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Marilina Giaquinta: "Malanotte"
Die düsteren Nächte der dichtenden Polizistin

Marilina Giaquinta ist stadtbekannt in Catania. Die dichtende Polizistin hat es tagsüber genau mit den Randfiguren der sizilianischen Gesellschaft zu tun, über die sie nachts schreibt: Obdachlose, illegale Arbeiter und Geflüchtete. Ihr neuer Erzählband "Malanotte" kann schlaflose Nächte machen.

Von Katja Lückert | 30.07.2019
Marilina Giaquinta: "Malanotte" Zu sehen ist das Buchcover und die Autorin
Die "dichtende Polizistin" Marilina Giaquinta (Cover: Launenweber Verlag / Foto: privat)
Dieses Buch macht wund und manchmal sogar wütend. Jedenfalls fällt es schwer, die 23 kurzen Geschichten an einem Tag, geschweige denn in einer Nacht zu lesen. Wer es tut, wird sicher ein paar schwere Stunden verbringen, meint die Autorin Marilina Giaquinta:
"Der Titel ,Malanotte' ist eigentlich eine Abwandlung des sizilianischen Wortes ,Malanuttata'. Wenn man nachts nicht schläft, weil man etwas Schweres gegessen, aber auch, weil man etwas Aufwühlendes erlebt hat, dann verbringt man eine schlechte Nacht. Ich habe versucht, dieses Wort ins Italienische zu übertragen, um ein Indiz dafür zu liefern, worum es mir in diesem Buch geht."
Gestalten der Nacht
Marilina Giaquinta arbeitet seit dreißig Jahren bei der Polizei von Catania. Sie kennt die Gestalten der Nacht, ihre Ängste, ihre Verzweiflung, nicht nur die der Flüchtlinge, die immer wieder im Hafen von Catania ankommen, sondern auch die der Bettler, der Straßenkehrer, der Prostituierten und der Kriminellen.
"Als Polizistin würde ich sagen: Mit der Dunkelheit kommt das Verbrechen. Man wird nicht gesehen, kann Dinge tun, die tagsüber nicht möglich sind. Andererseits ist für mich die Nacht auch eine Freundin, weil ich nachts schreibe. Meine tägliche Arbeit bedeutet nicht nur eine physische Anstrengung. Natürlich sind es lange Tage, morgens geht es los, wenn es heißt: Es kommt ein Schiff mit Flüchtlingen. Da kann es schon mal Mitternacht oder sogar später werden mit den ganzen Prozeduren, Identifizierungen, die dann nötig sind. Manchmal geht eine Schicht auch bis zum nächsten Morgen. Aber stärker ist dabei die emotionale Anstrengung, und die musste ich mir von der Seele schreiben, wenn ich von der Arbeit kam."
Die Autorin Marilina Giaquinta ist eine Entdeckung des vor vier Jahren gegründeten Kölner Launenweber Verlags. Das Konzept der Buchreihe "Italica" bestand ursprünglich darin, Texte von in Deutschland lebenden italienischen Autoren, die zuvor noch nicht in Italien erschienen sind, zu veröffentlichen, erklärt Salvatore Tufano:
"Und zwar haben wir angefangen mit unserem Bestseller ,Lebst Du bei den Bösen' von Roberto Giardina. Dann fing an, dass wir gedacht haben: So kann es nicht weitergehen, weil so viele Italiener, die in Deutschland wohnen und extra Texte für uns schreiben, werden es wohl nicht sein. Und dann hieß es: ab nach Italien! Aus dieser Perspektive war es zum ersten Mal möglich, Autoren zu kontaktieren mit modernen Mitteln, eines davon sind die SocialMedia mit Facebook oder Literaturblog. Und dann habe ich Marilina Giaquinta buchstäblich entdeckt auf Facebook. Ich muß ehrlicherweise sagen: Am Anfang habe ich gedacht, das ist ein Fake."
Dialekteinsprengsel und Wortneuschöpfungen
Marilina Giaquinta ist kein Fake, sie ist mehr als echt. Ihre Sprache ist voller Dialekteinsprengsel und Wortneuschöpfungen, eine große Herausforderung für die Übersetzerin Barbara Pumhösel, die ganz eigene, sehr poetische Entsprechungen gefunden hat. Viele Erzählungen sind in der Ich-Perspektive gehalten. Oft weiß man zunächst nicht, wer spricht, weil nur akustische und taktile Empfindungen beschrieben werden.
"Ich halte sie geschlossen, die Finger gegen die Handinnenseiten gepresst, damit ich meine Fingernägel spüre, wie sie in die Haut schneiden. Nein, ich mache keine Faust. Die Faust schlägt zu, ist gewalttägig, will weh tun, verletzen, kämpfen. Und siegen. Nein, keine Fäuste. Meine Hände sind in meine Taschen gesperrt und schlafen. Draußen ist es eiskalt. Es ist besser, sie samt den Knochen in Warmen zu halten, das Blut dankbar pochen hören, vermeiden dass sie sich bewegen, dass sie herauskommen, dass sie mir entkommen. Andererseits, ich wüsste nicht, was tun mit ihnen außerhalb der Taschen."
Die erste Geschichte mit dem Titel "Diese Nacht will nicht vergehen" ist ein gutes Beispiel für Giaquintas Technik: Sie beschreibt einen jungen Mann, der handwerkliches Talent hat. Er kann auch Puppen reparieren. Auf einmal wird aber deutlich, dass er es offenbar gerade mit einem Mädchen zu tun hat, das ihn zwar puppenhaft anschaut, das er aber missbraucht. Ohne uns noch wappnen zu können, werden wir zu Zeugen eines Gewaltverbrechens. Einen ähnlich jähen Umschwung erlebt der Leser auch in der Geschichte um eine Abfallsammlerin, die hofft, in einem Container voller weggeworfener Lebensmittel einen Braten gefunden zu haben.
"Heute Abend esse ich wirklich. Ich lade die anderen aus der Grube ein in meine Baracke zum Abendessen. Ich bin sicher, es reicht für alle. Es scheint ein zartes Ferkel zu sein mit viel Fleisch. Endlich, ich habe es geschafft, ich habe es, ziehe es heraus, es stinkt nicht, zum Glück, es ist noch gut. Heute Abend wird es ein Fest geben in der Grube, das Feuer wird die ganze Nacht brennen. Ich öffne die Tüte. Der Knoten ist eng, ich habe kalte Finger, muss mich anstrengen. Ich mache auf. Es hat die blutige und wie mit Käselab verschmierte Nabelschnur noch um den Bauch gewickelt."
Erzählungen wie flackernde Spotlights
Man hat fast keine Chance, die Figuren näher kennen zu lernen in diesen oft nur auf zwei oder drei Seiten konzentrieren Miniaturen des dünnen Erzählungsbands. Giaquintas flackernde Spotlights auf die Gestalten im Dunkeln lassen den Leser die näheren Umständen dieser nächtlichen Begebenheiten oft nur erahnen.
"Das sind sehr harte und teilweise brutale Geschichten. Ich wollte bei meinem Leser Unwohlsein erzeugen, wollte ihn verstören, ihn schütteln. Denn tatsächlich sind die Figuren in meinem Buch genau die Menschen, an denen wir täglich auf unseren Straßen achtlos vorbeigehen. Sie sind quasi unsichtbar geworden, wir haben uns an ihren Anblick gewöhnt. Mit diesem Buch wollte ich sagen: Nur, weil wir uns an den Horror gewöhnt haben, verschwindet dieser nicht. Wir leben in einer Zeit, in der Gewalt und Grausamkeit an der Tagesordnung sind. Dies hat uns inhumaner gemacht."
Manchmal zeigt sich die Autorin von einer ganz anderen Seite, wenn sie nämlich eine junge Frau auf einer Zugfahrt fast schon komparatistische Überlegungen anstellen lässt: Die Gleise nicht zu überqueren, wird man im Englischen mit "Do not cross" aufgefordert, im Italienischen ist es verboten: "È vietato oltrepassare".
"Das erste Land war ein strenger Vater, das kannst Du nicht tun, es ist verboten, es lässt dir keine Möglichkeit, darüber nachzudenken, es erlaubt keine Alternative, das Verbot zieht kein ihm entgegengesetztes Verhalten, keinen Widerspruch, keine Umgehung in Betracht, es will erschrecken, impliziert Gedanken an Bestrafung, das andere akzeptiert das Risiko, du bist frei, ich rate dir nicht zu überqueren und wenn du schlau bist, befolgst du meinen Rat. (…) ,Do not', tu es nicht, nicht überqueren."
Aufklären und Wachrütteln
Marilina Giaquinta ist eine Sprachkünstlerin, analysierend, manchmal sprachlich experimentierend mit Wortschöpfungen, die aus verschiedenen Dialektausdrücken hergeleitet sind. Und sie hat eine klare Mission: Aufklären und wachrütteln. Wach bleibt der Leser nach der Lektüre sicher noch eine ganze Weile, um sich aufgeklärt zu fühlen, fehlen ihm ein paar Hintergrundinformationen. Die Polizistin unterliegt natürlich der Schweigepflicht, von der Schriftstellerin Marilina Giaquinta hätte man gern etwas mehr Ausführlichkeit.
Marilina Giaquinta: "Malanotte. Stimmen in der Nacht"
Aus dem Italienischen von Barbara Pumhösel.
Launenweber Verlag, Köln. 168 Seiten, 20 Euro.