Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Markus Gabriel: "Der Sinn des Denkens"
Denken als sechster Sinn

Mit "Der Sinn des Denkens" ist dem Bonner Philosophen Markus Gabriel ein wirklich großer Wurf gelungen. Darin geht er der Frage nach, wie kritische Philosophie im postfaktischen Zeitalter aussehen könnte. Seine Antwort: Es bedarf eines Neuen Realismus.

Von Matthias Eckoldt | 24.01.2019
    Denken beweist für Markus Gabriel seinen Sinn, wenn es sich in ein kritisches Verhältnis zu Gegenwart und Vergangenheit setzt. Und so geht es dem Bonner Philosophen nicht um die Demontage von Wahrheitsansprüchen, wie sie noch ein bis zwei Generation vor ihm bei den Denkern der Postmoderne von Foucault bis Derrida praktiziert wurde, sondern um eine neue realistische Philosophie. Diese positioniert sich klar gegen die Rede vom postfaktischen Zeitalter. Gabriel schreibt:
    "Denn Philosophie wendet sich gegen die unsinnige Behauptung alternativer Tatsachen, gegen Verschwörungstheorien und unbegründete apokalyptische Szenarien, damit all dies nicht endgültig überhandnimmt und es nicht wirklich in naher Zukunft zum Ende der Menschheit kommt. Deshalb ergreife ich im Folgenden einmal mehr Partei für einen zeitgemäßen, aufgeklärten Humanismus, der die intellektuellen und ethischen Fähigkeiten der Menschheit gegen unsere post- und transhumanistischen Verächter verteidigt."
    Denken als sechster Sinn
    Eine zweite Bedeutungsebene des Titels liegt nicht auf rationaler, sondern auf sinnlicher Ebene. Für Gabriel ist das menschliche Denken ein Sinnesorgan. Ein sechster Sinn gewissermaßen. In seinem philosophischen Konzept steht das Denken gleichberechtigt neben den anderen fünf Sinnen.
    Für Gabriel ist Denken also kein mehr oder minder komplizierter Datenverarbeitungsprozess, sondern ein Sinn wie die anderen fünf auch. Während der Hörsinn Töne wahrnimmt, nimmt der Denksinn von Gabriel sogenannte Sinnfelder auf. Sinnfelder sind wiederum charakteristische Anordnungen von Gegenständen und Gedanken. So sind beispielsweise im Sinnfeld Wissenschaft alle Inhalte in einer eigenen Struktur geordnet, im Sinnfeld Fernsehwerbung notwendigerweise in einer ganz anderen.
    Die auf den ersten Blick überraschende These, dass das Denken ein Sinn unter anderen ist, birgt enorme Sprengkraft, da das Denken in Gabriels Philosophie nun nicht mehr der sinnlichen Wahrnehmung entgegen tritt, sondern selbst zu ihr gehört. Damit stellt sich Gabriel gegen die gesamte Philosophietradition seit Platon, in der das denkende Wesen Mensch seiner Wirklichkeit gegenübersteht. Wenn das Denken aber zu den Sinnen gehört, befinden wir uns als erkennende Wesen immer schon mitten in der Welt und müssen sie nicht erst denkend und wahrnehmend erzeugen. Wir sind nicht getrennt von einer Umwelt, die wir wie durch ein Schlüsselloch betrachten und uns deswegen schamlos zunutze machen und nach Gutdünken zerstören können, sondern wir sind - auch denkend - immer schon in der Welt. Und diese Sichtweise ist plausibel, denn wir erleben ja bei genauerem Hinsehen die Wirklichkeit um uns herum nicht wie ein Fernsehprogramm, das uns von außen vorgespielt wird, sondern wir sind in jedem einzelnen Moment immer schon inmitten von Sinnzusammenhängen, in und zu denen wir uns ununterbrochen verhalten. Diese tiefe Einsicht in die Erkenntnissituation des Menschen führt geradewegs zum Realismus. Zum Neuem Realismus, wie Gabriel ihn programmatisch nennt. Er erklärt ihn so:
    Der Neue Realismus
    "Die meisten verbinden das Wort Realismus bis heute mit genau jener Annahme einer bewusstseinsunabhängigen Außenwelt. Der Neue Realismus korrigiert das und sagt, warum sollte denn von dem, was offensichtlich existiert und wozu wir selber als geistige Lebewesen gehören, aber auch Sterne und Tische, warum sollte im Gefüge dessen, was offensichtlich existiert, unsereiner besonders unwichtig sein? Also dreht der neue Realismus jetzt die Perspektive um und behauptet erstens: Wir können die Wirklichkeit so erkennen, wie sie ist. Zweitens: Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist so wirklich wie alles andere und drittens: Die Wirklichkeit ist kein singulärer Gegenstand, in dem Slogan ausgedrückt "die Welt gibt es nicht". Es gibt also, wenn man so will, viele Wirklichkeiten und nicht eine. Das sind die Grundthesen des neuen Realismus."
    An dieser Stelle wird die Differenz zu Gabriels Vorgängern noch einmal besonders deutlich. Während die postmoderne Philosophie aus der Tatsache, dass es nicht eine, sondern viele Wirklichkeiten gibt, die Folgerung zog, dass es dann auch keine Wahrheit geben könne, insistiert Gabriel auf der Möglichkeit wahrer Erkenntnis. Um von Wahrheit reden zu können, muss man allerdings wissen, in welchem Sinnfeld man sich befindet.
    Genau dafür steht uns Menschen das Denken zur Verfügung, mithilfe dessen wir die Tatsachen in verschiedenen Sinnfeldern wie dem der Zweierbeziehung oder dem des Supermarkteinkaufs zur Kenntnis nehmen können. Gabriel untersucht in seinem Buch "Der Sinn des Denkens" auch die Natur dieser Sinnfelder. Einerseits demonstriert er, wie man die je eigenen Strukturen der Sinnfelder erschließen kann, in denen man sich gerade bewegt. Andererseits arbeitet er heraus, dass die Probleme in der gesellschaftlichen wie in der privaten Kommunikation dort beginnen, wo Sinnfelder verwechselt werden. Konkret: Kann im Sinnfeld Naturwissenschaft etwas über den Klimawandel ausgesagt werden? Und: Kann im selben Sinnfeld deswegen auch etwas Sinnvolles über das große Thema der Philosophie, das Bewusstsein, erörtert werden? Gabriel sagt:
    "Es ist völlig richtig, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt, das wissen wir durch naturwissenschaftliche Untersuchungen. Doch daraus folgt nicht in irgendeinem Sinne, dass das Bewusstsein ein Hirnzustand ist. Das heißt, die Frage, ob das Bewusstsein ein Hirnzustand ist und die Frage, ob es einen rein chemikalisch erklärbaren Klimawandel gibt, sind zwei völlig verschiedene Fragen. Die kann man nicht mit einem Schlag beantworten, indem man sagt: Die Naturwissenschaft ist die Expertin für alles. Deswegen ist der Neue Realismus hier auch viel wichtiger als die Wissenschaft. Weil der Neue Realismus alles um den Tatsachenbegriff herum aufbaut und dann aber die Tatsachen und Wahrheitsansprüche auf das richtige lokale Format zuschneidet."
    Was kann Künstliche Intelligenz tatsächlich?
    Auf diese Weise leistet Gabriel tatsächlich ein Stück Aufklärung und wird seinem Anspruch des Realismus gerecht. Denn er stellt mit Dringlichkeit die Frage, wer überhaupt was mit welchem Recht sagen kann. Insofern ist Gabriels philosophische Grundlagenarbeit immer wieder eminent politisch. Etwa wenn er sich mit der Künstlichen Intelligenz auseinandersetzt. Hier stellen sich vor allem zwei Fragen: Ist die Künstliche Intelligenz unserer überlegen oder wird es bald sein? Und noch zugespitzter: Kann die Künstliche Intelligenz denken? Letzteres lehnt Gabriel mit Verweis auf die lange evolutionäre Geschichte ab, die schließlich zu biologischen Gebilden wie dem mit einem Denksinn ausgestatteten Menschen geführt hat. Diese hochkomplexe Struktur nachzubauen scheint unmöglich, da es noch nicht einmal gelingt, eine einzige Zelle aus nichtlebendigem Material herzustellen. Bleibt die Frage nach der Intelligenz der Künstlichen Intelligenz, kurz der KI-Systeme. Markus Gabriel:
    "Klar, einen IQ-Test löst eine Maschine so viel besser, dass die jenseits aller menschlichen IQs liegt. Bedeutet das jetzt, dass in dem was sie tut, besser ist als wir? Da würde ich sagen: Nein, weil die gar nichts tun. Ein Aktenordner ist auch besser darin, die Papiere aufzubewahren, die ich in ihn hefte als ich. Ein Aktenordner löst das Problem des Abheftens von Akten besser als ich. Würden wir deshalb vermuten, dass unsere Aktenordner intelligenter sind als wir? Für die Aktenordner unterstellen wir das nicht, aber komischerweise für die Schachprogramme. Der Aktenordner erkennt in dem Sinne auch Muster. Der Ordner unterscheidet auch das, was ihn reinpasst, von dem, was nicht reinpasst. Und nichts anderes macht ein KI-System.
    Nebelkerzen der IT-Branche
    Gabriel enttarnt die Drohgebärde der denkenden und in naher Zukunft die Macht übernehmenden Künstlichen Intelligenz als eine Legende, die direkt vom Silicon Valley aus gestreut wird. Als eine Art Nebelkerze, die es mit realistischem Verstand unschädlich zu machen gilt. Lichtet sich der Nebel, ist klar zu sehen, dass am Ende der Kette in der IT-Branche nämlich nicht eine megaschlaue Künstliche Intelligenz, sondern Leute wie Mark Zuckerberg stehen, in deren Kassen Milliarden fließen.
    Mit "Der Sinn des Denkens" ist Markus Gabriel ein wirklich großer Wurf gelungen. Ein kluges, wie im Flow geschriebenes Buch. Der besondere Charme besteht im Changieren zwischen philosophischer Theoriebildung, die Gabriel brillant beherrscht, und aktuell-politischen Zuspitzungen, die sich aus seinem Neuen Realismus ergeben.
    Markus Gabriel: "Der Sinn des Denkens"
    Ullstein Verlag
    368 Seiten, 20 Euro