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Massaker von Oradour: Bevölkerung gibt Hinweise zu SS-Verbrechen in Frankreich

Bei einem Massaker im französischen Oradour-sur-Glane tötete eine SS-Panzerdivision im Jahr 1944 mehr als 600 Menschen. Der Staatsanwalt Andreas Brendel hat Ermittlungen gegen Beteiligte auf den Weg gebracht und erläutert Schwierigkeiten bei der Wahrheitsfindung nach fast 70 Jahren.

Andreas Brendel im Gespräch mit Martin Zagatta | 03.09.2013
    Martin Zagatta: Bundespräsident Joachim Gauck trifft in diesen Minuten in Paris ein zu einem Staatsbesuch, der auch für die französischen Gastgeber eine besondere Bedeutung hat. Stichwort Oradour: Fast 70 Jahre nach dem Massaker, bei dem die Deutschen mehr als 600 Menschen umgebracht haben, laufen jetzt noch oder wieder Ermittlungen, seit zwei Jahren etwa - Ermittlungen, die der Dortmunder Staatsanwalt Andreas Brendel auf den Weg gebracht hat. Guten Tag, Herr Brendel!

    Andreas Brendel: Schönen guten Tag!

    Zagatta: Herr Brendel, das können ja eigentlich nur noch Menschen sein, gegen die jetzt ermittelt wird, die so um die 90 sind oder noch älter. Gegen wen lassen Sie da jetzt ermitteln?

    Brendel: Es sind noch fünf Beschuldigte in Deutschland, die Jahrgänge 1925 und ‚26 sind, und ein Beschuldigter lebt in Österreich.

    Zagatta: Können Sie uns denn etwas dazu sagen, wie weit diese Ermittlungen gediehen sind? Rechnen Sie da noch mit einer Anklage?

    Brendel: Wir haben, nachdem die Ermittlungen eingeleitet worden sind, zunächst Archivakten in der ehemaligen DDR ausgewertet, die jetzt beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen liegen, dann Unterlagen, die wir in Frankreich im Zusammenhang mit dem Bordeaux-Prozess gefunden haben, haben dann im Rahmen von Rechtshilfeersuchen Zeugenvernehmungen in Frankreich durchführen können. Diese Unterlagen und Zeugenvernehmungen werden im Augenblick von mir und Mitarbeitern des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen ausgewertet und erst nach dieser Auswertung kann abschließend über die Frage entschieden werden, ob Anklage erhoben werden kann oder nicht.

    Zagatta: Wie weit helfen da die Stasi-Unterlagen?

    Brendel: Die Unterlagen des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen helfen insofern schon weiter, dass dort zum Beispiel eine komplette oder fast komplette Liste der Soldaten, die in Oradour eingesetzt gewesen sind, vorhanden war, die wir natürlich im Rahmen unserer Ermittlungen gut verwerten konnten.

    Zagatta: Da fragt man sich: Die DDR hat dem Westen immer vorgeworfen, Kriegsverbrecher laufen zu lassen. Warum wurde in der DDR nie etwas unternommen, oder wissen wir das vielleicht auch nicht?

    Brendel: Na ja, es hat in der DDR ja einen Prozess gegeben im Zusammenhang mit dem Massaker von Oradour. Dieser Prozess ist in den 80er-Jahren in der ehemaligen DDR geführt worden. Von daher ist schon im Hinblick auf dieses Massaker von Oradour was getan worden.

    Zagatta: Herr Brendel, die Frage stellt sich ja auch grundsätzlich. Wenn wir von solchen Verfahren jetzt hören, dann meist mit dem Zusatz "einer der wohl letzten NS-Prozesse" oder "die letzten Ermittlungen wahrscheinlich", weil die Leute so alt sind. Wie viele solche NS-Verfahren gibt es denn Ihrer Meinung nach überhaupt noch, denn bald geht es ja um fast 100-Jährige oder um 100-Jährige, die man noch anklagen müsste?

    Brendel: Bei der Staatsanwaltschaft in Dortmund, speziell hier bei der Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Verfahren, sind noch zehn Verfahren anhängig, die zu bearbeiten sind. Von daher kann man eigentlich zumindest in der augenblicklichen Situation nicht davon ausgehen, dass es der letzte Prozess ist, und wieweit das noch zu Anklagen führt, das kann ich im Augenblick natürlich nicht sagen.

    Zagatta: Können Sie uns denn sagen, warum das jetzt alles noch in Gang gekommen ist? Warum hat man das nicht vor 10, 20, 30 Jahren, auch Oradour beispielsweise, schon auf den Weg gebracht?

    Brendel: Ja, es ist so, dass natürlich einmal eine, ich sage mal, Veränderung in der Rechtsprechung erfolgt ist. Mordmerkmale sind genauer ausgelegt worden. Natürlich ist es auch so, dass im Laufe der Zeit viele Hinweise auch durch Medienberichterstattung und aus der Bevölkerung sowie von Historikern an uns herangetragen worden sind, sodass wir auch heute noch in der Lage sind, Ermittlungsverfahren einzuleiten beziehungsweise zu führen. Diese Informationen sind möglicherweise in der Vergangenheit den Ermittlungsbehörden gar nicht zur Verfügung gestellt worden beziehungsweise gar nicht vorhanden gewesen. Dann hat es die Öffnung von Archiven gegeben in den 90er-Jahren. Im gesamten osteuropäischen Bereich sind Archive geöffnet worden, die Zugänge möglich gemacht haben. Es gibt eine Menge an Beispielen, die dazu führen, dass es jetzt immer noch Ermittlungsverfahren gibt.

    Zagatta: An diesem Verbrechen in Oradour sollen ja auch Elsässer beteiligt gewesen sein, die dann vom französischen Staat anschließend amnestiert worden sind. Können Sie gegen die, sofern die noch leben, auch noch ermitteln, oder ist das ausgeschlossen?

    Brendel: Sofern es französische Staatsbürger sind, ist das von der deutschen Justiz nicht möglich. Diese Personen können von uns nur als Zeugen gehört werden.

    Zagatta: Waren Sie selbst eigentlich einmal in Oradour? Haben Sie erlebt, welche Bedeutung dieses Massaker für die Franzosen auch heute immer noch hat?

    Brendel: Ich war selbst in Oradour im März dieses Jahres. Ich bin auch mit einem Überlebenden des Massakers von Oradour durch diesen Ort gegangen, wobei ich noch mal eindrucksvoll geschildert bekommen habe, was dort in Oradour geschehen ist, und mir selbst auch noch mal vor Ort ein Bild des Massakers, sofern das überhaupt in dem Umfang heute noch möglich ist, machen konnte.

    Zagatta: Der Dortmunder Oberstaatsanwalt Andreas Brendel. Herr Brendel, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

    Brendel: Ja bitte.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.