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Matthias Lilienthal
Neustart in München

Matthias Lilienthal war in den 70er und 80er-Jahren in der Hausbesetzer-Szene unterwegs. Als neuer Intendant der Kammerspiele hat er auf die problematische Wohnsituation in München aufmerksam gemacht - mit dem Projekt der "Shabbyshabby"-Appartments.

Von Susanne Lettenbauer | 06.09.2015
    Ortstermin in der Bauzentrale der Shabbyshabby-Apartments, Münchner Marstallplatz, eine roh zusammengezimmerte Holzkonstruktion, verfüllt mit Altpapierballen, direkt hinter der vornehmen Staatsoper. Passanten schauen verwirrt. Matthias Lilienthal erscheint lässig auf einem rostigen Fahrrad, grüne Turnschuhe, die Haare gewohnt wirr, statt Jeansjacke Regencape:
    "Ich will die Münchner gar nicht schocken, ich will sie lieben und umarmen und sie nicht schocken, ich will sie verführen. "
    Lilienthal grinst. Zweibett-Wohncontainer im Englischen Garten, online nächteweise zu mieten, Altkleideriglu ebenfalls für zwei Personen, Erdhütte samt Dixie-Klo vor Yves Saint Laurent auf der Maximiliansstraße – Lilienthals Statement gegen Münchens wachsende Wohnungsnot:
    "Wenn man jetzt weiß, dass dieser Tage 30. 000 Flüchtlinge nach München noch dazu kommen, dann weiß man, dass dieser vollständig überhitzte Wohnungsmarkt in den nächsten Monaten nochmal überhitzt. "
    Spontan sein, flexibel auf aktuelle Ereignisse reagieren, das wolle er mit den Kammerspielen, sagt der neue Chef. Beispiel Flüchtlinge. Da könne es durchaus zu Spontanprojekten kommen, kündigt Lilienthal an:
    "Ich kann auch übermorgen Christopher Rüping, der Dostojewskis 'Spieler' inszeniert, den kann ich anrufen und sagen, diese gesellschaftliche Diskussion zum Thema Flucht eskaliert so sehr, lass uns ein freies Projekt über Flucht machen. Dann tue ich natürlich nicht das, was ich im Spielzeitheft angekündigt habe. Aber das Stadttheater ist in den schnellen Reaktionsmöglichkeiten flexibler wie die freie Szene."
    Eine Reihe von Künstlern und Mitarbeitern bringt Lilienthal aus seiner Zeit am Hebbel am Ufer in Berlin nach München mit. Gruppen der freien Szene hat er eingeladen: Rimini Protokoll, She She Pop, FUX und Gob Squad. Weg von den Vorgängern Johan Simons und Dieter Dorn, aber auch keine zweite Volksbühne – das hat sich Lilienthal vorgenommen:
    "Mehr so eine Mischung von Frank Baumbauer, Frank Castorf und dem HAU, mit Dieter Dorn habe ich es nicht so. "
    Trotzdem bringt er als erstes Shakespeare auf die Bühne. Klassisches Dorn-Repertoire, 9. Oktober "Der Kaufmann von Venedig" in der Regie von Nicolas Stemann:
    "Dass sich in München hartnäckig das Gerücht hält, ich sei Westberliner Hausbesetzer, habe ich gleich versucht, mit einem Klassiker möglichst schnell mit dem Arsch an die Wand zu kommen. Mich interessiert genau, das Spektrum aufzureißen, von den ShabbyShabby Apartments hin zu 'Kaufmann von Venedig' und ich liebe das eine wie das andere. Hauptstätte bleibt natürlich das große Haus der Kammerspiele, aber gleichzeitig interessiert es mich auch, alle Zuschauer und Schauspieler in Camps zu kippen um zu sehen, was passiert. "
    Lilienthal bringt das Theater gleich zu Beginn raus in die Stadt. Nicht gesittet im Haus an der schicken Maximiliansstrasse, das ab sofort - ähnlich wie im Berliner HAU - Kammer 1, 2 und 3, statt Werkraum, Spielhalle und Schauspielhaus heißt. Die klassischen Inszenierungen überlasse er gern dem Residenztheater von Martin Kusej, ergänzt Münchens Neuer Theaterquerdenker spöttisch:
    "Ich versuche, produktiv damit zu arbeiten, dass ich von bestimmten Sachen einfach keine Ahnung mehr habe, dafür kenne ich die Grundsysteme sowohl vom Stadttheater als auch von der freien Arbeit wie von der internationalen Arbeit und das versuche ich auf eine bestimmte Art und Weise so anarchistisch zusammenzuschmeißen, dass daraus eine Form von Spaß entsteht."
    Schockmomente auf der Bühne, Blut, Urin, Fäkalien, darüber sei er längst hinaus, betont der Neumünchner. Aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen, darum gehe es ihm in den kommenden fünf Jahren.
    "Es geht ja relativ schnell weiter mit dem Flüchtlingswochenende, nach 'Kaufmann von Venedig' geht es ja weiter mit Rabih Mroué mit 'Go to Joy', ein libanesischer Theatermacher, der sich mit dem Münchner Olympiaattentat auseinandersetzt, eine Wiederaufnahme vom HAU 'Peaches. Jesus Christ.' das wäre ja vielleicht meinen Vorgängern fast zu konventionell gewesen ein Andrew Lloyd Webber-Musical zu machen."
    Von Berlin habe er sich längst verabschiedet, kokettiert Lilienthal mit seiner früheren Heimat. Berlin, was sei Berlin schon:
    "Ich war jetzt gerade drei Wochen in Berlin, aber das war für mich wie eine unbekannte Stadt, ich habe ein Jahr in Beirut gelebt, ein Jahr in Mannheim, jetzt fast ein Jahr in München. So wie mich die Münchner fast auf jedem Podium wünschen, gehöre ich hier längst schon dazu."