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Massendemo vor Theaterpremiere in Wroclaw
Jelineks "Der Tod und das Mädchen" löst Theaterskandal aus

Ein Mob demonstrierte gestern im niederschlesischen Wroclaw gegen die Premiere von Elfriede Jelineks "Der Tod und das Mädchen"am Teatr Polski. Denn die polnische Regierung habe erlassen, dass keine Pornografie im öffentlichen Raum mehr geduldet werde. Theatermacher und die Regionalregierung sahen das anders. Der Vorhang ging wie geplant hoch.

Von Martin Sander | 22.11.2015
    Zuschauer sitzen im Theater vor einer leeren Bühne mit geschlossenem roten Vorhang.
    Eine menschenleere Theaterbühne. (dpa / Jens Wolf)
    Verkehrte Welt vor dem Teatr Polski gestern Abend in Wrocław: Rund Hundert Männer und Frauen, Angehörige eines Rosenkranz-Kreuzzugs und diverser nationalistischer Gruppen, protestieren lautstark für eine nationalpolnische Kultur, gegen Pornografie und gegen Elfriede Jelineks "Der Tod und das Mädchen" in der Inszenierung von Ewelina Marciniak. Ein paar Dutzend Männer blockieren den Eingang zum Foyer. Nur mit beträchtlichem Aufwand von Polizei und Wachleuten, gelangen die Zuschauer durch eine der Türen ins Teatr Polski. Es gibt ein Handgemenge und 20 Festnahmen.
    Piotr Rudzki, literarischer Direktor des Teatr Polski:
    "Die Situation ist erschreckend. In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts spielte man die Stücke des Avantgardisten Stanisław Ignacy Witkiewicz nur vor Saisonschluss oder um 22:00 Uhr oder nur mit spezieller Einladung - ohne Einlass für Schüler, Studenten und Militärs - weil man die Stücke von Witkiewicz für Pornografie hielt. Es sind fast hundert Jahre vergangen und man sollte glauben, es habe sich etwas verändert in diesem Land. Offenbar aber nicht viel. Jedenfalls verhalten sich die Kreise, die sich nicht verändert haben, sehr aggressiv. Sie wollen verhindern, dass andere daran teilhaben, was Ihnen die Verfassung dieses Landes garantiert: den freien Zugang zu Kunst und Wissenschaft.
    Kulturavantgarde trifft Nerv der Volksseele
    Das Problem ist: In Wrocław kam es gestern nicht zu einem spontanen Zusammenstoß der Kulturavantgarde mit der Volksseele. Es geht vielmehr um hohe Politik. Denn am Freitag hatte der neue Kulturminister und Vizepremier Piotr Gliński in Warschau durchgegriffen: Er werde keine Pornografie im öffentlichen Raum dulden.
    Am selben Tag wies der Nationalkonservative Gliński den Regierungschef der Region Niederschlesien an, die Jelinek-Premiere in Wrocław abzusagen. Dieser, ein Liberalkonservativer von der Bürgerplattform, lehnte Glińskis Anordnung ab - mit Hinweis auf bestehende Gesetze. Jetzt kochte die rechte Volksseele in Wrocław erst recht - angefeuert von Grußworten der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit aus Warschau. Der Mob unter dem Schutzschild "Rosenkranz-Kreuzzug" durfte sich sogar sicher wähnen, im Regierungsauftrag zu handeln, als er gestern Abend protestierte, den Zugang zum Theater versperrte und Polizisten angriff.
    Krzysztof Mieszkowski:
    "Ich bitte den Herrn Kulturminister und Vizepremier Gliński sehr darum, seinen Rücktritt einzureichen"
    Erklärte Theaterdirektor Krysztof Mieszkowski und wandte sich alsbald seiner Bühne zu. Es waren zwei gute Stunden Elfriede Jelinek, eine Interpretation des Textzyklus "Der Tod und das Mädchen" mit Betonung von Schneewittchen- und Dornröschen-Motiven.
    Dabei ging es, wie so oft bei Elfriede Jelinek, um den Mutter-Tochter-Konflikt, um die erlittene und weitergegebene Dressur des Menschen, um körperliche, psychische und sexuelle Gewalt. Das Ganze erwies sich als gutes, mitunter gemächliches, oft spannendes Stadttheater, verkürzt auf deutsche Verhältnisse: eher Claus Peymann als Frank Castorf. Bemerkenswert die Körperbeherrschung der Schauspieler, ihre perfekte Umsetzung der Choreografie, wenn sie sich nackt wie Schlangen, Schnecken oder Krabben rhythmisch über den Boden der Bühne wälzten, auf der sonst bürgerliche Salonatmosphäre mit drei Klavieren und einer Küchenzeile dominierten. In der Küche sitzend, erschien Jelineks Musiklehrerin dann auch für zwei, drei Augenblicke ein kopulierendes nacktes Paar vor Augen, freudlos und voller Distanz vorgespielt von zwei Pornodarstellern.
    Diese Szene und der Skandal darum haben sicher auch dafür gesorgt, dass im Teatr Polski alle Vorstellungen bis Ende dieses Jahres ausverkauft sind. Unter neuen Machtverhältnissen in Polen markiert die politische Reaktion darauf allerdings den Beginn eines Kulturkriegs, wie man ihn schon hinlänglich kennt - aus Orbans Ungarn und Putins Russland.