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Mathematik für soziale Konstrukte

Soziologie. - Zehn Milliarden Menschen werden auf dem Gipfel der Bevölkerungsexplosion in diesem Jahrhundert die Erde bevölkern. Damit sind gesellschaftliche und wirtschaftliche Turbulenzen programmiert, die Soziologen mit Hilfe mathematischer Modelle vorhersagen wollen.

Von Mathias Schulenburg | 23.12.2008
    Wissenschaftlich, sagt Carlo Jaeger, unter anderem Professor am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, einer der Veranstalter, geht es um zwei Dinge:

    "Das Eine ist, man hat irgendein sozialwissenschaftliches Problem, nehmen Sie diese Regionalentwicklung in den neuen Bundesländern oder nehmen Sie ein anderes, und dann sucht man, ob es in der Mathematik schon Instrumente gibt, um jetzt dieses Problem gut darzustellen und zu untersuchen. Das ist ein Großteil dessen, was wir tun. Aber es gibt auch das Umgekehrte, dass man nämlich den Mathematikern sagt: Hört mal, wir haben hier ein Problem. Die antworten: Wir haben eigentlich kein Instrument, dass da gut passt, und dann fühlen sie sich herausgefordert und inspiriert und dann entsteht etwas. Eine der wichtigsten Entwicklungen der Mathematik des letzten Jahrhunderts, das war die Entwicklung der Spieltheorie, die ist genau so entstanden, die ist inspiriert worden durch sozialwissenschaftliche Fragestellungen und wir wollen einerseits anwenden, was es schon gibt aber wir wollen durchaus auch Anregungen erzeugen, in beide Richtungen."

    Als eine Quelle der Inspiration hat Rupert Klein, Professor für Mathematik und Informatik an der Freien Universität Berlin, der zweite Veranstalter, mathematisch gut beschriebene physikalische Prozesse ausgemacht, die sich – mit aller Vorsicht – auf soziale Erscheinungen abbilden lassen sollten. Das macht Sinn, weil Menschen in großer Zahl tatsächlich Gruppenphänomene entwickeln, Phasenwechsel wie der Übergang von Eis zu Wasser:

    "Man sieht so etwas wie Phasenübergänge, etwa in der drastischen Wandlung des Verhaltens, was Rauchen angeht, in den USA. Das kann man fast so auffassen wie einen Phasenübergang. Die Menschen in Amerika sind herumgelaufen, die einen rauchen, die anderen rauchen nicht, und es gab an irgendeiner Stelle mal eine Synchronisation, über die Information, die in der Gesellschaft verbreitet wurde, die natürlich über einen reinen Informationstransport hinausging, es war dann so was wie ein Überzeugen des Anderen. Auf einmal schlug die Idee durch. Und das ist so was wie in der Physik ein Phasenübergang, auf einmal schwappt es um und das Rauchen ist fast verschwunden."

    Julian Hunt, mit zahlreichen Ehrungen bedachter Erforscher turbulenter und diffusiver Phänomene in der Atmosphäre, stellte eine große Zahl möglicher Anwendungen einer Sozio-Mathematik vor, darunter das Management eines Terror-Anschlags oder einer Seuche, wie der Maul- und Klauen-Seuche in England, 2001:

    "Schafe in einer bestimmten Gegend entwickelten also diese Krankheit, und der Wind hätte die Erreger über benachbarte Farmen verbreiten können. Und um eine Art Barriere zu schaffen, mussten die Schafe oder das Vieh um gefährdete Farmen gekeult, also getötet werden. Dem lag eine Schätzung zugrunde, wie sich die Krankheit verbreiten würde, eine Art mathematisches Modell, Wahrscheinlichkeiten also. Diese Entscheidungen wurden als sehr hart empfunden, denn da wurden auch vollkommen gesunde Tiere getötet, und die Leute fragten: Warum? Die Regierung sagte, dem lägen mathematische Modelle zugrunde, die sich immer wieder bestätigen würden."

    Mathematik dieser Art ist mittlerweile verbreiteter als man denkt: Wenn in Mekka die Gläubigen drei als Teufel angenommene Säulen mit Steinen bewerfen, wie das der Koran verlangt, wird das Geschehen im Hintergrund von einem Satz partieller Differentialgleichungen im Computer nachgebildet, um herauszufinden, wie sich künftig in der Masse lebensgefährliche Panikentwicklungen, die es gegeben hat, vermeiden lassen.