Mathematiker, Komponist, Dirigent

Von Wolfgang Schreiber · 26.03.2010
Der französische Komponist Pierre Boulez gehört zu den Begründern der zeitgenössischen Avantgarde. Als Dirigent steht der 85-Jährige bis heute am Pult großer Symphonieorchester. Er gilt als einer der vielseitigsten, tiefsinnigsten und folgenreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts.
"Wie kann der Mann das alles bewältigen", fragte entsetzt der komponierende Dirigent Otto Klemperer vor vier Jahrzehnten - und meinte Pierre Boulez, den dirigierenden Komponisten, den Chef zweier Orchester, den Gastdirigenten weltweit. Klemperer insistierte:

"Wichtig für ihn ist meiner Ansicht nach, dass er sich als Komponist entwickelt. Dass er glänzend dirigiert, mein Gott, dass sollte für ihn nicht so wichtig sein."

Klemperers Kritik an Pierre Boulez, der am 26. März 1925 in Montbrison an der Loire geboren wurde, weist auf ein Problem hin: Denn als Komponist, der Mathematik studiert hatte, konnte sich der Strukturalist Boulez zuerst zwar glänzend entfalten, doch später nicht mehr sehr weit fortentwickeln.

Dagegen schöpft der Dirigent Boulez verschwenderisch aus dem Vollen. Was für die Pultkollegen Klassik und Romantik sind, das ist für ihn die Moderne. Die nachfolgende Dirigentengeneration verdankt ihm darin viel. Stücke von Debussy, Bartok, Varese und Ravel - für Boulez sind sie so wichtig wie die Werke von Mozart, Beethoven oder Brahms.

"Das 20. Jahrhundert ist Repertoire. Weil, sehen Sie, Jeux ist 1913, Bartok ist in den 20er-Jahren. Also ich meine, das sind wirklich Stücke, die sollten normalerweise immer im Repertoire sein. Warum macht man nicht mehr solche Programme?"

Die Energie, die der Dirigent Pierre Boulez für Claude Debussys Orchesterstück "Iberia" aufbringt, er nutzte sie als Organisator für die Musikkultur Frankreichs. Nur ihm konnte es gelingen, die Pariser für das zukunftsweisende Musikforschungszentrum IRCAM zu begeistern. Und doch verlegte Boulez seinen Wohnsitz über den Rhein - nach Baden-Baden; blieb ein Freund der deutschen Kultur, nachdem er mit Stockhausen und Nono in Darmstadt die Nachkriegs-Avantgarde begründet hatte - und auch dann, wenn er die Symphonieorchester in London, New York und Cleveland dirigierte. Boulez' Dirigentenpulte stehen heute in Berlin, Wien und Luzern.

Dass aber ausgerechnet er, der französische Rationalist, der einst die Opernhäuser "in die Luft sprengen" wollte, im mystischen Orchestergraben von Bayreuth landet, hätten ihm nicht viele geweissagt. 1976 dirigiert er dort den sogenannten "Jahrhundert-Ring", mit dem er und sein Landsmann Patrice Chereau weltweit Furore machen. Aber selbst wenn Boulez über die "Götterdämmerung" Richard Wagners nachdenkt - er tut es eben wie ein Komponist.

"'Götterdämmerung' ist sicher das reichste Beispiel in Wagner, von seiner musikalischen Entwicklung. Er hat wirklich Interesse an seinen musikalischen Themen. Und er denkt nicht mehr, zum Beispiel, von Themen als Begleitung, wie es zum Beispiel im 'Rheingold' der Fall ist. Manchmal sind die Themen nur einfach Begleitung, um den Leuten zu signalisieren, sozusagen. Aber am Ende ist er so fasziniert, selber, von seinem eigenen Material, er hat soviel Freude, wirklich, an der Manipulation von diesen Themen. Die musikalische Arbeit nimmt alles."

Vieles kommt zusammen: Komponist, Interpret, Schriftsteller, Lehrer der jungen Generation, Organisator der Moderne - Pierre Boulez ist bis heute der offene, neugierige, brillant denkende Künstler und Intellektuelle geblieben; dabei - fast ein Wunder - scheinbar alterslos. Einer der vielseitigsten, tiefsinnigsten und folgenreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts hat die Kultur, das musikalische Bewusstsein unserer Zeit, einschneidend geprägt.