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Marktplatz für Regierungsverhandlungen

Das Wochenende ist vorbei und bald werden wir wissen, was die Finanzanalysten und Fondsmanager nun wirklich von den jüngsten Entscheidungen zur Eindämmung der Euro-Krise halten. Die erste Reaktion der Märkte ist angemessen zurückhaltend gewesen.

Von Jacqueline Hénard | 12.12.2011
    Nach der langen Verhandlungsnacht war die Beschlusslage am Freitag Früh allerdings auch noch so unklar, dass die Märkte erst einmal herausfinden mussten, in welchen Punkten die Staats- und Regierungschefs sich auf den deutsch-französischen Plan geeinigt hatten, was hinzugekommen oder weggefallen war und wer sich dem Ergebnis wie fest angeschlossen hatte.

    So weit zur ökonomischen Komponente.

    Erstmals seit vielen Jahren ist es bei diesem Brüsseler Gipfeltreffen auch um "politische Integration" gegangen. Das Wort war aus unserer Begriffswelt schon ganz verschwunden. Jetzt ist es wieder da. Als "Grundstein einer politischen Union" zog es sich durch viele Kommentare zum Gipfel. Was soll man sich darunter vorstellen?

    Die Antwort wird noch länger auf sich warten lassen, und es ist nicht sicher, dass sie jemals so klar ausfällt, dass Europa seine Bürger wieder mehrheitlich mit an Bord bekommt. Eine Meinungsumfrage nach der anderen belegt, dass die Europäer aller Längen- und Breitengrade immer weniger europäisch empfinden. Sie verstehen nicht, worum es geht, was ihnen der Binnenmarkt gebracht haben soll und welche Errungenschaften sich hinter den Städtenamen Maastricht, Amsterdam und Lissabon verbergen. "Europa" ist eine ewige Folge von "Familienfotos" und immer gleichen Bildern aus Sitzungssälen, die ohne Dechiffriercode weder Informations- noch Gefühlswert haben. Im Zeitalter sozialer Medien sind das aber mehr denn je konstitutive Elemente jeder Öffentlichkeit, die wiederum unverzichtbarer Bestandteil von demokratischer Politik ist.

    Die nationale Politik hat es verstanden, ihren realen Machtschwund durch eine konsequente Kommunikation mit Namen und Gesichtern zu kompensieren. Der Bürger kann sich in dem Schulglauben wiegen, dass sein Schicksal in einem einfachen Kräftefeld von Staatsvolk, gewählten Volksvertretern und Regierung spielt und Europa bloß ein Neben- und Miteinander dieser Kräftefelder darstellt.

    Und auf dieses Terrain kommt nun die "Fiskalunion" hereingetrabt, begleitet, jedenfalls im deutschen Sprachgebrauch, von "Stabilitätsunion" und manchmal auch vom schönen Versprechen einer zwangsläufig folgenden "Sozialunion".

    Ich will mich hier keiner wohlfeilen Kritik an Schlagworten hingeben. Die Kommunikationsstrategen versuchen, hochkomplexe Sachverhalte in halbwegs verständliche Formulierungen herunterzubrechen, die noch dazu die jeweiligen Staatsbürger und Wähler davon überzeugen sollen, ihre Verhandlungsführer hätten es richtig gemacht und etwas Zukunftsträchtiges erreicht.

    Die bloße Aneinanderreihung der Begriffe, die jetzt in Umlauf kommen, zeigt aber, wie schwer es sein wird, den Bürger für die "politische Union" zu gewinnen. Mit den "Vereinigten Staaten von Europa", die vor gut zehn Jahren noch eine nennenswerte Zahl von Anhängern hatten, hat das jedenfalls nichts mehr zu tun. Die "politische Union", um die es jetzt geht, ist keine Weiterentwicklung der Visionen, die Joschka Fischer im Mai 2000 entwickelt hatte. "Vom Staatenbund zur Föderation, Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" – so lautete der Titel seiner Rede an der Humboldt-Universität.

    Die politische Integration von heute ist eine Parallelveranstaltung der Nationalstaaten. Heute geht es nicht mehr um Vergemeinschaftung und Souveränitätsverlagerung in Richtung gemeinsamer Institutionen, sondern, ich zitiere die Bundeskanzlerin, um "bindende Beschlüsse" und "Gemeinschaftlichkeit". Was die Bindungskraft der Beschlüsse angeht, werden wir sehen. Das Wort von der "Gemeinschaftlichkeit" enthält eine klare Aussage. Das Europa von morgen wird ein Marktplatz für Regierungsverhandlungen. Für den europäischen Bürger ist da wenig Raum.