Dienstag, 23. April 2024

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Marius Hulpe: "Wilde grüne Stadt"
Willkommen im Münsterland

Ein aufmüpfiger junger Iraner aus noblem Elternhaus wird nach Deutschland geschickt. Er soll spionieren, ausgerechnet in Soest. Dort verliebt er sich in die verheiratete Kürschnerstochter Clara, hat mit ihr sogar ein außereheliches Kind. Davon erzählt Marius Hulpe in seinem Roman "Wilde grüne Stadt".

Von Jürgen Deppe | 18.09.2019
Portrait des Schriftstellers Marius Hulpe
Als Lyriker wurde er bekannt. Jetzt hat Marius Hulpe, der nach Stationen in Leipzig, Krakau und Berlin mittlerweile wieder in seiner Geburtsstadt Soest lebt, seinen ersten Roman vorgelegt. (© Ekko von Schwichow)
Soest ist nicht gerade ein Hotspot auf der literarischen Landkarte. Nichtmal an Palmsonntag. Dabei ist der in Soest ein Höhepunkt im an Höhepunkten ansonsten nicht eben reichen Jahreskalender:
"Grüner Sandstein. Sieben Kirchen. Rosenstöcke. Gräfte, Wall. Palmsonntag, weiße Kleider, Kommunion. Heißluftballons. Steigen in der Ferne auf, und mit ihnen die Embleme der regionalen Gebräue. Wimpel baumeln zwischen Häuserwänden, flappen hier und da unter den milden Frühlingsböen, und durch die von Rüschen gesäumten Tischreihen der Lokale jagen manisch Kleinkindtruppen, auf und ab."
Nicht nur an Kommunionssonntagen wie diesem gilt im erzkatholischen Soest: Jeder für jeden – und Gott für uns alle. Zumindest für fast (!) alle. Aber dazu später mehr.
Fremde Heimat Münsterland
Man tratscht mit- und übereinander, man kennt sich und man grüßt sich, man "schlört" gemütlich über den Wochenmarkt, wie es in breitestem Münsterländisch und so auch in diesem Roman heißt. Hier, wo Händler noch "herumplörren":
"Wörter wie Pumpernickel, Bullenauge oder Pfefferpotthast sind mit Kreide auf dunkelgrünen Schiefer geschrieben. Auf kleineren Schildern finden sich Möpkenbrot, Töttchen und Wurstebrei."
Hulpes Soest
So ist die Welt – 400 Seiten und mehr als ein halbes Jahrhundert lang – wenn Marius Hulpe (der von einem biografischen Kern in diesem Roman spricht) einer Soester Familie folgt, einer alteingesessenen Kürschnersfamilie. Vater Willi hat die nach dem zweiten Weltkrieg danieder liegende Pelz- und Lederschneiderei gemeinsam mit seiner Frau Berta mühsam wieder aufgebaut und profitabel gemacht. In den 1960ern und 70ern geht es jetzt darum, die nächste Generation langsam an die Nachfolge heranzuführen. Allerdings ist die Nächste weiblich, die Tochter Clara, und in den spießigen 60ern war das – zumal in der Provinz – noch ein echtes Problem. Nicht so bei Marius Hulpe. Da spielt das – so wirtschaftswunderlich das ist! – so gut wie keine Rolle. Hulpe geht es in seinem laut Untertitel "labyrinthischen" Familienroman um etwas anderes.
Als Wirtschaftsspion des Schahs von Persien
Und dafür wechselt er auch schon mal radikal die Zeit und den Schauplatz, springt ins Jahr 1959 und in den Iran vor der islamischen Revolution, das Persien unter Schah Reza Pahlavi.
Denn da hebt parallel zum Geschehen in Soest ein Falke ab, der wie der Schah auch "Reza" heißt, Sohn einer vermögenden Familie der oberen Zehntausend ist und beim Militärdienst mit seiner renitenten Arroganz auf Granit beißt:
"Was haben sie denn hier für ein selbstgefälliges Sohnchen aufgetrieben? Wohl aus feinem Hause und offenkundig nicht bereit, sich den Anforderungen des Militärdienstes gebührend zu stellen. Dem wird er schon zeigen, wo der Thymian wächst.
Ohne jede sichtbare emotionale Regung, die Augen klar, schreitet er in aller Ausführlichkeit und voller Ankündigung auf den Soldaten zu, mustert das ausdrucksstarke, glattrasierte Gesicht von der Seite, tritt schließlich mitten hinein in Rezas Blick und ergreift, eben noch vollkommen gelassen und in der Reserve, jetzt mit Wucht seinen Kragen. Die schwarzen Lederhandschuhe knarzen unter dem mächtigen Kinn, und der General will gerade mit seinem Vortrag beginnen, da ist es auch schon um den Soldaten geschehen, und er holt mit einem Ruck aus, nimmt regelrecht Maß und hämmert seine Faust mitten hinein in das Generalsgesicht, das ohnehin schon vor Verärgerung flimmert."
Das müsste – wen würde es wundern? – das Ende für Reza sein. Es ist aber der Anfang. Seiner noblen Herkunft wegen wird Reza nämlich nicht etwa bestraft, sondern weggelobt: zum Studium nach Deutschland, wenn auch mit der Auflage, als Wirtschaftsspion alles Wissenswerte an Persien weiterzugeben. Der Wirtschafts- ist allerdings nur ein Landwirtschaftsspion und landet am unbedeutenden Nebenschauplatz Soest.
Der Bengel als Bauerbursche
An dieser Stelle könnte die Geschichte über den frechen Bengel Reza noch ein lustiger Schelmenroman werden, doch Hulpe hat entschieden, Reza an dieser Stelle in der Fremde traurig werden zu lassen:
"Möglicherweise trifft er genau hier auf das Moderne, von dem die sich als liberal bezeichnende und laut eigener Auskunft westlich orientierte Schah-Gefolgschaft immer wieder geschwärmt hat. Doch andererseits stecken so viele hier in einer ihm unerklärlichen Bäuerlichkeit fest, der er sich wiederum weit voraus fühlt. Und unwillkürlich blitzt eine Frage in ihm auf: Ob es für menschliche Gemeinschaften wichtiger ist, verschieden sein zu dürfen, oder aber, dass alle nach einem Gemeinsamen suchen?"
Solche Fragen klingen nach Poesiealbum: Darf die menschliche Gemeinschaft unterschiedlich sein? Oder müssen wir alle nach dem Gemeinsamen suchen? Hulpes Roman ist voll von solchen blumig formulierten Fragen. Zum Beispiel auch danach, was Heimat ist und wo. Oder wer Familie und wie. Und was das Fremde oder wer? Reza?
"Es scheint, als befinde er sich plötzlich inmitten einer Parallelwelt zu seiner Heimat, was ihm wiederum schlagartig verdeutlicht, wie unmöglich es ist, in dieser Umgebung als Fremder einfach so zu sprechen, mit diesen Landleuten zu sprechen, von denen er nichts weiß, außer dass sie nichts über ihn wissen und ihn somit als das Fremdeste empfinden, das man sich ausmalen kann. Nichts anderes als das Wissen über sein Zuhause hindert ihn daran, hier und jetzt frei und für sich zu sprechen, denn das Sprechen auf dem Land ist ein anderes."
Skandalfreies Chaos
Klingt poetisch, lässt Realität aber außen vor. Denn es ist kaum vorstellbar, was Hulpe da erzählt, dass der persische Student Reza mit der deutschen Bürgerstochter Clara außerehelich einfach mal ein Kind zeugt, ohne dass das im Soest jener Zeit einen veritablen Skandal hervorgerufen hätte. Zumal die Kürschnerstochter Clara bereits mit dem mittellosen Rumänen Cosmin verheiratet ist und ein Kind mit ihm hat. Der Kindsvater ist allerdings abwesend, zurück hinterm eisernen Vorhang in Rumänien.
Wir erfahren das alles eher beiläufig, als spiele es keine große Rolle, auch "Bettina" nicht, Rezas Ehefrau, die er wer-weiß-wo und -wie kennen gelernt und mit der er ebenfalls ein Kind hat.
Stilist ohne Furor
Das alles ist Sprengstoff ohne Ende – zumal in jener Zeit – aber nicht bei Marius Hulpe. Der erzählt das stilsicher, aber ohne großen Furor sauber runter. Und es deutet Einiges darauf hin, dass "Niklas" – der Sohn von Carla und Reza – ein alter ego von Marius Hulpe ist. Deshalb mag man ihm eine gewisse Milde mit Eltern, Großeltern und verzwickten Familienverhältnissen verzeihen. Allerdings wird die Geschichte dadurch dermaßen unglaubwürdig, dass sie am Ende regelrecht ärgerlich ist.
Fast 400 Seiten lang wird Poahlbürger-Klischee auf Migranten-Klischee gepackt und die münden zum Schluss in einer Rosamunde-Pilcher-artigen Piep-Piep-Piep-wir-haben-uns-alle-lieb-Situation.
Tief durchatmen!
Marius Hulpe: "Wilde grüne Stadt. Oder: Im Labyrinth des entwurzelten Lebens", Dumont Verlag, Köln, 400 Seiten, 24 Euro