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Martin Schulz: "Wir sind stolz, wir sind glücklich"

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, hat die Vergabe des Friedensnobelpreises an die EU als Ermutigung gewertet. Dies sei ein Appell, den Prozess der Einigung trotz der gegenwärtigen Krise fortzuführen, sagte Schulz.

Martin Schulz im Gespräch mit Peter Kapern | 12.10.2012
    Peter Kapern: Gegen zehn Uhr heute früh gab es die ersten Eilmeldungen aus Oslo mit der Schlagzeile "EU erhält Friedensnobelpreis 2012", ohne Quelle, ohne Bestätigung. Um elf Uhr trat dann der Vorsitzende des Auswahlkomitees an die Mikrofone, wir haben das gerade gehört, um die Entscheidung offiziell zu verkünden.

    Bei uns am Telefon ist nun der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz. Guten Tag, Herr Schulz.

    Martin Schulz: Guten Tag, Herr Kapern.

    Kapern: Herr Schulz, was bedeutet der Friedensnobelpreis für die Europäische Union?

    Schulz: Das ist eine große Ermutigung und auch ein Appell, glaube ich, eine Ermutigung, weiter voranzuschreiten auf diesem faszinierenden Weg der europäischen Einigung. Es ist ein Appell, weiterzumachen und sich nicht beirren zu lassen, auch wenn wir in einer Krise sind. Dieses historische Einigungswerk, dass Staaten über Grenzen und Trennendes hinweg sich verständigen, in gemeinschaftlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, um ihre Probleme zu lösen, das ist einzigartig in der Geschichte gewesen, und ich empfinde das mit Stolz, dass das diese Anerkennung gerade in dieser Zeit erfahren hat.

    Kapern: Können Sie, Herr Schulz, uns schon erzählen, wie Ihre Abgeordnetenkollegen im Europaparlament auf diese Entscheidung aus Oslo reagieren?

    Schulz: Ja, wir sind im Gespräch alle miteinander. Wir sind stolz, wir sind glücklich, das ist ein schöner Tag für alle, die an das europäische Einigungsprojekt glauben, die seit jeher dafür gearbeitet haben. Ich selbst bin an diesem Tag auch stolz. Ich empfinde das auch als eine Bestätigung dafür, dass das, was ich in meinem Leben zu meiner Hauptaufgabe gemacht habe, diese Ehre erfährt, und ich glaube, das geht fast allen meinen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich heute Morgen spreche, so. Ich habe gerade vor wenigen Minuten mit dem Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso telefoniert, der ja diesen Preis als der Repräsentant der zentralen Exekutivorganisation der Europäischen Kommission, der Kommission entgegennehmen wird. Ich werde ihn dabei begleiten, ich nehme an, Herr Van Rompuy auch. Wir haben heute Morgen zunächst ein bisschen auch wirklich erstaunt und aufgewühlt darauf geschaut. Wir hätten, glaube ich, alle nicht damit gerechnet, und das ist etwas, was uns alle zutiefst berührt.

    Kapern: Das Nobelpreiskomitee erinnert ja mit dieser Preisvergabe insbesondere an die friedensschaffende Kraft der Europäischen Union. Ist das eigentlich nötig? Geht die Erinnerung daran, dass die Europäische Union ein Friedenswerk ist, allmählich verloren?

    Schulz: Wenn das so wäre, dann wäre es bedauerlich und auch gefährlich. Aber Sie haben ja recht: Die Friedensdividende ist in dieser zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verblasst. Die Frage, die wir uns stellen müssen - und ich glaube, das ist auch eine Frage, die sich das Nobelpreiskomitee gestellt hat: Ist uns deshalb dieser faszinierende Prozess nichts mehr wert, nur weil wir den Frieden und die Abwesenheit von bewaffneten und gewalttätigen Auseinandersetzungen auf unserem Kontinent als gegeben nehmen, als für immer gesichert? Ist es dann auch tatsächlich so, dass es gegeben ist und für immer gesichert ist? Ist es nicht so, dass wir wieder Hetze gegen Minderheiten haben? Ist es nicht so, dass eine Partei, deren Chef Auschwitz als ein Detail der Weltgeschichte bezeichnet, 20 Prozent erwirbt in Frankreich? Ist es nicht so, dass wir in Ungarn uniformierte Rechtsextremisten in den Straßen haben? - Ich nehme nur mal ein paar Beispiele.

    Was wir geschafft haben mit dem, was in Europa entstanden ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das ist, dass wir Institutionen uns gegeben haben, wo große und kleine Staaten sich zur Bewältigung ihrer Probleme, gemeinschaftliche Institutionen über das Trennende zwischen Staaten und Völkern hinweg gegeben haben, um ihre Probleme gemeinschaftlich und mit fairen Kompromissen zu lösen. Das ist das, was wir Gemeinschaftsmethode nennen. Das ist das, was den Frieden nach innen gesichert hat und Europa fähig gemacht hat, in der Welt für Frieden mit einzutreten. Wir haben die Strukturen in Europa geändert, aber nicht die Menschen. Wenn die Strukturen zerfielen, wäre die destruktive Kraft, die es halt auch unter Menschen gibt, ganz schnell wieder da.

    Um es auf einen Satz zu bringen: Wir haben die Dämonen des 20. Jahrhunderts gebannt, durch neue Strukturen, aber wir haben die Menschen nicht verändert. Würden wir die Strukturen zerschlagen, wäre die Gefahr, dass diese Dämonen zurückkehren, ganz schnell wieder da.

    Kapern: In dem Sinne ist dann aber auch der Kampf gegen die Schuldenkrise auch wieder Teil des Friedenswerks der EU.

    Schulz: Sie werden Frieden nur dann bekommen, wenn Sie auch soziale Stabilität nach innen haben. Ich glaube, das ist ganz klar. Und deshalb gilt der Satz: Europa ist immer noch der reichste Kontinent der Welt, aber er hat eine sehr ungerechte Verteilung dieses Reichtums. Verteilungsgerechtigkeit nach innen zu schaffen, ist die zentrale Aufgabe. Wir haben superreiche Staaten auf der einen Seite, in der gleichen Union sitzen indes andere Staaten, in denen wir gut ausgebildete Akademiker haben, die in Mülltonnen nach Nahrungsmitteln suchen. Das muss anders werden, wenn wir den Frieden nach innen stabilisieren wollen.

    Kapern: Das heißt, die Zukunft der EU ist die Verteilungsunion, die Umverteilungsunion?

    Schulz: Die Zukunft der Union ist vor allen Dingen eine Wachstumsunion. Wenn wir investieren in Wachstum, dann schaffen wir auch Beschäftigung. Wenn wir Beschäftigung haben, dann schaffen wir soziale Gerechtigkeit. Natürlich müssen wir über Umverteilung reden, aber die kann nicht dauerhaft sein. Wir müssen jetzt Solidarität mit einigen Staaten üben, das tun wir ja auch durch die Schaffung von Mechanismen, die jetzt diesen Staaten hoffentlich bald helfen, vor allen Dingen ihre Zinskrisen zu bewältigen. Aber ohne Wachstum werden diese Staaten keinen inneren Frieden bekommen. Deshalb einseitige Haushaltskürzungen, die sind beileibe nötig, aber alleine werden sie nicht reichen. Was wir brauchen, sind Wachstumsmaßnahmen. Übrigens ist eine der wichtigsten Wachstumsmaßnahmen Vertrauen. Keiner investiert einen Euro in einem Land, wo ich ihm sage, der Euro, den du heute investierst, ist vielleicht morgen nicht mehr das Zahlungsmittel des Landes. Da geht doch keiner hin. Deshalb das Bekenntnis zu unserer einheitlichen Währung und das Bekenntnis zu Europa und den Zusammenhalt in Europa, schafft das Vertrauen, das wir brauchen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.