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Martin von Tours
Soldat, Eremit und Heiliger (Teil 1)

Martin von Tours, auch Sankt Martin, gestorben am 8. 11.397, gehört zu den bekanntesten Heiligen im Christentum. Der ehemalige römische Offizier ließ sich taufen, lebte als Eremit und wurde 372 zum Bischof von Tours geweiht. Er ist der erste Heilige im Abendland, der nicht als Märtyrer gestorben ist und wurde deshalb auch zum Vorbild für die Heiligenliteratur im Mittelalter.

Von Rüdiger Achenbach | 06.11.2014
    Gebet, Beten, Kirche, Glauben
    Martin von Tours wurde zum Leitbild der Heiligenliteratur des Mittelalters. (dpa / picture alliance / Armin Weigel)
    "Worms im Jahr 356: Als die Alemannen in Gallien einfielen und der römische Kaiser Julian seinen Soldaten die geplante Abwehrschlacht erklärte, weigerte sich ein Soldat namens Martinus an diesem Kampf teilzunehmen. Als der Kaiser ihm Feigheit vorwarf, erklärte sich Martinus bereit, am nächsten Morgen ohne Waffen nur mit dem Zeichen des Kreuzes die feindlichen Reihen zu durchbrechen."
    Die Geschichte beginnt wie eine typische, christliche Märtyrerlegende. Kaiser Julian, der das von seinem Onkel Kaiser Konstantin eingeführte Christentum wieder abschaffen wollte, wird von einem seiner Soldaten herausgefordert, der bereit ist, für das Zeichen des Kreuzes zu sterben. Dann nehmen die Ereignisse plötzlich einen völlig anderen Verlauf:
    "Die Alemannen schicken am nächsten Tag ihre Gesandten zum Kaiser und lassen mitteilen, dass sie sich ohne Kampf ergeben."
    Martinus muss sich nicht für seinen Glauben opfern. Das bekannte Schema der Märtyrer-Legende wird durchbrochen. Dazu der Mediävist Friedrich Prinz:
    "Der Autor fühlte sich hier bemüßigt, Gott selbst für dieses nicht vollzogene Martyrium in Anspruch zu nehmen, indem er hinzufügt, dass dies durch Gottes Fügung geschehen sei, jedenfalls fügt er eine spitzfindige Erklärung dieses 'Nicht-Martyriums' hinzu, weil die Ereignisse offensichtlich der Folgerichtigkeit der klassischen Märtyrerlegende zuwiderliefen."
    Der Autor Sulpicius Severus, der 396 die Lebensbeschreibung Martins verfasste, gewährt hier sozusagen einen Blick in die Werkstatt eines Legendenschreibers. Er verlässt das vertraute Schema der Märtyrerlegende und wendet sich einer damals ganz neuen literarischen Gattung zu: der Heiligenlegende ohne Martyrium.
    Heiligenlegende ohne Martyrium
    Die Vorlage für diese neue Art von Heiligen hatte Athanasius von Alexandrien geliefert, der in seiner Vita des Antonius erstmals die Geschichte von einem Mönch erzählte, der sich als Asket in die Wüste zurückgezogen hatte und allein durch seinen Lebenswandel zu einem heiligen Mann wurde. Das war völlig neu, da bis dahin nur Märtyrer als Heilige verehrt worden waren.
    Dieses Mönchsideal der ägyptischen Wüstenväter wendet Sulpicius Severus nun auch auf Martin an, den er damit zum ersten Heiligen in der abendländischen Geschichte des Christentums macht, der nicht als Märtyrer gestorben ist. Martin wird damit zum Leitbild der Heiligenliteratur des Mittelalters.
    Allerdings erzählt Sulpicius Severus, wie es in einer Heiligenlegende üblich ist, die Geschichte sozusagen vom Ende her. Er sieht also auch das frühere Leben des Mannes, den er später als Heiligen verehrt, ganz im Lichte der späteren Taten. Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt:
    "Die Heiligen-Vita sucht nicht die historische Realität, sondern die Idee des Heiligen zu vergegenwärtigen. Und das waren sein heiliges Leben, seine Askese und seine Wunder. Man brauchte eigentlich gar nichts Historisches zu wissen; bei wirklich Heiligen konnte zurückgeschlossen werden, wie ihr Leben ausgesehen haben musste."
    Martin hat die ägyptischen Wüstenväter an Heiligkeit übertroffen
    Aber gerade diese eigenen literarischen Regeln einer Heiligenlegende machen es dem Religionshistoriker bis heute schwer, hinter der Typik der Legende die historische Persönlichkeit und die konkreten Lebensumstände zu rekonstruieren. Denn eine Biografie im modernen Sinne war ja nicht die Absicht des Legendenschreibers.
    Der Kirchenhistoriker Ernst Dassmann:.
    "Natürlich darf man in den Martinsschriften des Sulpicius nicht alle Nachrichten für bare Münze nehmen, Sulpicius wollte zeigen, dass Martin die ägyptischen Wüstenväter an Heiligkeit und Wundermacht noch übertroffen hat. Viele Geschichten sind legendär."
    In der historischen Forschung geht man allerdings heute davon aus, dass das Jahr 356, als Kaiser Julian die Alemannen bei Worms zurückdrängte, tatsächlich ein einschneidendes Datum im Leben Martins gewesen ist. 356 hat er nämlich vermutlich seinen Militärdienst beendet. Allerdings scheint dies weniger spektakulär gewesen zu sein, als es Sulpicius Severus den Konflikt mit dem Kaiser darstellt.
    Martin war als Sohn eines Soldaten durch das Gesetz verpflichtet gewesen, 25 Jahre in der Armee zu dienen. Der 316 in Pannonien, im heutigen Ungarn, als Sohn eines Militärtribuns geborene Martinus hatte vermutlich, wie es üblich war, mit 15 Jahren seinen Militärdienst angetreten. Das heißt, er war von 331 bis 356, also genau 25 Jahre lang Soldat gewesen und wurde im Alter von 40 Jahren fristgemäß aus der Armee entlassen.
    Für Sulpicius Severus passte diese reibungslose Militärzeit Martins aber nicht ganz in das Bild, das er von Martin vermitteln wollte, zumal strenge Kirchenväter ohnehin den Militärdienst für Christen abgelehnt hatten. Friedrich Prinz:
    "Sulpicius spielt zwar den Waffendienst Martins mit der Bemerkung herunter, er habe dies nicht aus eigenem Antrieb getan, doch man wird bezweifeln dürfen, dass der junge Mann ohne eigene Initiative in eine militärische Spezialeinheit kommen konnte. Wenn die Vita erzählt, dass der junge Martin gefesselt zum Fahneneid gezwungen wurde, dann dürfte dies eine hagiografische Übertreibung sein."
    Er teilte den Mantel und schenkte eine Hälfte dem Bettler
    Nach der Überlieferung stammte Martin aus einer nicht-christlichen Familie. Vieles deutet aber darauf hin, dass er während seiner Militärzeit erstmals in Kontakt mit der christlichen Religion gekommen ist. Vermutlich hat er sich im Alter von 18 Jahren, während er in Amiens in Gallien stationiert war, taufen lassen. Der Anlass zu dieser Taufe wird in der Legende mit einem Ereignis beschrieben, das zu bekanntesten Martins-Geschichten geworden ist.
    "In einem ungewöhnlich kalten Winter flehte ein notdürftig bekleideter Bettler am Stadttor von Amiens die Vorübergehenden um Erbarmen an. Da Martin nichts als seinen Soldatenmantel besaß, zog er sein Schwert, teilte den Mantel und schenkte eine Hälfte dem Bettler. In der folgenden Nacht erschien Martin Christus im Traum, der jenes Mantelstück trug, das Martin dem Armen gegeben hatte."
    Aus Sicht der Heiligenlegende ist es die virtus, die göttliche Kraft, die Martin so selbstlos auftreten lässt. Und was hier bereits angedeutet wird, setzt er nach der Entlassung aus dem Militärdienst konsequent fort. Er entscheidet sich für das Leben eines Eremiten. Erste Erfahrungen mit der Praxis dieser christlichen Lebensform hatte er während einer Reise vor allem auf der Insel Gallinaria vor der Küste Genuas sammeln können.
    Etwa um das Jahr 360 errichtet Martin dann in der Nähe von Poitiers eine eigene Einsiedelei, um dort zurückgezogen ein asketischen Leben im Gebet zu führen. Schon bald schlossen sich ihm die ersten Schüler an und sein Ruf als heiliger Mann verbreitete sich nach und nach in der gesamten Region.
    Als dann im Jahr 371 Bischof Lidorius von Tours gestorben war, wünschten sich die Bürger der Stadt Martin als Nachfolger auf dem Bischofsstuhl. Da Martin keineswegs daran dachte sein Eremitenleben aufzugeben, soll er sich - wie eine Legende berichtet - in einem Gänsestall versteckt haben. Die Gänse schnatterten aber so laut, dass Martin schließlich doch entdeckt wurde.
    Eine viertel Gans mit Knödeln und Blaukraut
    Der Martinstag, am 11. November, war gleichzeitig der letzte Tag vor Beginn des 40-tägigen Weihnachtsfastens. (picture alliance / dpa / Tobias Hase)
    Auf diese kleine Episode, die nicht von Sulpicius Severus stammt, sondern eine Legende jüngeren Datums ist, soll das Brauchtum der Martinsgans zurückgehen, die als Strafe für den Verrat der Gänse am Gedenktag Martins verspeist wird. Denn der Martinstag, am 11. November, war gleichzeitig der letzte Tag vor Beginn des 40-tägigen Weihnachtsfastens. Es konnte also vor den Fastentagen noch einmal ein Braten auf den Tisch kommen. Gänse gehörten dabei zu den Tieren, die die meisten Leute im Mittelalter sich leisten konnten, außerdem musste viele Tiere vor dem Winter geschlachtet werden, weil das Futter nicht für alle ausreichte.
    Nach dem Zwischenfall mit den Gänsen brachten die Bürger von Tours Martin in ihre Stadt, aber die Bischöfe in Gallien lehnten das Vorhaben ab, den Eremiten zum Bischof zu wählen. Sulpicius Severus beschreibt die Stimmung so:
    "Sie sagten, Martin sei eine verächtliche Persönlichkeit und der bischöflichen Würde nicht wert. Sie nahmen an seinen ärmlichen Kleidern und seinem ungepflegten Haar Anstoß. "
    Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Es war nicht nur das äußere Erscheinungsbild Martins, das die Bischöfe abstieß. Es war vor allem seine nicht-aristokratische Herkunft, die Martin den Zugang zu einem Bischofsstuhl versperrte. Friedrich Prinz:
    "Hier wird der Trend sichtbar, zunehmend Aristokraten als Bischöfe einzusetzen. Das hatte weitreichende Folgen, denn die Tatsache, dass seit dem 4. Jahrhundert immer mehr Mitglieder des grundbesitzenden Senatorenadels in die oberen Ränge der Kirche vorrückten, bewirkte auch einen Wandel des kirchlichen Selbstverständnisses."
    Für die historische Forschung sind diese Hinweise von besonderem Interesse. Denn der Legendenschreiber Sulpicius liefert hier in seiner Martins-Vita ein Zeugnis für die innerkirchlichen Machtkämpfe des 4. Jahrhunderts. Es geht dabei um den Übergang von der Gemeindekirche zu einer vom Adel beherrschten Kirche, die dann über das gesamte Mittelalter tonangebend geworden ist.
    In diese kirchliche Umbruchsituation wird auch Martin hineingezogen. Die Bürger von Tours wollen ihren Bischof nach dem altkirchlichen Ideal einer christlichen Gemeinde selbst wählen. Dagegen stehen die adeligen Bischöfe, die nicht mehr bereit sind, diese Entscheidung der Kirchengemeinde zu überlassen.
    Da die adeligen Bischöfe politisch am längeren Hebel saßen, schien für Martin eine Bischofswahl unmöglich. Aber die Bürger von Tours waren entschlossen, sich auf eine Auseinandersetzung mit den Bischöfen einzulassen.