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Marina Weisband
Kommentiert keine Artikel, die ihr nicht gelesen habt!

Interviews - wie das mit Kevin Kühnert - werden in Sozialen Medien häufig diskutiert, ohne dass Menschen sie überhaupt gelesen haben, hat Marina Weisband beobachtet. In ihrer Kolumne warnt sie davor, sich nur auf Grundlage von Überschriften und Teasern eine Meinung zu bilden.

Von Marina Weisband | 08.05.2019
Eine Frau hält am ein Smartphone in der Hand, mit dem sie das Internet-Portal der Süddeutschen Zeitung aufgerufen hat.
Immer mehr Zeitungen setzen im Internet auf Paywalls. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
Kevin Kühnert hat gefordert, BMW zu kollektivieren. Und demokratischen Sozialismus. Sowas meldete meine Timeline auf Twitter vor einigen Tagen. Was er ursprünglich gesagt hat, weiß ich nicht, das dazugehörige "Zeit"-Interview habe ich selbst nicht gelesen. Aber es wurde sehr stark kritisiert. Und verteidigt. Von Leuten, die es wahrscheinlich größtenteils auch nicht gelesen haben. Der Grund: um dieses besagte Interview zu lesen, bräuchte man ein Digital-Abo der "Zeit". Die Aufregung drehte sich also zunächst um Überschriften, Teaser und Zitate.
Überschriften und Teaser sind ja sowieso gefährlich. Sie sind selten von den Autoren der Artikel selbst verfasst, die sich wenigstens mit der Materie beschäftigt haben. Sie sollen vor allem Aufmerksamkeit erregen, locken, steile Thesen formulieren, die im Artikel meist abgeschwächt werden. Auf Social Media verbreitet sind sie oft das Einzige, was wahrgenommen wird. Die Diskussion wird dadurch polarisierter, unsachlicher.
Paywalls verschärfen Probleme
Paywalls, also Bezahlschranken, die vor dem Lesen eines Artikels stehen, verschärfen dieses Problem nun drastisch. Sie nehmen dem Text an sich noch mehr Macht und übertragen diese Macht dann auf Überschrift und Teaser. Diese bestimmen, was die Debatte ist. Sie verschieben die Grenze des Sagbaren. Sie reduzieren die Sachlichkeit des Diskurses.
Es ist nicht der erste Artikel, der in meiner Timeline heftig diskutiert wurde, wobei die meisten Diskutierenden nicht dafür bezahlt haben. Die wesentlichen Inhalte werden sehr schnell hinausgetragen. Doch um an der Diskussion teilzuhaben, fehlen mir wichtige Aspekte: welche Fragen haben eine Person dazu provoziert, das zu sagen, was sie gesagt hat? Hat sie ein Thema von sich aus zentral gesetzt oder war es ein Vorschlag aus der Redaktion? Welche Formulierungen wurden benutzt? Wenn der Autor eines Artikels angegriffen wird, verteidigt er sich gern mit: "Habt ihr den Artikel überhaupt gelesen?"
Porträtfoto von Marina Weisband
@mediasres-Kolumnistin Marina Weisband (Lars Borges)
Diese Frage ist müßig, wenn ich, um den Artikel zu lesen, ein ganzes Abo bei einer Zeitung abschließen muss. Ich möchte mich aber online nicht an eine einzige Plattform binden. Ich möchte einzelne Artikel aus verschiedenen Zeitungen lesen. Alles andere entspricht nicht mehr meinen Lesegewohnheiten. Mir bleibt also, meine Meinung nicht zu äußern und den klügsten aller Sätze zu sagen: "Ich weiß nicht genug über das Thema, um mir dazu eine Meinung zu bilden."
Praktischere Bezahlmodelle entwickeln
Sind solche Paywalls wenigstens die Zukunft der Finanzierung des Journalismus? Ich denke, langfristig nicht. Sowohl Onlineunternehmen als auch Amateure reißen sich heute um die Gelegenheit, Informationsvorauswahl – und damit Deutungshoheit – zu präsentieren. Für Information – oder auch das Kuratieren von Information – lässt sich auf Dauer also nur schwer Geld verlangen. Zumal man noch immer kaum einfach bezahlen kann und sich meistens auch noch pro Plattform registrieren muss, ehe man einen Artikel lesen kann.
Der reine Journalismus an sich war noch nie gut finanzierbar und wurde immer querfinanziert, durch Anzeigen, Wetter, Börsenberichte und andere Nebenprodukte. Ein nachhaltiges Finanzierungsmodell zu entwickeln, ist vielleicht die große Aufgabe unserer Zeit. Vielleicht, wenn man für einzelne Artikel mit einem einzigen Klick sehr kleine Geldbeträge überweisen könnte. Doch das bürdet allen, die Überschriften und Teaser schreiben, sehr viel Verantwortung auf. Es wird dem Diskurs nicht guttun.
Ich kann an dieser Stelle keine fertige Lösung präsentieren. Ich kann aber darauf hinweisen, wie sehr Paywalls dazu beitragen, dass Menschen auf sozialen Medien sich wie Blinde über Farbe streiten. Ich kann an Redaktionen appellieren, für die Nutzer praktischere Bezahlmodelle zu entwickeln und bei Teasern und Überschriften beim Spagat zwischen Gewinnorientierung und Verantwortungsbewusstsein noch vorsichtiger zu sein. Und ich kann an Leser appellieren, sich zu trauen, zu Informationsschnippseln einfach mal keine Meinung zu haben. Kommentiert keine Artikel, die ihr nicht gelesen habt. Verbreitet keine Artikel, die ihr nicht gelesen habt. Misstraut Überschriften.