Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Maskierte Vernunft oder höherer Blödsinn?

Über wenige künstlerische Stilrichtungen gingen und gehen die Meinungen so auseinander wie über den Dadaismus. Was war das für eine Bewegung, die mitten im Ersten Weltkrieg an die Öffentlichkeit trat, durch Lautmalerei, Nonsens-Gedichte und den Flirt mit dem Absurden auf sich aufmerksam machte? Die am 5. Juni 1920 eröffnete Berliner Dada-Messe hinterließ, wie die gesamte Bewegung, einen zwiespältigen Eindruck.

Von Kersten Knipp | 05.06.2005
    Vernunft hat ihren Sinn. Sie macht das Leben leichter. Leider aber bisweilen auch komplizierter, indem sie Fallstricke setzt und sich verrennt, verbohrt und ideologisch wird. In solchen Zeiten ist es dann ganz hilfreich, der Vernunft die scheinbare Unvernunft entgegenzuhalten, zu brabbeln, zu lallen - und zu schauen, ob sich dahinter nicht ein höherer Sinn verbirgt.

    Dada ist die Kunst und Chronik des Zusammenbruchs. Im Februar 1916, mitten im Zweiten Weltkrieg, hatte der Dichter Hugo Ball seine Freunde und Kollegen eingeladen, sich am Programm seiner Zürcher "Künstlerkneipe Voltaire" zu beteiligen. Deren Ziel: Abschied vom Sinn - von einem Sinn, der sich in jener Zeit in Wahnsinn, Tod, Zerstörung verwandelt hatte. Dada, das war der Einspruch gegen diesen Sinn, der, geboren aus dem Geist der Sprache, nur durch deren künstlich herbeigeführten Kollaps noch zu retten war.

    " Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen - und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden war. An hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, … weckte und bestärkte dieser Satz die untersten Schichten der Erinnerung. "

    Die Erinnerung an eine Zeit vor der Zeit, der geschichtlichen Zeit. Wie armselig im Vergleich die Gegenwart, dessen maßgebliche Repräsentanten Ball im sinnlosen Nichts enden ließ: so etwa in "Le General cherche une maison à louer", "Der General sucht ein Mietshaus".

    Dada macht Furore, in Europa und Nordamerika. Höhepunkt und gleichzeitiger Abschluss der auf Dauer doch mit allzu eingeschränktem Inventar operierenden Bewegung ist die Berliner Dada-Messe, eröffnet am 5. Juni 1920, veranstaltet von George Grosz, Raoul Hausmann, und John Heartfield. Auch die Messe wird zur Bühne des Antimilitarismus. Eines der schockierendsten Objekte beschreibt ein Zeitzeuge so.

    " An der Decke des Ausstellungsraums hing ein ausgestopfter Soldat mit Offiziersachselstücken und der Maske eines Schweinekopfs unter der Feldmütze. "

    Dada und der Tod. Ein Jahr vor der Messe hatte Hans Arp eines seiner berühmtesten Gedichte verfasst "Kaspar ist tot" – und auch selbst gelesen.

    Weh, weh, weh,
    unser guter Kaspar ist tot.
    Heiliger Bimbam, Kaspar ist tot.
    Die Haifische klappern herzzerreißend
    vor Leid in den Glockenschein,
    wenn man seinen Vornamen ausspricht.
    Darum seufze ich weiter seinen Familiennamen:
    Kaspar, Kaspar, Kaspar. (…)
    Seine Büste wird die Kamine aller wahrhaft edlen Menschen zieren,
    doch das ist kein Trost und Schnupftabak für einen Totenkopf.

    Trotz aller präsentierten Schrecken, so sah es ein Ausstellungskritiker, wiesen die Dadaisten einen Weg in die Zukunft.

    " Dada ist eine Reaktion, Reaktion auf den aus allen Banden geratenen Zeitgeist, auf diese Phrasen-, Schwindel-, Ausbeuter- und Unterdrückerkultur, auf Anno 1914, 15, 20, 21 bis zum vorläufig noch unbekannten Ende. Vielleicht ist Dada die ganz große Sentimentalität kindlicher Idealisten, die entsetzt dem Scherbenhaufen unseres Chaos gegenüberstehen, und die - große Ungläubige - des festen Glaubens leben, dass es ein Heil nur noch geben kann in der vollständigen Zersetzung dieser aus Phrase und Schwindel kompilierten Welt. "

    Nein, die Zeit war kaum geeignet für große Gefühle - nicht einmal in der Liebe, wie Kurt Schwitters 1919 in seinem Gedicht "An Anna Blume" erkennen ließ.

    Oh du, Geliebte meiner 27 Sinne.
    Ich liebe dir!
    Du deiner, dich dir,
    ich dir, du, mir, wir,
    das gehört beiläufig nicht hierher.

    "Dada" bedeutet nichts hatte der Dada-Dichter Tristan Tzara behauptet. Doch das Nichts gebar den Humor - und nahm der Welt ihre aufgesetzte Würde. Dada ist, wenn man trotzdem lacht.