur französischen Gesellschaft erfinden, die ihrer eingewanderten Mutter verwehrt geblieben war.
    Mit 20 heiratet Clarisse einen Autohändler mit dem französischen Durchschnittsnamen Richard Rivière. Zwei reduzierte Persönlichkeiten, könnte man sagen, die sich gemeinsam die Fassade eines französischen Ehelebens zimmern. Als sie eine Tochter bekommen, scheint das erträumte Familienglück perfekt. Doch als verschwiegene Reminiszenz an die gewaltsam verleugnete Liebe zur Mutter nennt Clarisse die Tochter ihrerseits Ladivine.
    Mutter Ladivine, eine Raumpflegerin, verfügte, so erzählt es der Roman, über keinerlei Möglichkeiten, der geliebten Tochter den Weg in die Ankunftsgesellschaft zu ebnen. Dafür verachtet Malinka-Clarisse ihre Mutter, auch weil diese nie aufbegehrt hat - weder gegen den Verrat des leiblichen Vaters, der die Mutter sitzen ließ, noch gegen die Diskriminierung durch die Gesellschaft, noch später dagegen, dass ihre Tochter, die Prinzessin ihres Herzens, sich von ihr lossagt.
    Ein Buch über die Verheerungen des Schweigens
    Jahrzehntelang verwandelt sich Clarisse einmal im Monat heimlich in Malinka zurück und besucht ihre Mutter, ohne dass ihre eigene Familie etwas von ihrer Herkunft ahnt und ohne die Mutter an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Wie ein Damoklesschwert schwebt somit über jeder Zeile des Romans die Frage, ob man die eigene Mutter und die eigene Geschichte tatsächlich ungestraft verleugnen kann? „Bis ins dritte und vierte Glied" strafe Gott, heißt es in der Bibel – und ohne zu viel zu verraten, kann gesagt werden, dass „Ladivine" vor allem ein Buch ist über die Verheerungen des Schweigens. Schweigen, Schuld und Scham werden wider Willen von Generation zu Generation weitergereicht. Ein deutsches Thema, sollte man meinen. Ob die Autorin das Thema gefunden hat, weil sie mitterlweile in Deutschland lebt?
    Das ist sehr interessant, denn daran habe ich nie gedacht. Ich habe immer mehr an das normale Schweigen in der Familie gedacht. Ich bin in Frankreich aufgewachsen, habe dort meine Jugend verbracht und habe dort das Schweigen in den Familien erlebt, über peinliche Dinge, wenn jemand sich umgebracht hatte, oder über Demenz, wenn die Menschen verrückt wurden, und man so tat, als sei nichts. Aber natürlich, dieses andere Schweigen gibt es auch.
    Eigentlich floh Marie NDiaye aus Sarkozy-Frankreich nach Deutschland mit der Vorstellung, demnächst perfekt zweisprachig zu sein, aber das hat bis heute nicht geklappt. Mittlerweile ist sie auch ein wenig froh darüber, dass sie nur wenig von dem versteht, was um sie herum gesprochen wird. Sie vergleicht ihre Lage mit der eines kleinen Kindes, das, da es kaum etwas versteht, den sinnlichen Eindrücken umso mehr Aufmerksamkeit schenken kann.
    Roman einer Beobachtungskünstlerin
    In ihrem Roman wendet die Beobachtungskünstlerin all ihre Aufmerksamkeit ihren Protagonisten zu und lässt dabei größte Zärtlichkeit
    walten, indem sie Zerstörung, Trauer und Scham in jedem Blick und in jeder Gebärde miteinander ringen lässt. Alle ihre Figuren ahnen die Abgründe, die sich zwischen ihnen aufgetan haben. Und in ihren Sätze baut die Autorin die Verrenkungen ihrer Figuren nach, als tanze sie mit ihnen ums goldene Kalb des Schweigens und Verleugnens. Es ist das Verdienst der Übersetzerin, Claudia Kalscheuer, dass wir den Personen in all diesen Bewegungen und Beweggründen genau folgen können.
    Alle Personen im Roman tun so, als seien sie zu Hause in diesem Fassadenleben - als könne man dort zu Hause sein. Bis Richard, der Ehemann, ausbricht, Clarisse verlässt - und damit das Unheil einen neuen Lauf nimmt. Auch die in Berlin lebende Tochter, Ladivine, ahnt nichts von ihrer afrikanischen Großmutter gleichen Namens, wenn sie mit ihren Kindern auf der Wilmersdorfer Straße einkaufen geht, bis sich eines Tages, bei einer Ferienreise in ein afrikanisches Land, die Geschehnisse auf magische Weise dramatisieren.
    Begriffe wie „Familienroman" oder „Migrationsgeschichte" erfassen offensichtlich nicht, was NDiaye in dem Roman kann und tut. Wundersam nahe schreibt sie sich an ihre Figuren und deren Lebensgefühl heran, sodass wir den Einzelnen tief in die zerrütteten Seelen schauen. Dafür erfindet sie ihren Personen eine Kindheit.
    "Ich glaube, ich würde niemals eine Personen gut verstehen und beschreiben, wenn ich nicht wüsste, wie sie als Kind gewesen ist, in welchem Milieu sie gelebt hat. Wenn ich mir die Kindheit meiner Personen erfinde, weiß ich nicht immer, ob ich sie verwende, aber selbst wenn ich sie nicht verwende, ist sie mir nützlich, denn dadurch kann ich mir selber die Personen konkreter vorstellen, und dann, wenn sie mir im Kopf auf diese Weise Fleisch und Blut geworden sind, kann ich sie dort, wo ich sie in meinen Roman einführe, äußerst lebendig gestalten . Körper, Haare, dick oder dünn. Wenn ich ihnen Kindheit und Jugend erfinde, kann ich sie genauer beschreiben, so kann ich sie mir selbst näher heranholen und so werden sie auch für den Leser realer, glaube ich. Denn für den Leser, denke ich, ist es ja auch eine Anstrengung, in den Roman hineinzugeraten, und diese Anstrengung ist leichter, je wirklicher die Personen dem Leser erscheinen."
    Eine der bedeutendsten zeitgenössischen Autorinnen Frankreichs
    Marie NDiaye also erfindet ihren Personen eine Geschichte, weil sie verstanden hat, was den Menschen fehlt, wenn sie ihre Geschichte nicht kennen. Gerade wegen der Freiheit, die sie allen Personen verleiht, gilt NDiaye heute als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Frankreichs. Von der Schulbank weg, im Alter von 18 Jahren, veröffentlichte sie in dem renommierten Verlag Editions de Minuit ihren ersten Roman über eine Adoleszenzkrise: "Quant au riche avenir" - übersetzt vielleicht: "Apropos Zukunft". Inzwischen hat sie zahllose vielgepriesene Romane sowie ein Theaterstück und ein Filmscript vorgelegt. Für ihren letzten Roman „Drei starke Frauen" erhielt sie 2009 den französischen Prix Goncourt und gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Claudia Kalscheuer 2010 den Berliner Internationalen Literaturpreis.
    Ein sich wiederholendes und variierendes Kennzeichen ihrer Literatur ist das selbstverständliche Vorhandensein einer magischen Dimension, von der bei NDiaye immer etwas Unheimliches ausgeht. In „Ladivine" sind es die Hunde.
    NDiayes Sprache dreht und wendet mehr Zwischenmenschliches, als wir uns vor der Lektüre haben vorstellen können, und so ist es ihr großartiges Verdienst, dass der Leser allen Figuren ins Herz schaut. In ihre Mördergruben, in denen so viel Sehnsucht nach Güte herrscht. NDiaye läßt ihren Personen alle Würde. Sie werden beschrieben als das, was auch wir sind: zerrissen, zwischen Wünschen und Ängsten, Lieben und Zweifeln, Hoffen und Scheitern. Keine menschliche Regung ist der Autorin fremd, weshalb man nicht aufhören möchte zu lesen.
    Marie NDiaye: Ladivine, aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer,
    Suhrkamp Verlag, 444 Seiten, 22,95 €