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Mathias Énard: "Kompass"
Roman einer schlaflosen Nacht

In "Kompass" erzählt der französische Schriftsteller Mathias Énard von der kulturellen Faszination, die der Orient über Jahrhunderte in Europa hervorrief. Dabei verliert er jedoch nicht den Blick auf aktuelle Ereignisse, wie den Krieg in Syrien oder den Zerstörungswahn des Islamischen Staates. Außerdem: Ein Seitenblick auf seinen in Kürze erscheinenden Roman "Alkohol und Wehmut".

Von Christoph Vormweg | 16.10.2016
    Der Schriftsteller Mathias Énard.
    Der Schriftsteller Mathias Énard. (picture alliance / dpa / Marc Melki / Actes Sud)
    Die Terror-Anschläge selbst ernannter Islamisten haben in den letzten Jahren das Orient-Bild vieler Europäer zum Feindbild erstarren lassen. In Frankreich mit seinen rund sechs Millionen Muslimen meldeten sich auch etliche Schriftsteller zu Wort. So erhitzte Michel Houellebecq die Gemüter mit seinem satirischen Roman "Unterwerfung", in dem ein Muslim zum französischen Staatspräsidenten aufsteigt. Oder Boualem Sansal zeichnete in seiner Zukunftsvision "2084" das Schreckensszenario einer islamistischen Diktatur. Auch Mathias Énard spart in seinem Roman "Kompass" nicht mit scharfer Kritik am Krieg in Syrien oder am Zerstörungswahn der Kämpfer des sogenannten "Islamischen Staates".
    Ängste schüren will er – anders als Houellebecq und Sansal - aber nicht. Im Gegenteil: Mathias Énard ist selbst gelernter Orientalist und hat drei Jahre in Damaskus, zwei Jahre in Beirut und ein Jahr in Teheran gelebt. Ihm geht es in seinem Roman "Kompass" um die Darstellung der kulturellen Faszination, die der Orient über Jahrhunderte in Europa hervorrief, um die Spuren dieser Faszination in der Literatur, Musik und Architektur. Sein Erzähler ist der in Wien lehrende Musikwissenschaftler Franz Ritter, der mit Begeisterung die Einflüsse des Orients auf europäische Komponisten erforscht. Doch eine noch nicht bestätigte ärztliche Diagnose stürzt ihn plötzlich in die Krise. Ritters Verunsicherung fasst Mathias Énard im ersten Satz, einer der für ihn so typischen Perioden, in ein schillerndes Bild:
    "Wir sind zwei Opiumraucher, jeder in seiner Wolke, ohne etwas draußen zu sehen, allein, ohne uns je zu verstehen, wir rauchen, sterbende Gesichter in einem Spiegel, wir sind ein gefrorenes Bild, dem nur die Zeit den Anschein von Bewegung verleiht, ein Schneekristall, der auf ein Raureifknäuel gleitet, dessen komplexes Geflecht niemand wahrnimmt, ich bin dieser kondensierte Wassertropfen an der Fensterscheibe meines Wohnzimmers, eine flüssige Perle, die hinabrinnt und nichts vom Dampf weiß, aus dem sie hervorgeht, und nichts von den Atomen, aus denen sie noch besteht und die bald andere Moleküle bilden werden, andere Gebilde, die Wolken, die heute Abend tief über Wien stehen: Wer weiß, in welchen Nacken dieses Wasser rinnen wird, über welche Haut, auf welchen Gehsteig, zu welchem Fluss, und dieses verschwommene Gesicht auf dem Glas ist nur einen Augenblick lang meines, eine der Millionen Konfigurationen, die sich in der Einbildung formen können."
    Ständig wechselnde Haltung
    Das zersplitterte Ich als ewiges Rätsel, der Endlichkeit ausgesetzt, der Kontingenz. Der Eröffnungssatz des Romans "Kompass" ist damit aber noch nicht zu Ende. Nach einem Gedankenstrich wird Franz Ritters Selbstschau von einer zufälligen Beobachtung gestört. Draußen sieht er den verhassten Nachbarn von oben im Sprühregen spazieren gehen. Dessen Hund, der ständig bellt und scharrt, kann Ritter nur mit lauter Bruckner-Musik ruhigstellen, die aber sein Herrchen auf die Palme treibt. Schon hier, auf der ersten Seite, zeigt sich Mathias Énards Erzählprinzip, das sich in seinem gefeierten Roman "Zone" bewährt hat. Ständig wechselt sein Erzähler die Haltung: mal versteigt er sich in Erinnerungen, dann wieder philosophiert er, beschreibt sein Wohnungsinventar, lanciert ein Zitat, das ihm wichtig ist, et cetera. Er springt durch die Zeiten, von Paris nach Aleppo, von Istanbul nach Teheran. Für den hyperaktiven, von Schlaflosigkeit geplagten Ritter ist das Selbsthilfe: Denn er will nicht an seine Angst denken, an seine möglicherweise tödliche Krankheit. Immer wieder drängt sich so seine große Liebe ins Bewusstsein: die schöne, erfolgreiche jüdische Orientalistin Sarah. Nach langem Schweigen hat die Französin ausgerechnet am Tag des Arztbesuches einen neuen Aufsatz im Sonderdruck geschickt. Doch Ritter will sich nicht wieder selbst in die Falle gehen: in die Falle alter, eigentlich abgehakter Hoffnungen.
    "Mit weit geöffneten Augen, seufzend, und mit leichtem Fieber, muss ich jetzt dennoch versuchen, wieder einzuschlafen und Sarah zu vergessen. Seit langem schon zählt man keine Schafe mehr; "Go to your happy place", sagte man in einer Fernsehserie zu einem Sterbenden, und ich frage mich, was mein happy place sein würde, irgendwo in der Kindheit, im Sommer am Ufer eines Sees im Salzkammergut, in einer Operette von Franz Lehár in Bad Ischl, oder mit meinem Bruder in einem Autodrom im Prater, vielleicht in der Touraine bei meiner Großmutter, einem Landstrich, der uns außerordentlich exotisch und fremd vorkam, ohne es zu sein, in dem die Muttersprache, für die wir uns in Österreich beinahe schämten, plötzlich von der Mehrheit gesprochen wurde: In Ischl war alles Kaiserzeit und Tanz, in der Touraine war alles französisch […] Ich sehe mich noch als Gartenkönig mit einem Stock in der Hand, als Kapitän auf einem Leichter, der unter den Mauern des Schlosses aus Alexandre Dumas´ "Die Dame von Montsoreau" die Loire hinunterfährt, oder auf dem Fahrrad in den Weinbergen von Chinon - bei den Erinnerungen an die Orte meiner Kindheit werde ich ganz wehmütig, vielleicht weil sie so grausam verschwunden sind, ein Vorgeschmack auf mein Verschwinden, die Krankheit und die Angst."
    Orient als "staatenloser Traum auf Arabisch, Persisch und Türkisch"
    Der Roman "Kompass" spielt im gehobenen akademischen Milieu der Selbstverwirklicher. Man trägt seine Kindheit nostalgisch mit sich, aber eigener Nachwuchs spielt keine Rolle. Nur die Hirnarbeit zählt, das Forschen, die Ansammlung von neuem Wissen. Nicht nur für Sarah, die Orientalistin, zeigt der Kompass immer nach Osten. Auch für Franz Ritter erregt das Andere, das Fremde einen eigentümlichen Sog. Er erzählt von seinem ersten Opium-Rausch, der ihm – so wörtlich - "die Pforten der Wahrnehmung öffnete"; von seiner ersten spirituellen Erfahrung jenseits der Musik im besonderen Licht einer Moschee; von der Entdeckung des jüdischen Viertels in Istanbul; von einem mitreißenden Konzert in Teheran. Dann wieder friert er mit anderen Wissenschaftlern im heute zerstörten Palmyra oder beschreibt nicht ohne Sarkasmus, wie sich Archäologen in der Ferne als postkoloniale Machtmenschen aufspielen: mit Luxus-Wohnungen und einheimischen Billig-Domestiken. Zu Ritters persönlichen Orient-Erfahrungen kommen die Erkenntnisse seiner Forschungsarbeit als Musikologe. So stellt er Wolfgang Amadeus Mozart als "Verkörperung des türkischen Klangs" dar oder beschreibt die Reise des "hübschen Mannsbilds" Franz Liszt nach Konstantinopel, wo er 1847 auf seinem eigenen Klavier vor dem Sultan spielte.
    Ich habe […] gezeigt, dass die Revolution in der Musik des 19. und des 20. Jahrhunderts alles dem Orient verdankte, dass es sich nicht um "exotische Formen der Verarbeitung" handelte, wie man früher glaubte, sondern dass der Exotismus einen Sinn hatte, dass er Elemente von außen einführte, aus anderen Welten, dass es sich um eine breite Bewegung handelt, die unter anderen Mozart, Beethoven, Schubert, Liszt, Berlioz, Bizet, Rimski-Korsakov, Debussy, Bartók, Hindemith, Schönberg und Szymanowski umfasst, Hunderte von Komponisten in ganz Europa, über ganz Europa weht der Wind der Andersheit, und all diese großen Männer benutzen, was sie vom Anderen bekommen, um ihr Selbst zu verändern, um es zu bastardisieren, denn das Genie will den Bastard, will Formen von außen verwenden, um die Diktatur des Kirchenliedes und der Harmonie zu brechen.
    Der Orient ist für Franz Ritter ein "staatenloser Traum auf Arabisch, Persisch und Türkisch". Mit jeder Seite weitet sich der Roman "Kompass" mehr zu einem "Who´s who" der Orientbegeisterten Europas vor allem im 19. und 20. Jahrhundert. Die Deutschen sind – neben Franzosen und Engländern – besonders stark vertreten: von dem Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall, der die Märchen aus "Tausendundeiner Nacht" übersetzte und Goethe zu seinem "West-östlichen Diwan" anregte, bis hin zu der Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach, die im berühmten "Hotel Baron" in Aleppo triste Briefe an Klaus Mann schrieb.
    Roman einer schlaflosen Nacht
    Doch wie arrangiert man so viel Wissenswertes aus dem uferlosen Orient-Okzident-Kontext, ohne beim Leser Ermüdungserscheinungen aufkommen zu lassen? "Kompass" ist in Echtzeit konzipiert – als Roman einer schlaflosen Nacht, in der Franz Ritters hyperaktives Hirn die Hochs und Tiefs seines Lebens rekapituliert. Die Spannung hält Mathias Énard mit zwei banalen Kunstgriffen über vierhundert engbedruckte Seiten aufrecht. Zum einen fragt sich der Leser, wie schlimm die Krankheit Ritters wirklich ist, zum anderen, ob seine schwierige Liebe zur schönen Sarah noch eine Chance hat. Für die reisewütige französische Orientalistin ist der Hauptkitt ihrer Beziehung der intellektuelle Austausch. Ihre horizontalen Leidenschaften lebt sie lieber mit einem syrischen Musiker aus, den sie auch heiratet. Und ihr Seelenheil hofft sie bei einem buddhistischen Meister zu finden. Der arme Ritter dagegen lebt ganz die Fixierung. Er ist ein moderner Sisyphus, der seine Liebesbeweise immer wieder vergeblich den Berg seines Begehrens hinaufrollt.
    "Wenn ich mich an jenem Morgen in Palmyra getraut hätte, Sarah zu küssen, statt mich feige umzudrehen, hätte alles anders sein können; ein Kuss verändert manchmal das ganze Leben, das Schicksal beugt sich, nimmt einen anderen Lauf, macht einen Umweg. Schon als ich nach dem Kolloquium von Hainfeld zurück in Tübingen war und mit meiner damaligen Geliebten zusammentraf, bemerkte ich, wie fade mir unsere durchaus tiefe, alltägliche Beziehung neben der kurzen Zeit erschien, die ich mit Sarah erlebt hatte: Die folgenden Monate verbrachte ich damit, an sie zu denken und ihr mehr oder weniger regelmäßig zu schreiben, aber immer heimlich, als hätte ich genau gewusst, dass in diesen wenngleich unschuldigen Briefen eine so mächtige Kraft am Werk war, dass sie meine Beziehung zu Sigrid gefährdete. Wenn mein Liebesleben (sehen wir der Sache ruhig ins Gesicht) ein solcher Fehlschlag ist, dann zweifellos, weil ich, ob bewusst oder nicht, immer einen Platz für Sarah freigehalten habe, und dieses Warten hat mich bis heute daran gehindert, mich vollständig auf eine andere Liebe einzulassen. Alles ist ihre Schuld, ein wehender Rock haut einen Mann sicherer um als ein Taifun, das weiß man ja."
    Ein Roman, der nur Orientalisten, Komparatisten und Musikwissenschaftler begeistert?
    Nicht nur der gekonnt inszenierte Zickzack des Liebesplots mit einer legendären Nacht in Iran als tragischem Höhepunkt zieht den Leser weiter durch die Flut der Anekdoten, Namen und Orte. Es gibt im Roman "Kompass" auch einiges zu schmunzeln: sei es über Franz Ritters Mutterbindung oder seine Begegnung mit einem Hitler-hörigen Museumswärter in Teheran, sei es über den skurrilen opiumsüchtigen Franzosen Faugier, der die Erforschung der Prostitution im Orient mit inbrünstigen Ausflügen in die Praxis vorantreibt. Und doch bleibt die Frage, ob Mathias Énard seinen Roman "Kompass" durch seinen enzyklopädischen Eifer überladen hat. Oder anders ausgedrückt: Ist es ein Roman, der nur Orientalisten, Komparatisten und Musikwissenschaftler begeistern kann?
    In jedem Fall: Ohne verstärktes Interesse an der Musik- und Literaturgeschichte, an den Wechselwirkungen kultureller Einflüsse zwischen Orient und Okzident ist man in diesem Roman falsch. Mehr noch: Die Handlungsarmut gehört zum Konzept. Denn sie ist bei Akademikern wie Franz Ritter, der zu den Stubenhockern zählt, gar nicht anders denkbar. Für ihn ist es schon ein Abenteuer, wenn er sich mit Sarah und einem anderen Forscher in der syrischen Wüste verfährt. Um so erstaunlicher ist da, dass Mathias Énards Prosa nie in akademische Nüchternheit abdriftet. Sie bleibt – bei aller Komplexität der Thematik – immer attraktiv, gut lesbar und dynamisch. Denn er versteht es, reflektierend-statisches und zügiges Erzählen geschickt zu verschränken. Auch gibt es längere Textblöcke, die wie eigene Erzählungen daherkommen: so die Geschichte von zwei Brüdern aus dem Sudan, die von den Franzosen an die Fronten des Ersten Weltkriegs geschickt werden und von denen einer im Halbmondlager bei Berlin stirbt; oder die Begegnung mit Sarahs Doktorvater in Teheran. In einem trunkenen Geständnis erzählt er von der Schuld, die er während der iranischen Revolution Ende der 1970er Jahre auf sich geladen hat. Die Leidenschaft für die schöne Asra trieb ihn zur kaltblütigen Ausnutzung seiner Beziehungen im untergehenden Schah-Regime. Nicht nur in dieser Passage öffnet sich der Blick in den Abgrund der politischen Intrigen, die der Westen im Orient immer wieder angezettelt hat – bis hin zum endlosen Krieg in Syrien.
    "Europa hat den Syrern, Irakern und Ägyptern die Antike unter dem Hintern weggegraben; unsere glorreichen Nationen haben sich kraft ihres Monopols in Wissenschaft und Archäologie des Universellen bemächtigt und mit diesem Raub den kolonisierten Völkern eine Vergangenheit entwendet, die deshalb von ihnen leicht als ortsfremd erlebt wird: Die hirnlosen islamistischen Zerstörer steuern die Abrissbagger in den antiken Stätten umso leichter, als sich ihre abgrundtiefe, ahnungslose Dummheit mit dem mehr oder weniger diffusen Gefühl verbindet, es handele sich bei diesem Kulturerbe um eine seltsame rückwirkende Emanation der fremden Macht."
    Franz Ritter ist nicht der weltabgewandte, altmodische Nostalgiker, als den ihn Sarah gerne hinstellt. Trotz der üblen ärztlichen Vordiagnose plant er schon wieder ein mehrbändiges Werk "Über die verschiedenen Formen von Wahn im Orient". Der letzte Band soll – mit Blick auf die Hinrichtungsvideos des Islamischen Staates - den Titel tragen: "Die Enzyklopädie der Enthaupteten." Ritter will hier die Empörungsarien in den westlichen Medien unterlaufen: durch den schlichten Hinweis, dass die Europäer in ihrer Geschichte nicht sehr weit zurückgehen müssen, um auf vergleichbare Horrorszenarien zu stoßen.
    "Der Alkohol und die Wehmut" spiegelt schriftstellerische Anfänge von Énard
    Titelgebend ist für den Roman übrigens ein Scherzartikel, den Sarah ihm geschenkt hat: ein Kompass, der nicht nach Norden zeigt, sondern nach Osten. Denn auf der magnetischen Nadel ist im rechten Winkel eine zweite befestigt. Der Osten als Obsession – das gilt auch für den Erzähler von Mathias Énards Roman "Der Alkohol und die Wehmut". Hier ist allerdings der russische Osten gemeint. In dem vier Jahre zuvor verfassten Werk, das in Kürze auf Deutsch erscheint, demonstriert er einmal mehr sein erzählerisches Können. Wie in den Romanen "Zone" und "Kompass" fluten die Erinnerungen das Bewusstsein des Erzählers. Er begleitet den Sarg von Wladimir, der erst Liebesrivale und dann Busenfreund war, in die sibirische Heimat. Zeit genug, das Dreiecksdrama mit Jeanne bei einer Flasche Wodka zu rekapitulieren. So wie "Kompass" viel über den Orientalisten Mathias Énard verrät, so spiegelt "Der Alkohol und die Wehmut" offenbar seine schriftstellerischen Anfänge.
    "Als ich [Jeanne] in Paris kennenlernte, waren wir gerade achtzehn, ich war aus meiner Provinz aufgebrochen und hatte den Eindruck, ein Gefängnis verlassen zu haben, aus dem Gulag zurückgekehrt zu sein, aus Magadan oder sonstwoher, und eine Freiheit wiederzuerlangen, die ich in Wirklichkeit nie besessen hatte, außer in den Büchern, in den Büchern, die für einen Jugendlichen sehr viel gefährlicher sind als Waffen, denn sie hatten unmöglich zu befriedigende Wünsche in mich getrieben, Kerouac, Cendrars oder Conrad erfüllten mich mit dem Verlangen nach einem unendlichen Aufbruch, nach unterwegs geschlossenen Freundschaften auf Leben und Tod und nach verbotenen Substanzen, um uns dorthin zu bringen, um diese außergewöhnlichen Momente unterwegs zu teilen, um in der Welt zu verglühen, wir hatten keine Revolution mehr, uns blieben nur die Illusionen der Reise, des Schreibens und der Drogen."
    Herausragende Übersetzungen
    Der Erzähler des Romans "Der Alkohol und die Wehmut" wollte Schriftsteller werden. Aber weder Aufputschmittel noch Wodka haben ihm die nötige Inspiration verschafft. Mathias Énard hingegen hat "die sanfte Droge Erinnerung", wie er sie nennt, beherrschen gelernt. Und die sollte man nicht unterschätzen. Denn sie ist gekoppelt an die Melancholie, die der zitierte persische Philosoph und Arzt Avicenna "die schwarze Galle" nannte. Sinnsuche, Schuld, Scheitern, unglückliche Liebe und Tod – das sind auch in dem schmalen Roman "Der Alkohol und die Wehmut" die zentralen Motive. Denn Mathias Énard ist ein meisterhafter Erzähler existentieller Krisen. Im viel umfangreicheren Roman "Kompass" ist die Seelenschieflage natürlich ungleich komplexer dargestellt. Denn Franz Ritter ist kein junger, gescheiterter Schriftsteller im Vollrausch, sondern ein komplex denkender Bildungsbürger. Für die Übersetzer macht das – abgesehen von der enormen Faktenflut in "Kompass" - keinen Unterschied. Denn Claudia Hamm muss im Alkohol-Roman Mathias Énards Hang zu elegant verschachtelten, rhythmisch genau austarierten Perioden genauso bewältigen wie Holger Fock und Sabine Müller in "Kompass". Beide Übersetzungen sind herausragend.
    Mathias Énards Romane gleichen Fundgruben. Er ist ungeheuer belesen und scheut keinen Querverweis. Das Erstaunliche ist, dass er es schafft, das lancierte Wissen für den Leser gleichsam zu "erotisieren". Auch wenn der Roman "Kompass" - anders als der kurze, hochdramatische Ausflug nach Russland - einen langen Atem und viel Lesekonzentration erfordert: Es lohnt! Denn die grassierenden Klischees über den Orient werden auf literarisch hohem Niveau ad absurdum geführt. Und das ist heute mehr als nötig.
    Mathias Énard: "Kompass", Roman.
    Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
    Hanser Berlin Verlag 2016. 430 Seiten, 25 €.
    Mathias Énard: "Der Alkohol und die Wehmut", Roman.
    Aus dem Französischen von Claudia Hamm.
    Matthes & Seitz, Berlin 2016. 120 Seiten, 16 €.