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Maßnahmen in der Corona-Pandemie
"Wir brauchen einen Wettbewerb der Regionen um das beste Konzept"

Verhältnismäßigkeit, Passgenauigkeit, Ressourcenschonung: Es gebe mehrere Gründe für einen dezentralen Ansatz zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, sagte der Krisenforscher Frank Roselieb im Dlf. Im Verlauf der Pandemie habe sich gezeigt, dass es gut sei, auf unterschiedliche Konzepte zu setzen.

Frank Roslieb im Gespräch mit Martin Zagatta | 24.09.2020
Ein Absperrband auf dem Schulhof der Brinkmannschule in Langenberg im Kreis Gütersloh weist daraufhin, dass der Spielplatz geschlossen ist.
In der Corona-Pandemie auf einen Krisenstab auf Ebene der Kreise oder kreisfreien Städte zu setzen, sei sinnvoll, meint der Krisenforscher Frank Roselieb. (David Inderlied/dpa)
Das Auswärtige Amt hat Reisewarnungen für mehrere Regionen in Europa ausgesprochen. Dabei orientiert es sich an der Einschätzung des Robert Koch-Instituts, das in diesen Regionen die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus für besonders hoch hält. Gleichzeitig ziehen immer mehr Städte in Deutschland selbst die Reißleine wegen deutlich gestiegener Infektionszahlen. In Nordrhein-Westfalen wo die Infektionszahlen beispielsweise steigen, haben mehrere Städte schon strengere Regeln erlassen. Der Krisenforscher Frank Roselieb hält die dezentralen Maßnahmen für angemessen. In der Pandemie müsse man sehr punktuell vorgehen und können "nicht mit der Kanone auf viele Spatzen schießen".

Martin Zagatta: Herr Roselieb, Sie haben uns zu Beginn der Corona-Krise damals erläutert, dass Sie diesen dezentralen Ansatz in solchen Krisenfällen für genau den richtigen halten. Aber macht das jetzt wirklich Sinn, wenn man das sieht, dass jetzt zum Beispiel in München ganz andere Regeln gelten als in Nürnberg?
Frank Roselieb: Ja, das macht schon Sinn. Wir haben ja nicht einen Krisenstab für 83 Millionen Deutsche oder auch nicht einen für 13 Millionen Bayern, sondern wirklich etwa 200.000 Menschen werden bei uns immer gebündelt in einem Krisenstab auf Ebene der Kreise oder kreisfreien Städte. Die Gründe dafür sind drei und die gelten nach wie vor fort, dass zum ersten natürlich die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben muss. Das heißt: Nur weil in München das Infektionsgeschehen zunimmt, können Sie nicht Menschen in Passau oder Nürnberg mit den gleichen Maßnahmen überziehen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Verhältnismäßigkeit, Passgenauigkeit, Ressourcenschonung
Das zweite ist die Passgenauigkeit. Wenn Sie sich München anschauen, da gibt es zwar kein offizielles Oktoberfest, aber wohl sehr viele private Oktoberfeste, die das Infektionsgeschehen beflügeln. Das haben Sie in der Form in Nürnberg wahrscheinlich nicht.
Das dritte ist die Ressourcenschonung. Wir waren in Schleswig-Holstein so ein bisschen Testgebiet am Anfang. Das heißt, wir haben beispielsweise alle Skandinavien-Rückkehrer getestet. Da gab es dann 4.000 Tests insgesamt. Davon waren gerade mal 15 positiv. Da hat man gemerkt: Nee, das klappt nicht. Gerade in der Pandemie müssen wir sehr punktuell vorgehen und können nicht mit der Kanone auf viele Spatzen schießen.
Zagatta: Aber wenn diese Begrenzungen, diese Einschränkungen jetzt derart regional ausgelegt werden und angeordnet werden, kann man dann nicht sehr leicht ausweichen und zum Beispiel einige Kilometer weiter entfernt feiern gehen?
Roselieb: Sie müssen bei solchen regionalen oder auch dezentralen Maßnahmen immer Grenzen ziehen. Die sind nie eindeutig. Wenn Sie sich Großstädte wie München oder auch Hamburg anschauen: Da haben Sie sehr viele Einpendler. Die kommen aus dem Umland oder auf Hamburg bezogen aus Niedersachsen oder Schleswig-Holstein. Diese Vermischungen, die haben Sie immer.
Aber es ist auch Zeichen von guter Kommunikation, dass man versucht, die Regeln möglichst einfach zu machen. Das heißt: Wenn Sie aus München kommen und in ein Hotel in Stuttgart einchecken möchten, werden Sie Schwierigkeiten haben, oder Sie müssen Ihre Meldeadresse dort hinterlassen. Wenn Sie aus Rosenheim kommen, könnte es schon ganz anders aussehen. Aber die Kommunikation lebt davon, dass man es einfach macht. Darum haben Sie auch diese 50 pro 100.000 Einwohner oder die AHA-Regeln. Es ist im Interesse der Menschen gemacht, dass man es so global fasst.
Demonstration gegen die Corona-Beschränkungen auf dem Canstatter Wasen in Stuttgart
Corona-Demonstrationen: Positionen und Protagonisten
Sie protestieren gegen die Beschränkungen durch den Corona-Lockdown - in manchen Städten sind es nur hundert, in anderen Tausende, die ihrem Frust und Ärger Luft machen. Wer steckt hinter den Protesten? Welche Forderungen gibt es? Ein Überblick.
Zagatta: Aber ist das tatsächlich einfacher? Wenn ich jetzt aus München komme und irgendwo in Deutschland in ein Hotel einchecke, da gibt es doch keine Vorschriften, dass die Leute mich dort nicht reinlassen. Haben wir jetzt nicht gerade durch diese regionalen Lösungen so was wie einen Flickenteppich, ziemlichen Wirrwarr? Wird da die Bevölkerung nicht überfordert?
Roselieb: Nee, ganz im Gegenteil. Zum einen gilt natürlich in der Pandemie wie bei anderen Extremrisiken auch, dass alle auf Sicht fliegen, egal ob Politiker oder Behörde. Das heißt, wir brauchen eine Art Wettbewerb der Regionen um die beste Möglichkeit, das beste Konzept. Wenn Sie auf den inländischen Tourismus blicken, dann haben Sie ein Land wie Mecklenburg-Vorpommern, das hat die ganzen Tagesgäste ausgesperrt.
Wir haben gesagt, nee, wir lassen die in Schleswig-Holstein zu, hatten sowohl Übernachtungs- als auch Tagesgäste, und es war letztlich erfolgreich. Also weiß man durch diese unterschiedlichen Regelungen, dass es gut ist, auf verschiedene Konzepte zu setzen. Beim nächsten Mal wissen Sie, Tagesgäste können kommen, die sind nicht das Problem der Corona-Pandemie, und das gilt aktuell genauso.
"Die Politiker fliegen auf Sicht"
Zagatta: Sie sagen, Konkurrenz ist gut. Das was wir als störend empfunden haben, dieses Gebaren zwischen Armin Laschet und Markus Söder in Bayern, was viele als Konkurrenzkampf ausgelegt haben, als störend, sagen Sie, das ist gesunde Konkurrenz?
Roselieb: Ja, es ist Konkurrenz, und es wird natürlich auch von den Menschen sehr genau beäugt. Wenn Sie sich die Zustimmungswerte zur Politik der Bundesregierung anschauen – ich mache den Job seit 22 Jahren -, wir hatten noch bei keinem anderen Krisenfall über einen so langen Zeitraum eine so hohe Zustimmung zur Krisenpolitik der Regierung, weder während der Flüchtlingskrise, noch während der Finanzmarktkrise, noch während der Terroranschlagskrise, noch während irgendeiner anderen lokalen Krise oder Ähnlichem. Das ist schon sehr, sehr hoch. Das heißt, die Menschen suchen sich auch aus, wer gefällt mir aktuell am besten. Und da würde ich vermuten: Wenn es einen direkten Kampf zwischen den beiden geben würde um den CDU-Vorsitz in der Öffentlichkeit, obwohl er es vielleicht gar nicht will, hätte Markus Söder da bessere Chancen.
Der andere Punkt, der natürlich hinzukommt, ist der, dass bei der Pandemie, anders als bei allen anderen Krisenfällen, auch diese Länderbesonderheit betont wird. Das heißt: Normalerweise, egal ob Atomkraftwerksunfall oder Lebensmittelverunreinigung, haben Sie immer das dezentrale Prinzip. Das heißt, eine Kommune ist zuständig. Und Sie haben genau eine Bundeseinrichtung, die Sie berät. Das ist bei der Pandemie das Robert-Koch-Institut, das ist bei IT-Angriffen auf die öffentliche Infrastruktur das BSI und so weiter. Nur bei der Pandemie hat man gesagt, dass man eine sogenannte Bündlerfunktion einführt.
Das heißt, da hat der Ministerpräsident die Aufgabe, stellvertretend für die ganzen Landräte vor die Kameras zu treten, und genauso hat die Infektionsschutzreferentin im jeweiligen Gesundheitsministerium die Aufgabe, die Interessen der kommunalen Gesundheitsämter zu bündeln, damit nicht 400 der Reihe nach dann in Berlin beim Robert-Koch-Institut anrufen müssen.
Das System hat sich jetzt auch bewährt und dass da Länderchefs hier und da mal abweichen – die werden aber meistens durch die eigenen Bürger bestraft. Wir hatten das hier im Norden in Schleswig-Holstein und Hamburg. Da haben alle Nord-Ministerpräsidenten unmittelbar nach einer Telefonkonferenz mit der Kanzlerin (Anfang Mai war das) den Bürgern sofort gesagt, was Sache ist. Nur einer – das war dann der Hamburger Regierungschef – hat gesagt, ich tauche erst mal sechs Tage ab für die Koalitionsverhandlungen. Das kam bei den Bürgern überhaupt nicht gut an. Abweichler werden da auch durchaus von den Bürgern beäugt und bestraft.
Zagatta: Und wenn Sie sagen, das Vertrauen ist trotz Corona-Krise oder erst recht wegen der Corona-Krise so groß wie noch nie in die Politik; daran ändern jetzt auch diese vielen Pannen, die es gegeben hat, nichts?
Roselieb: Die Politiker fliegen auf Sicht. Das heißt, man weiß, auch die müssen erst mal gucken, wie es weiterläuft. Gleichzeitig ist natürlich auch durch das, was im Sommer passiert ist, den Bürgern ein bisschen der Spiegel vorgehalten worden. Wenn Sie in die Entscheidungsgremien der Politik reinblicken oder damals reingeblickt hätten, dann hätten Sie gemerkt, dass da sehr große Meinungsverschiedenheiten waren bei der Frage, lassen wir die Deutschen jetzt ins Ausland reisen oder machen wir die Grenzen einfach dicht. Da gab es immer zwei Lager.
Die einen haben gesagt, nein. Das waren die Infektionsmediziner, die ganz klar gesagt haben, dann würden wir ein weiteres Ischgl, ein weiteres Tirschenreuth und so weiter bekommen. Die anderen – dazu gehörte auch ich – haben gesagt, das können wir nicht machen. Dann passiert nämlich genau das, was auch passiert ist: Die Menschen in Deutschland infizieren sich nicht groß in Schleswig-Holstein, in Mecklenburg-Vorpommern im Tourismus, oder auch nicht, wenn sie an der Mosel Urlaub machen. Das Problem sind wirklich diese Hotspots im Ausland, wo Sie Party-Tourismus haben, und ich glaube, dadurch haben viele Deutsche gemerkt, dass die Idee, den Deutschen frühzeitig zu sagen, Sommerurlaub, macht es lieber bei uns in Deutschland, wohl doch eine gute war, und das wirkt, glaube ich, auch jetzt im Herbst und auch im Winter entsprechend weiter.
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"Diejenigen, die zu weit gehen, die werden bitterböse bestraft"
Zagatta: Brauchen wir dann überhaupt noch, wenn das stimmt, was Sie sagen, eine Abstimmung zwischen den Ministerpräsidenten beziehungsweise auch mit dem Bund? Da ist ja in der Vergangenheit einiges auch sehr unglücklich gelaufen, mit Vereinbarungen mit der Bundeskanzlerin, an die sich anschließend niemand gehalten hat.
Roselieb: Auch da gilt das Prinzip: Diejenigen, die zu weit gehen, die werden bitterböse bestraft. Dann müssen ganze Fußballmannschaften oder ganze Fangruppen in Quarantäne. Diese Abstimmung braucht man auch, weil es immer wieder überregionale Ereignisse gibt. Wenn Sie in der Ersten Fußball-Bundesliga spielen, spielen Sie deutschlandweit. Da würde eine Regelung nur in Bayern oder nur in Hamburg oder nur in Berlin überhaupt nichts bringen. Diese Koordination ist wichtig. Aber die Verantwortung im Detail - das ist die Besonderheit der Pandemie -, die trägt weiter der Ministerpräsident oder die Ministerpräsidentin. Dadurch, denke ich mir, werden die auch ganz gut in die Verantwortung genommen und können nicht immer bei nächster Gelegenheit sagen, ich wollte das gar nicht, die Bundeskanzlerin ist schuld. Das klappt bei der Pandemie, anders als bei so manchen anderen Krisen, glücklicherweise nicht.
Zagatta: Jetzt gibt es aber doch einiges an Kritik in den vergangenen Wochen an diesen Corona-Einschränkungen. Die Politiker sind dort ja auch oft unterschiedlicher Meinung. Werden Kritiker dieser Corona-Einschränkungen aus Ihrer Sicht ernst genug genommen, oder werden die viel zu oft als Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme abgetan?
Roselieb: Ich denke, man muss da zwischen zwei Varianten unterscheiden. Wir unterscheiden in dieser Konflikt-Kommunikation immer Personen, die einen Dissens haben, die einfach anderer Meinung sind - da können Sie auch mit Kommunikation nicht viel erreichen -, und denjenigen, die einfach ein Defizit haben, das heißt nicht genug wissen über das Thema. Ich habe selbst mehrere Podiumsdiskussionen geführt, weil auch die Politik ganz klar gesagt hat, wir müssen erklären, was wir machen, und da gab es durchaus einige, die gemerkt haben, ja, da bin ich wohl auf den falschen Facebook-Seiten oder auf dem falschen Twitter-Kanal gelandet, wenn ich das gesamte Bild habe, dann kann ich nur sagen, die machen in der Politik momentan, auch wenn es schwerfällt, relativ viel richtig. Und dann gibt es diesen harten Kern, der versucht, das Thema mit allen anderen Nebenthemen aufzuladen.
Ein Automat auf einem Gleis der Deutschen Bahn am Bahnhof ist neben Süßigkeiten und anderen Dingen auch mit Masken bestückt
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"Das Thema Impfung wird uns demnächst beschäftigen"
Das wird auch weitergehen. Das Thema Impfung wird uns demnächst beschäftigen. Da gibt es Impfgegner, die auch ihre Position durchaus hartnäckig verteidigen. Darum ist die Politik schon aufgefordert, mit diesen Kritikern, auch den Dissens-Kritikern, die sie nicht so einfach gedreht bekommen, den Dialog zu suchen. Sonst würde aus den Corona-Kritikern morgen der Impfkritiker werden, und das setzt sich dann fort. Das kann nicht Ziel und Zweck der Kommunikation der Bundesregierung oder auch irgendeiner Landesregierung sein. Dialog ja, aber wie gesagt mit guten Argumenten, nicht mit irgendwelchen Schimpfwörtern.
Zagatta: Trotz dieser Kritik, trotz des Hickhacks um die Masken, das wir erlebt haben, trotz der Pannen – Sie sagen, mit der Krisenkommunikation insgesamt in Deutschland kann man sehr zufrieden sein?
Roselieb: Ich denke schon. Ich würde die Note zwei geben, wenn wir es unbedingt auf Halbjahreszeugnisse ansetzen wollen.
Roselieb:
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.