Donnerstag, 18. April 2024

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Matthias Lohre über Kriegsenkel
Vererbte Seelennot

Traumatische Kriegserlebnisse werden von Generation zu Generation weitergegeben. Über die Belastungen, die die Kriegsenkel tragen müssen, hat der Journalist Matthias Lohre ein Buch geschrieben. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eines der größten Erben des Zweiten Weltkrieges.

Matthias Lohre im Gespräch mit Britta Fecke | 10.07.2018
    Journalist und Buchautor Matthias Lohre
    In seinem Buch "Das Erbe der Kriegsenkel" verarbeitet Matthias Lohre auch persönliche Erfahrungen. (Random House Verlag / René Riis)
    Britta Fecke: Die deutsche Erinnerungskultur, der Umgang mit der Kolonialzeit oder Restitutionsverfahren beschäftigen uns häufig in "Kultur heute". Wie Geschichte vererbt wird, wie wir uns mit der Vergangenheit auseinander setzten: Diesen Fragen gehen wir in unserer Sommerreihe "Erinnern und Vergessen" nach.
    Das kennt jeder: Da ist dieser Duft, der einen unvermittelt an die Sommertage auf Großmutters Dachboden erinnert, oder diese kleine Melodie, die mit einer ungelebten Liebe verknüpft ist. Erinnern ist etwas sehr Individuelles, es kann aber auch politische Dimensionen haben, bei der Frage, wie zum Beispiel an Kriegsverbrechen erinnert wird, wie die Geschichte weitergegeben wird, was verschwiegen und was neu interpretiert wird. Der Journalist und Autor Matthias Lohre beschäftigt sich - angestoßen durch den Unfalltot seines Vaters - mit der Geschichte seiner Familie, den Erlebnissen seiner Eltern im Krieg und wie sich diese Traumata auf ihn als Kriegsenkel ausgewirkt haben.
    Er hat sich aus seiner persönlichen Not heraus mit der deutschen Erinnerungskultur befasst und seine Erfahrung niedergeschrieben in dem Buch "Das Erbe der Kriegsenkel: Was das Schweigen der Eltern mit uns macht".
    Herr Lohre, Sie fangen erst dann an, in den Erinnerungen ihres Vaters zu graben, als sie ihn selbst nicht mehr fragen können. Warum so spät?
    Matthias Lohre: Mein Vater ist bei einem Verkehrsunfall gestorben, Ende 2012, und meine Mutter war schon da zehn Jahre tot. Anfangs dachte ich, dass damit tatsächlich die Geschichte meiner Verbindung zu meinen Eltern vorbei sei, dass sich damit alles erledigt habe. Im Gegenteil habe ich dann lernen müssen, dass das nicht der Fall ist, sondern dass viele Dinge erst aufbrechen, nachdem meine Eltern tot waren. Ich glaube, das hatte damit zu tun, dass ich als Erwachsener gar nicht gewagt hätte, meine Eltern zu fragen, was denn damals war, weil ich diesen ganzen Widerwillen und diese Angst und diese Zugeschnürtheit bei ihnen gespürt habe, und ich glaube, in gewisser Weise war es dann eine Befreiung, dass meine Eltern nicht mehr da waren, damit sie mir ein schlechtes Gewissen machen konnten, wenn ich denn jetzt mal nachfrage, nachhorche und nachforsche.
    Fecke: Aber Erinnern in der zweiten Generation ist ja auch besonders anspruchsvoll und schwierig, wenn man die Generation davor nicht mehr fragen kann.
    Lohre: Das ist einerseits anspruchsvoll und schwierig; andererseits gibt es sehr, sehr viele Informationen, die wir uns noch beschaffen können und die uns ein neues Bild geben können. Denn oft helfen Familiengeschichten, die dann von den Eltern oder Großeltern transportiert werden, nur bedingt. Oft sind es Geschichten, die das Eigentliche gar nicht erzählen.
    Zum Beispiel habe ich auf meiner Suche nach Erinnerungen und nach Geschichten meiner Eltern auch einen Stadthistoriker kennengelernt. Der lebt in der Stadt, in der mein Vater geboren wurde. Der erzählte dann noch ein Beispiel von einem katholischen Pfarrer im Heimatdorf, der sich doch anfangs dagegen gewehrt habe, dass die Nazis den Zugang zur Kirche bekommen, also den Schlüssel. Ich habe anfangs diese Geschichte gar nicht genau verstanden, bis ich gemerkt habe: Natürlich hat es damit zu tun, dass dieser Widerstand des örtlichen Pfarrers bald mal vorbei war.
    Diese Art von Geschichte, die mir dieser Historiker erzählte, war eine Art Deckerinnerung. Die befasste sich nicht mit dem, was wirklich geschah, sondern mit dem, was hätte geschehen sollen, oder was doch schön gewesen wäre, wenn es geschehen wäre. Solche Geschichten habe ich ganz häufig erfahren, dass Geschwister dann auch beim Kaffee oder beim Bier Geschichten erzählen, bei denen es scheinbar um nichts geht und die immer wieder wiederholt werden, und ich habe die als Kind nicht verstanden und später als Erwachsener nicht mehr nachgefragt.
    Forscherdrang und Empathie
    Fecke: Sie haben aber auch gelernt, das zu hören, was nicht gesagt wird, dem Verdrängten auf die Spur zu kommen.
    Lohre: Genau. Das Wichtigste, glaube ich, für diese Suche war eine Verbindung aus Forscherdrang und Empathie. Das heißt: Einerseits musste ich die Fakten suchen, was mir als Journalisten, glaube ich, ganz gut gelang. Ich konnte in Archive gehen, ich konnte Archive beauftragen, ich konnte Bücher lesen zum Thema, um zu verstehen, was denn so in der großen weiten Welt geschah, und auch, was meine Großeltern, die ich nicht mehr erlebt habe, im Zweiten Weltkrieg und davor getan haben.
    Andererseits brachten mir diese Informationen aber nur dann etwas, wenn ich versuchte, mich in diese Menschen hineinzuversetzen. Das heißt nicht, dass ich deren Taten komplett gutheiße, sondern dass ich versuche nachzuvollziehen, welche Motive sie hatten, um zu tun, was sie taten. Zum Beispiel mein Großvater mütterlicherseits trat schon 1932 in die NSDAP ein – etwas, was ich sehr lange nicht wusste, was immer in der Familie beschönigt worden ist und wo oft auch sogar spätere Eintrittsdaten erst nach der Machtübernahme der Nazis 1933 genannt wurden. Allein da schon konnte ich eine Menge erkennen. Dass da die Kinder meines Großvaters das Datum des Eintritts auf die Zeit nach 1933 drehten, das ist mehr als ein Detail. Das hat natürlich damit zu tun, dass man sagte: Damals, 1933, als sich die Partei für neue Mitglieder öffnete, für Millionen neue Mitglieder, da war das etwas ganz anderes und etwas quasi Normales. Hätten die Kinder meines Großvaters anerkennen müssen, dass dieser Mann schon im März 1932 in die Partei eingetreten ist, eine Partei, die in diesem Landstrich Deutschlands gar nicht mal so stark war, dann hätten sie ganz andere Fragen stellen müssen zum Charakter unseres Großvaters.
    Fecke: Das zeigt natürlich auch, dass Erinnern sehr schwierig ist, weil man erinnert sich gerne so, dass es nicht so sehr weh tut, dass es nicht so sehr schmerzt, und man interpretiert ständig wieder neu.
    Lohre: Genau. Man interpretiert ständig neu und – auch da wieder das Stichwort Empathie – es ist natürlich nachvollziehbar. Jedes Kind möchte nicht von schlechten Eltern sein, ganz im Wortsinne. Jedes Kind möchte das Gefühl haben, dass der eigene Vater, die eigene Mutter letztlich gute Menschen waren, die vielleicht unter negativen Einflüssen gelitten haben, aber die im Kern gute Menschen waren. Dieses Bedürfnis ist total nachvollziehbar. Man kann sich selber nicht akzeptieren, wenn man das Gefühl hat, die Eltern seien Monster gewesen oder kalt. Damit kann ein Mensch nicht oder nur sehr schlecht leben.
    Weitergegebene Sprachlosigkeit
    Fecke: Sie schreiben ja auch darüber, wie der Krieg diese Kriegskinder beeinflusst hat und wie sie dann daraufhin später gelebt haben, zum Beispiel mit dem Bedürfnis nach einem gewissen materiellen Wohlstand. Wie hat sich diese Seelennot, die Sie ja nicht erlebt haben – Sie haben ja diesen Krieg vor über 70 Jahren nicht erlebt -, vererbt in Ihre Generation?
    Lohre: Die Seelennot hat sich vererbt durch paradoxerweise die Sprachlosigkeit. Denn meine Eltern haben gar kein Vokabular dafür finden können, für das, was ihnen in ihrer Kindheit zugefügt worden ist. Mein Vater war Jahrgang '31, also bei Kriegsende dreizehneinhalb; meine Mutter war Jahrgang '37, bei Kriegsende gerade acht Jahre alt. Beide kamen aus sogenannten einfachen Verhältnissen und beide blieben auch einfach. Beide hatten Volksschulausbildung. Das heißt, sie haben etwas Schreckliches in ihrer Kindheit erlebt, sie haben Prügel erlebt durch Lehrer, sie haben Luftangriffe erlebt auf das Heimatdorf, aber sie haben nie gelernt, darüber zu reden, weil alle anderen ihnen sagten, das ist doch normal, das haben alle erlebt, zweitens, weil sie gelernt haben, dass man sich zusammenreißen muss, und das haben sie in der Schule gehört, das haben sie in den NS-Organisationen gehört, und sie haben nach dem Krieg auch gehört, dass es natürlich anderen Leuten noch viel schlechter ging, und überhaupt sollte man sich doch immer zusammenreißen. Das galt auch für die Zeit nach dem Krieg und eigentlich ihr ganzes Leben lang.
    Diese Sprachlosigkeit haben sie mir vererbt, denn meine Eltern haben natürlich nicht gesagt: Ich habe etwas Schlimmes erlebt und deshalb musst Du, mein lieber Matthias, jetzt auch leiden. Sondern im Gegenteil haben sie gedacht, es sei das Beste, über das, was sie nicht verstehen konnten, und das, was sie nicht reflektieren konnten, zu schweigen. Aber Kinder spüren ja unglaublich viel. Sie spüren mehr, als sie rational verstehen können, und das kann Kinder schier in den Wahnsinn treiben.
    Zum Beispiel bei mir war das so: Meine Eltern haben nicht vom Krieg erzählt. Ich habe auch nichts von diesen Bombenangriffen auf das Heimatdorf kennengelernt, auf das Haus, in dem ich groß geworden bin. Davon habe ich nichts gehört, bizarrer Weise, und ich glaubte schon, dass meine Eltern mich vielleicht sogar etwas davor schützen wollten. Aber Kinder spüren natürlich die Anspannung in den Gesten eines Menschen und spüren auch die Anspannung, die das ganze Leben begleitet.
    Bei meinen beiden Eltern war es so, dass sie das Gefühl hatten, sie mussten immer, immer, immer ackern, immer arbeiten, und sie durften sich nicht beschweren. Die Schattenseite war natürlich eine komplette emotionale Unerreichbarkeit. Wir Kinder mussten still sein, mussten brav sein, und wenn wir mehr wollten als den materiellen Wohlstand eines westdeutschen Dorfes, dann waren wir böse Kinder, die sich doch nicht zusammengerissen hätten, die doch irgendwie zu viel wollen und die doch alle anderen überfordern und die dadurch böse sind.
    Und so, durch diesen Mechanismus, den man als Kind nicht versteht und den man auch als Erwachsener häufig nicht versteht, haben sich traumatische Erfahrungen in gewisser Weise fortgepflanzt. Das heißt nicht, dass wir die Erfahrung des Krieges bewusst kannten. Wir kannten natürlich nicht die Luftangriffe, aber wir kannten das, was es in den Eltern angerichtet hat, und die Eltern haben es stillschweigend weitergegeben.
    Fecke: Sie haben in Ihrem Buch gesagt, dass es die Aufgabe der Kriegsenkel sei, diese seelischen Trümmer der Eltern zu beseitigen. Wie wollen Sie das bewerkstelligen?
    Lohre: Das will ich dadurch bewerkstelligen, zum Beispiel, dass ich dieses Buch schreibe und damit Leuten zeige, dass man nicht ein Genie sein muss oder selber ein Psychotherapeut, um Dinge zu verstehen, die das eigene Leben geprägt haben. Ich versuche ja, mit diesem Buch auch Leute anzusprechen, die sich vielleicht damit vorher nicht auseinandergesetzt haben, aber die spüren, dass da etwas hakt in ihrem Leben und dass das womöglich mit ihren Eltern und dem Krieg zu tun haben kann.
    Selbstwert nur durch Leistung
    Fecke: Das was Sie mit "es hakt" beschreiben, das haben Sie am Anfang des Buches ganz schön dargestellt, dass Sie das Gefühl haben, Sie müssen immer arbeiten, immer schaffen, und es reicht doch nicht. Würden Sie sagen, das ist auch so ein Erbe der Kriegsenkel?
    Lohre: Auf jeden Fall. Ich glaube, das ist eins der größten Erben des Zweiten Weltkrieges, psychologisch gesehen, für die Deutschen. Das ist ein Erbe, das uns begleitet. Wir glauben, immer leisten zu müssen, weil wir nur gelernt haben, dass wir etwas wert sind, wenn wir leisten. Das war in der Kriegs- und Kriegskindergeneration ja sogar logisch. Deswegen möchte ich das gar nicht kleinreden. Es war sinnvoll zu sagen, wir müssen erst mal ackern, die Trümmer wegräumen nach dem Krieg, wir müssen Wohlstand aufbauen, und wir sehen ja, dass es funktioniert, zu ackern. Das sehen wir ja im Wirtschaftswunder. Nur: Heutzutage, 2018, sind wir natürlich in einer viel komfortableren Situation als Ende der 40er- oder Anfang der 50er-Jahre, und da möchte ich viele Kriegsenkel dazu aufrufen zu sagen, beschäftigt euch mit etwas, was heutzutage euch immer noch plagt, aber wo es heutzutage auch die Möglichkeiten gibt, sich damit auseinanderzusetzen, ohne sich als Versager fühlen zu müssen. Wir haben mehr Möglichkeiten, wir haben mehr Zeit, wir haben mehr Bildung, wir können uns damit auseinandersetzen, damit wir es nicht an unsere Kinder weitervererben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.