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Marokko
Medaille über Bord

Spitzensportler in Marokko verlassen aktuell in Scharen ihr Heimatland und suchen ihr Heil in einer illegalen Überfahrt nach Europa. Sie alle eint der Mangel an sozialer Sicherheit. Einer von ihnen: Taekwondo-Champion Anouar Boukharsa. Auch er sah in Marokko keine Perspektive mehr. Ein Video über ihn ging viral.

Von Dunja Sadaqi | 16.11.2019
Anouar Boukharsa ist marokkanischer Taekwondo-Champion. Und er hat für Schlagzeilen gesorgt. In sozialen Medien tauchte ein Video von ihm auf: er in einem Boot auf dem Meer Richtung Europa, um seinen Hals zahlreiche Medaillen, die von seinem sportlichen Erfolg zeugen.
Boukharsa hat die gefährliche viertägige Fahrt über das Meer überlebt. Nun lebt er illegal in Spanien. Er ist nur ein Beispiel von vielen marokkanischen Sportler, die es in ihrem Land nicht mehr auszuhalten scheinen.
Lieber tot als in seinem Heimatland Marokko
"Diese Medaillen hab ich extra mitgebracht, um euch eine Botschaft zu überbringen!", sagt der 26-jährige Anouar Boukharsa. In Marokko ist er kein Unbekannter. Boukharsa ist einer der Top-Taekwondo-Champions des Landes.
"Ich hatte keine Angst, ich wollte alles hinter mir lassen. Die Geringschätzung und alles, was mir widerfahren ist. Ich habe mir gesagt: Ich sterbe lieber auf offenem Meer als in meinem Land."
Nach vier Tagen auf dem Meer erreichen er und die anderen die spanischen kanarischen Inseln. Die lebensgefährliche Fahrt haben sie überlebt. Anouar Boukharsa schlägt sich dann per Schiff Richtung spanisches Festland durch. Heute lebt er illegal in Granada. Per Skype berichtet er, warum er gegangen ist. Er ist nur ein Beispiel von vielen marokkanischen Sportler, die es in ihrem Land nicht mehr auszuhalten scheinen.
Liebe zum Taekwondo
"Ich hab mein ganzes Leben dem Taekwondo gewidmet. Als ich größer wurde, habe ich gesehen, wie groß die Arbeitslosigkeit um mich herum ist. Meine Eltern haben keine Mittel, sie sind arm. Meine Stadt hilft nicht, sie ist strukturschwach. Ich bin da nicht der Einzige."
Anouar Boukharsa hat auf keinen Fall einen gescheiterte Lebenslauf. Im Gegenteil: Er hat zwei Diplome. Auch sportlich ist er erfolgreich, heimst zahlreiche regionale, nationale und sogar internationale Preise ein. Trotzdem findet er neben dem Sport keine Arbeit.
Keine Perspektive in Marokko
Wie er würden viele erfolgreiche marokkanische Sportler keine Perspektive für sich sehen. Anouar selbst kennt viele befreundete Sportler, die gehen wollen - oder schon gegangen sind, sagt er. Weil ihm sonst nichts bleibt, konzentriert er sich auf den Sport, gewinnt Wettkämpfe, Medaillen.
Das meiste kratzt er für Training und Wettkampf aus eigener Tasche zusammen - obwohl er in Marokko ein gefeierter Sportler ist. Boukharsa sagt, er habe an viele Türen geklopft, um legal zu migrieren, um Unterstützung von seinem Verband zu erhalten. Vom marokkanischen Taekwondo-Verband fühlt sich Boukharsa verraten.
"Wir sind zur Weltmeisterschaft gefahren. Zwölf Tage lang waren wir da. Als wir am Flughafen Mohammed VI wieder ankamen, hat man uns 15 Euro gegeben und eine Heimfahrt und hat gesagt: Viel Glück. Später waren wir in Rabat: Minister waren da und andere und man hat uns gedankt, und ich dachte, man würde wenigstens ein bisschen Unterstützung geben, meinen Eltern, meinen Brüdern. Es gab Minister, mit Fotostunde und so und am Ende hat man uns einen Umschlag gegeben. Und da waren 200 Euro drin - 200 Euro? Für was soll das gut sein? Danach habe ich mich entschlossen abzuhauen."
Von Safi aus in die Hauptstadt Marokkos
Anouar Boukharsa kommt aus Safi. Von dort steigt er auch in einer Nacht- und Nebelaktion in ein Boot. Safi, eine Hafenstadt im Süden des Landes, in der Nähe von Marrakesch. Die etwa 350.000 große Hafenstadt gilt eigentlich als eines der wichtigsten Industriestandorte des Landes. Vor allem der staatliche Phosphat-Konzern OCP schafft hier Arbeitsplätze.
Doch die Bewohner der Stadt leiden unter enormer Umweltverschmutzung, hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Spannungen. Viele beklagen: am hier produzierte Reichtum Marokkos haben sie kaum Anteil.
Trainer von Boukharsa versteht seine Flucht
Ein Grund zu gehen, das versteht auch Mohammed Saadeddine. Er sitzt in seinem kleinen Taekwondo-Studio im weißen Sportanzug auf den blauroten Mattenboden. Taekwondo-Champion Anouar sei wie ein Bruder für ihn. Dass er gegangen ist, schmerzt ihn, sagt er und zeigt stolz auf eine große Fotowand mit Wettkampfbildern und Medaillen. Viele Fotos zeigen Anouar Boukharsa seinen Schützling.
"Ich wusste nicht, dass Annouar gegangen war. Ich dachte, das wäre ein schlechter Scherz als er mich angerufen hat, per Whatsapp, um 2 Uhr nachts. Er hat mir alles erzählt und mir ein Video geschickt und gesagt, ich solle er verbreiten und sein Ziel sei es, dem Taekwondo-Verantwortlichen damit eine Nachricht zu überbringen."
Taekwondo-Studio soll Hoffnung schöpfen
Trainer Mohammed Saadeddine betreibt das Taekwondo-Studio AMAL. Hier trainieren Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Amal - das heißt Hoffnung auf Arabisch. Und die will er seinen jungen Athleten geben.
"In dieser Stadt gibt es nicht viele Perspektiven. Es ist eine marginalisierte Stadt. Was junge Leute wollen, gibt es hier nicht. Es gibt zwar ein paar Sportstudios, aber auch die Möglichkeiten im Sport sind begrenzt. Ich möchte, dass die Kinder diesen Sport lieben, um ihnen mehr zu geben und um sie von schlechten Dingen abzuhalten - wie den Drogen, die hier bei uns grassieren."
Boukharsa will Veränderung in Marokko
Auch Anouar Boukharsa will eigentlich nicht, dass ihm junge Leute aus seiner Heimatstadt es gleich tun. Er hofft, dass sich die Strukturen im marokkanischen Sport verändern.
"Was sich ändern muss, sind die Entscheider. Das sind nur alte Leute - wie sollen wir uns mit denen verstehen? Wenn du sie nach ihren sportlichen Erfolgen fragst, kommt da gar nichts. Und die wollen uns führen. Und oben an der Spitze findest du Ausländer, die machen, was sie wollen. Was mich schockiert: wir haben Champions, die ihr Land lieben. Die technische Führung muss sich ändern. Die korrupten Verantwortlichen müssen gehen. Wir wollen junge Leute!"
Spanien soll neue Heimat werden
Anour will jetzt versuchen in Spanien legal zu bleiben. Bisher hat er niemanden gefunden, der ihm dabei helfen könnte. Trainiert hat er lange nicht mehr. Jetzt heißt es erst einmal, legale Papier beschaffen, sagt er.
Währenddessen gibt es in Marokko schon die nächsten Schlagzeilen. Wenige Tage nachdem bekannt wurde, dass Anouar Boukharsa in ein Boot gestiegen ist, haben sich wohl schon die nächsten marokkanischen Sportler auf den Weg gemacht. In einem Boot, nach Europa.