Freitag, 19. April 2024

Archiv

Marion Messina: "Fehlstart"
Liebe im Mindestlohn-Sektor

Für Träume bleibt im turbulenten Debütroman "Fehlstart" kein Raum. Marion Messina beschreibt das Erwachsenwerden aus der Sicht einer Arbeitertochter. Erst entdeckt sie an der Uni mit einem kolumbianischen Studenten die horizontalen Freuden. Doch die Ernüchterung folgt kurz darauf.

Von Christoph Vormweg | 12.02.2020
Sieben Wischmopps lehnen an einer roten Wand.
Marion Messinas Protagonistin bessert ihr Stipendium mit einem morgendlichen Putzjob auf (Unsplash / Pan Xiaozhen)
Wenn die Verlagswerbung Vergleiche mit dem in die Jahre gekommenen Skandalautor Michel Houellebecq bemüht, darf man sich normalerweise auf Fundamental-Frust und drastische Sex-Szenen einstellen. Doch Marion Messina verfügt zum Glück über eine viel stärkere ironische Ader als Houellebecq. Liebesakte beschreibt sie nicht bis ins obszöne Detail. Viel lieber belustigt sie sich über männliche Erwartungshaltungen, die von der Porno-Industrie diktiert sind. Ihre Protagonistin Aurélie stammt aus einem Arbeiterhaushalt in Grenoble und bändelt nach dem Abitur an der Uni mit dem Kolumbianer Alejandro an. Auch bei ihm liefert das Internet die Masturbationsvorlagen. Doch in der horizontalen Praxis entpuppt er sich als weit sensibler als Aurélies italienischer Ex.
"Ihre Beziehung war sanft und zärtlich, weder ein One-Night-Stand noch eine Sex-Freundschaft, wie sie gerade in Mode war. Sie respektierte seine Neurose gegen die Paarbeziehung nicht ohne Stolz: Sie konnte ihn akzeptieren, wie er war; sie war keine vereinnahmende, eifersüchtige und neurotische Frau wie Diana, seine kolumbianische Ex, gegen die sie eine maßlose Abneigung hegte."
Liebe als Refugium
Und doch "verliert" sich Aurélie in dieser Liebe - auch deshalb, weil sich das Jura-Studium an der heimischen Universität, auf das sie sich als Aufsteigerin so gefreut hat, als einfach nur dröge entpuppt. Mit wunderbar kernigen Sätzen sexualisiert Marion Messina den Uni-Frust:
"Nach den zwei Stunden dieser ersten Vorlesung hatte sich Aurélie wie ein frisch defloriertes Mädchen gefühlt, sie konnte es nicht fassen, dass etwas so lange Erträumtes so fade, unnütz und endlos sein konnte."
Alejandro bedeutet für Aurélie nicht nur das Ende der Einsamkeit, sondern auch das kulturell Andere, das bisher Unbekannte. Sie lernt ihn während eines universitären Putzjobs kennen, mit dem sie ihr 300-Euro-Stipendium aufbessert. Zur humorvollen Schonungslosigkeit, mit der Marion Messina den erotischen Alltag des französisch-kolumbianischen Paars beschreibt, kommt ihr soziologischer Scharfblick. Ihre lakonisch-drastischen Porträts in allen Lebenslagen haben es in sich: so auch, als sie ihre Vorgesetzte beim Uni-Job auf die Schippe nimmt.
"Immer wieder verfiel sie in ihre normale Stimme, irgendwo zwischen Marktweib und nordafrikanischer Arletty, wenn sie die Angestellten daran erinnerte, was für ein Privileg es war, zum Start in einen jeden Tag die Schamhaare in den Waschbecken der Studentenzimmer einzusammeln. Sie platzte fast vor Stolz und Wichtigkeit in dieser Rolle, die ihr zum ersten Mal im Leben Verantwortung übertrug. Sie hatte eine maßlose Leidenschaft für Predigten über Arbeitsmoral, Initiative und Engagement bei der Arbeit, als ermesse sich die Größe eines Individuums an seiner Fähigkeit, jede mit sieben Euro siebzig pro Stunde entlohnte Aufgabe ernst zu nehmen."
Ernüchterung auf allen Ebenen
"Fehlstart" heißt Marion Messinas turbulent schräger Entwicklungsroman. Nach der großen Ernüchterung im Universitätsalltag folgt die in der Liebe. Die 18-jährige Aurélie muss Alejandro nach Lyon ziehen lassen. Denn er fordert dann doch seine ganze Freiheit ein, um ein großer Schriftsteller werden zu können – oder wenigstens ein erfolgreicher Lover. Mit Süßigkeiten-Missbrauch versucht die Verlassene wieder in die Spur zu kommen, bis sie den ganzen Trotz der Provinzlerin aktiviert und die Heimat verlässt. Wie eine Heldin aus einem Balzac-Roman will sie Paris erobern, die Metropole. Der detailreich beschriebene Realitätsschock ist allerdings gewaltig. Sie heuert als ambulante Empfangshostess im Mindestlohnsektor an. Ihre Nächte verbringt sie in einer Jugendherberge und steht um sechs Uhr morgens geschminkt und geschniegelt auf Abruf bereit. Szenen aus dem morgendlichen Nahverkehr wechseln ab mit den Lebensgeschichten ihrer Kurzzeit-Kolleginnen: so einer Tamilin, für die das alltägliche Hamsterrad immer noch leichter zu ertragen ist als eine demütigende Rückkehr nach Madagaskar. Paris erscheint als seelenlose Monsterstadt. Die Werte, die Aurélies Eltern vorgelebt haben, sind seit langem außer Betrieb:
"Es gab keine alten Jungfern oder Junggesellen mehr, weil das Familienleben keine obligatorische Lebensphase mehr war, sondern eine freie Wahl, wie die der Frühstücksflocken, des Haustiers, des Sofas, des Kühlschranks und bald der Haarfarbe eines im Labor gezeugten und personalisierten, in den Uterus der echten oder einer Leihmutter verpflanzten Babys. Es gab nur Bürger, die frei waren, sich zu amüsieren und ihre Einsamkeit zu wählen, die sich für Herren über ihr Leben hielten, das in Wirklichkeit vom Fahrplan des Vorortzugs diktiert wurde."
Da spürt man ihn dann doch: Houellebecqs mitleidlosen Blick, mit dem er in seinem Debüt-Roman "Ausweitung der Kampfzone" die Misere im Ingenieurs-Alltag beschrieb. Für Marion Messinas Protagonistin gibt es nach einem halben Jahr immerhin wieder einen festen Partner: den doppelt so alten, gutsituierten Franck. Nach einer Probezeit lädt er sie ein, bei ihm zu wohnen. Eine Hand wäscht die andere. Franck ist nicht länger einsam, Aurélie hat endlich wieder ein Dach über dem Kopf. Doch weil sie sich nichts vormacht - ihn als respektvollen Bettgefährten zwar schätzt, aber nicht liebt - fühlt sie sich in der teuren Wohnung bald wie eine Prostituierte.
Alejandro for ever?
Wenn sich Aurélie und Alejandro schließlich in Paris zufällig über den Weg laufen, dann natürlich auch, um mit der leidigen Leser-Erwartung auf ein Happy End zu spielen. War der "Fehlstart" vielleicht doch keiner? Auch die beiden Versöhnten hoffen darauf. Doch gibt es, wie schon in Grenoble, bald wieder Streit:
"Es nervte ihn, dass er immer nur Landsleute traf, er fürchtete, immer ein Außenseiter unter den Franzosen zu bleiben, die ihn immer nur ,der Kolumbianer' nennen würden, ohne seine Herkunft je zu vergessen. Aurélie versuchte ihm immer wieder klarzumachen, was für ein Glück er hatte, dass er auf seine Landsleute zählen konnte; sie hatte in Paris unter zwölf Millionen Landsleuten nur einen einzigen Freund gefunden. Ihre Assimilationsversuche in der Pariser Gesellschaft waren jämmerlich gescheitert."
In der Provinz gescheitert, in Paris gescheitert: Was gibt es da für eine junge Zwanzigjährige wie Aurélie noch für Alternativen? Das Finale sei hier natürlich nicht verraten. In jedem Fall: Die Wucht des Romans "Fehlstart" liegt in dem Verlangen der jungen Heldin, die französische Gegenwart zu verstehen. In der Perspektive der Aufsteigerin von ganz unten, aus dem kleinbürgerlichen, provinziellen Arbeiter-Milieu, liegt die Stärke des Buchs. Marion Messina besticht durch überraschende Beobachtungen und ungewohnte Biografien – bis hin zu ihren liebevoll gnadenlosen Eltern-Porträts. Hier schreibt eine Autorin, die auf die immer ungemütlicheren französischen Alltags-Realitäten mit tabulosem Witz und verbaler Schlagkraft reagiert.
Marion Messina: "Fehlstart"
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Carl Hanser Verlag, München. 166 Seiten, 18 Euro.