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Massenmord vor den Augen der UNO

Heute vor zehn Jahren begann im bosnischen Srebrenica der größte Massenmord in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Truppen des serbischen Generals Ratko Ladic ermordeten in den Wäldern rings um die muslimische Kleinstadt im Osten des Landes etwa 8000 Männer, die sie vorher gefangen genommen hatten. Die UNO, mit einem Blauhelm-Bataillon präsent, blieb untätig.

Von Norbert Mappes-Niedieck | 11.07.2005
    " Auf einmal, auf dem Berg gegenüber, haben wir gesehen, dass Häuser auf einmal brennen und dass rumgeschossen worden ist. Ja, und auf einmal waren die Kugeln auf unserem Dach, und wir haben nicht gewusst, was da los ist. Es war richtig so wie in einem Kriegsfilm. "

    Was der damals nicht ganz dreizehnjährige Mirzet Kasumovic erzählt, ist ein Bild in einem tatsächlich grauenvollen Film. Umgeben war die mehrheitlich muslimische Stadt von vorwiegend serbischen Dörfern, und so wurde sie im bosnischen Krieg zu einer immer wieder gefährdeten Enklave. Eben weil es so gefährdet war, erhob der Weltsicherheitsrat das Städtchen zur Uno-Schutzzone: Etwa 600 Blauhelmsoldaten wurden hier stationiert. Trotzdem wurde Srebrenica im Juli 1995 zum Schauplatz des schlimmsten Massakers in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

    Vor den Granaten floh die Familie Kasumovic in die Wohnung von Mirzets erwachsener Schwester unten in der Stadt. Während der holländische Kommandeur der Blauhelme von seinem Hauptquartier in Zagreb verzweifelt Luftangriffe der Uno-Truppen anforderte, nahmen am nächsten Tag schon, am 11. Juli des Jahres 1995, die bosnischen Serben unter dem General Ratko Mladic die ganze Stadt ein und setzten gleich alle Einwohner in Marsch, sechs Kilometer weit in den Nachbarort Potocari. Auch Mirzet Kasumovic und seine Eltern. Tags darauf brachten serbische Armeebusse die Muslime von Srebrenica nach Nordwesten, ins Gebiet um die Stadt Tuzla, die von bosnisch-muslimischen Truppen kontrolliert war.

    " Frauen und Kinder, die sind dann nach Potocari gegangen, und alte Menschen. Mein Vater ist auch ein älterer Mensch gewesen, und er ist mit uns mit gegangen. Ja, dann sind wir nach Potocari, am späten Nachmittag, in so einem Gefangenenlager, da haben wir auch nicht gewusst, wie es weitergeht. Da waren wir zwei Tage, also die ganzen Menschen, was in Srebrenica waren. Und fast bis zum Schluss haben wir gewartet, dass wir mit den Bussen nach Tuzla fahren. "

    Nicht alle fuhren mit.

    " Weil die meisten Menschen schon weg waren, wollten wir auch schon gehen. Ja, bevor wir in den Bus reingestiegen sind, meine Familie, also mein Vater, meine Mutter und ich, hat uns ein serbischer Armeesoldat sortiert - also mein Vater auf die andere Seite gehen müssen, und die anderen Männer halt irgendwohin, und meine Mutter und ich sind in ein anderes Bus gestiegen. Und dann sind wir eben weggefahren. "

    Sortiert, wie Mirzet sagt, wurden außer seinem Vater zwischen 7000 und 8000 Männer. Die jüngeren im kampffähigen Alter kamen schon gar nicht erst nach Potocari; sie wurden, wie man heute weiß, von den serbischen Truppen entwaffnet und auf einen Berg nahe der Stadt geführt. Mirzets Vater war schon sechzig und wurde Opfer einer zweiten Selektion in Potocari. Unter diesen Opfern waren auch einige Jungen in Mirzets Alter, die aber älter aussahen - die jüngsten Toten waren zwölf Jahre alt. Erst im Frühjahr 2004 erfuhr die Familie Kasumovic, was mit dem Vater geschehen war.

    " Eigentlich war das Schicksal so, dass er irgendwo beim Kozluk einen Schuss von hinten durch den Kopf bekommen hat. Und 1999 dann haben die den Massengrab entdeckt. Voriges Jahr waren wir im Begräbnis in Potocari und... "

    Gefangene wurden nicht gemacht, alle Männer wurden irgendwo in den Wäldern erschossen. Nach zehn Jahren beschäftigt der Haupttäter von Srebrenica, Ratko Mladic, noch immer das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Die Zeithistoriker erwarten sich von einem Prozess die Antwort auf die Frage, warum Mladic das tat, wo doch der Friedensschluss schon greifbar nahe war.

    Mirzet wird in vierzehn Tagen 23 Jahre alt und lebt heute in Österreich - ohne Beruf, weil die Behörden ihn nichts lernen ließen. Die Rückkehr in die Heimat ist seine einzige Chance; zaghaft hat die Familie schon begonnen, das zerstörte Haus zu renovieren. Wenn er in Österreich jungen Serben begegnet, geht man vorsichtig miteinander um, wie Mirzet sagt.

    " Aber ich hoffe, dass die neue Generation, die Jungen, besonders die, die was in Ausland und weg von Bosnien waren, die was gelernt haben und in verschiedenen Kulturen waren, dass die sich zusammenfinden, dass die eine Plattform gründen, egal woher sie kommen und egal aus welcher Schicht oder welcher Religionsgruppe oder welcher Nationalität, dass wir uns gegeneinander tolerieren wie andere Menschen auch. "