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Max Osborns Erinnerungen
Der Denkmalsetzer

20 Jahre lang beschrieb Kunstkritiker Max Osborn das blühende kulturelle Leben Berlins. Viele Anekdoten säumen seinen Lebensweg. Im US-Exil gab Max Osborn dem Drängen seiner Weggefährten nach und veröffentlichte seine Erinnerungen, die nun erstmals im deutschen Sprachraum erscheinen.

Von Tanya Lieske | 27.03.2014
    Max Osborn war zu Gast, wenn der hoch betagte Maler Adolph Menzel in Berlin seine letzten Geburtstage feierte. Auf dem Gabentisch lagen dann, Zitat, "gestickte Pantoffeln, ein neuer Schal, ein paar derbe, für den Beschenkten stets zu große Winterhandschuhe und ein Stoß ungeöffneter Briefe". Der Geist des Biedermeier weht durch diese Aufzählung wie durch die folgende, skurrile Geburtstagsfeier, die Adolph Menzel seinen engsten Freunden bereitet. Der Maler, der sich noch mit Friedrich dem Großen abgab, wird hier liebevoll "Der Alte Menzel" genannt. Er muss damals, um das Jahr 1900 herum, ein Fossil, ein kruder Kundschafter einer alten Zeit gewesen sein.
    "Es war das letzte Dezennium von Menzels Leben in dem ich, sehr jung, ihm persönlich nahe getreten bin. Es war für mich ein großes Geschenk, das mich heute wie damals mit dankbarer Ehrfurcht erfüllt. Von dem seltsamen Mann, der so brummig und unausstehlich sein konnte, habe ich nur Wohlwollen und freundschaftliche Güte erfahren."
    Es gehört zu den Verdiensten dieser bemerkenswerten Sammlung von Erinnerungen, Anekdoten und Begegnungen, dass Max Osborn deren Zeitlichkeit immer mit thematisiert. Der 1870 in Köln geborene Osborn war einer der berühmtesten Kunstkritiker seiner Jahre. Über Heidelberg und Münster war er nach Berlin gekommen, arbeitete dort nach seiner Promotion vier Jahrzehnte lang als Kunst- und Theaterredakteur.
    In seinen Erinnerungen an die Jahre von 1890 bis 1933 macht Osborn das Generationsgefälle zwischen sich selbst und den Menschen, über die er schreibt, zum Gegenstand. Den impressionistischen Malern Renoir und Pissaro begegnet Osborn in Paris, als diese schon alte Männer sind. Er trägt die Germanisten Erich Schmidt und Herman Grimm zu Grabe, schaut zu, wie der etwa gleich alte Max Slevogt und auch Gerhard Hauptmann berühmt werden, lässt mit der blutjungen Tänzerin Grete Wiesenthal den Nachwuchs durch das Bild huschen. Auf rund 270 Seiten entsteht so "Der bunte Spiegel": Das Abbild einer Zeit, in der man an die Kontinuität von Kunst und künstlerischem Schaffen noch glaubte. Aus den Betrachtungen Max Osborns spricht der Glaube an die Überzeitlichkeit der Kunst, an die Weitergabe des Staffelstabs von einer Generation zur nächsten. Er schreibt:
    "Oh, gewiss, auch jene Epoche war kein ideales Zeitalter, das gibt es nicht für uns Erdgeborene. Es hafteten ihr genugsam Fehler, Irrungen und mephistophelische Züge an. Doch sie besaß wenigstens eine Vorstellung von den Bedingungen eines aufsteigenden Weges. Das ist schon sehr viel. Wer heute angesichts der Begebenheiten des letzten Jahrdutzend sich mit Sympathie in die Vergangenheit versenkt, ist darum noch lange kein philisterhafter, herzensträger laudator temporis acti. Auch das Versunkene und Verklungene kann eine indirekte Aktualität annehmen."
    1945, als diese Zeilen entstanden, lebte Max Osborn schon im Exil. Über Paris, 1938, und Südfrankreich, 1941, war er schließlich nach New York gelangt, wo er regelmäßig für die Exilzeitung "Aufbau" schrieb. Auf das Drängen seiner Freunde hin veröffentlichte Osborn mit 75 Jahren seine Erinnerungen an das alte Berlin. Es sind Erinnerungen, die sich als Zeitzeugen camouflieren. In der Art, in der Max Osborn sein Sujet auf ein größeres Ganzes hin organisiert, wird der Geist der Epoche, über die er schreibt, lebendig.
    "Den 'Statthalter Goethes auf Erden' nannten wir als Studenten der Berliner Universität voll ehrfürchtiger Liebe den Sohn Wilhelms und Neffen Jakob Grimms, wenn er in den Straßen des Tiergartenviertels an uns vorüberschritt, die hohe Greisengestalt wie die eines Fürsten emporgehoben, das schöne, von weißem Haar und Bart dicht umrahmte Antlitz stolz und ernst, und immer ein wenig erstaunt, der Umwelt zugewandt, die klaren blauen Augen, die von den herabgezogenen Brauen antiker Jupiter-Büsten geschützt waren, in die Ferne gerichtet."
    Max Osborn nimmt seine Leser mit zurück in eine Hochzeit der Wissenschaft und der Kultur. In der jungen Reichshauptstadt Berlin waren die Wege zwischen Vorlesung, Atelier, Stammlokal und Konzertsaal kurz, der Austausch über das Gehörte und Erlebte war rege. Der aus einer großbürgerlichen Kölner Familie stammende Max Osborn gehörte zu den privilegierten Berlinern. Er war überall zu Gast, und er gehörte zu jenen Stadtschwärmern, die die Nacht zum Tage machten. In ihren Erinnerungen an ihren Großvater schreibt Ruth Weyl:
    "Die Großeltern gehörten zur Berliner Kulturgesellschaft, sie kannten tout Berlin und waren mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten befreundet: Thomas Mann, Arthur Eloesser, Max Reinhardt, Carl Zuckmayer, Eugen Spiro, Max Liebermann, um nur sie zu nennen. Sie gingen viel aus, im Grunde begann der Tag nach dem Abendessen."
    Wer dieses Buch liest, wird sich aber auch daran erinnern, dass Max Osborns Zeit eine Männerzeit war. Eine Zeit der Bündnisse, der Zirkel, der Stammtische, der Gruppierungen und Sezessionen. Frauen, sofern sie nicht Schauspielerin oder Tänzerin sind oder gerade Modell stehen, gehören selten dazu. Öfter schließen sie die Tür wie hier im Haushalt Adolph Menzels:
    "Die Damen der Familie, die Schwester Menzels, die eigentliche Regentin des Haushalts und Frau Krigar-Menzel, eine liebenswürdige Norwegerin, zogen sich diskret zurück. Was jetzt kam, war eine Angelegenheit der Männer."
    Selten geht die Anekdote, auf die Max Osborns Texte meist zusteuern, zulasten seiner Freunde. Das macht sie sympathisch. Max Liebermann soll gesagt haben: "Det wär' mir zu teuer", wenn er gefragt wurde, warum er nicht seine eigenen Werke an der Wand seines Ateliers hängen hat. Max Klinger soll laut Osborn wütende Mahnbriefe an seinen Galeristen in Berlin geschrieben, die russische Tänzerin Anna Pawlowa einen Aschenbecher in einen Wandspiegel des Hotels Esplanade geworfen haben. Ihnen allen bleibt der Autor gewogen. Nur einer kommt schlechter weg, der Maler Lesser Ury. Max Osborn erzählt, dass Ury mit Tausendmarkscheinen in den Taschen durch Berlin stapfte und einen Teil seines Werks verbrannte vor den Augen eines Käufers, den er zu unverschämt fand. Dies ist einer der seltenen Fälle, in denen Max Osborn sich zu einer negativ gefärbten Charakterstudie verleiten lässt:
    "Er war ein beispiellos schwieriger, ungeselliger, misstrauischer, immer von argwöhnischen, ehrgeizigen und eifersüchtigen Gedanken gehetzter Mensch. Sein Dasein war ein typisches Künstlerschicksal, nur von hundert Teufeln ins Grausige und dazu noch ins Groteske verhext."
    Viele der großen Künstler, über die Max Osborn schreibt, waren Juden. Er bemerkt dies, macht es aber selten zum Thema. Hin und wieder taucht eine Sentenz auf, eine rückwirkende Vorausdeutung, die den Holocaust betrifft. Auf der langen Strecke kehrt Max Osborn dem grausigen Schatten, den der Nationalsozialismus über die Kunst und den Humanismus seiner Zeit geworfen hat, den Rücken zu. Das ist umso bemerkenswerter, als Max Osborns Erinnerungen nicht nur im Exil, sondern an seinem eigenen Lebensabend entstanden sind. Ein Jahr nach ihrer Veröffentlichung starb er in New York, das war 1946 im Alter von 76 Jahren. Max Osborn muss gewusst haben, dass er seine Heimat und Berlin nie wieder sehen wird. In einem Brief an den Autor, der in diesem Buch abgedruckt ist, schreibt Thomas Mann:
    "Dass es so schlecht ausging, dass ein Strom von Blut, Hass und Elend das alles verschlang, dass ein Geschlecht auf die Szene stampfte, welches den Begriff der Kultur, der jener Epoche so teuer war, als ein bürgerliches Hindernis auf dem Wege zu seiner Revolution empfand und den Revolver dagegen zückte – kann den Glanz nicht trüben an das, was längst 'gute alte Zeit' geworden ist."
    Auch wenn sich über diesen Satz sicher streiten lässt, er trifft ins Herz dessen, was Max Osborn beabsichtigt haben muss: Der reichen Kultur seiner Zeit ein unverrückbares Denkmal setzen. Seine Zeit sollte über den Terror triumphieren. Dies ist ihm in glanzvoller Weise gelungen. Dem Verleger Thomas B. Schumann ist es zu verdanken, dass er diesen Erinnerungsschatz gehoben und erstmals in Deutschland verlegt hat.
    Max Osborn: "Der bunte Spiegel. Erinnerungen 1890 bis 1933".
    Edition Memoria 275 Seiten gebunden, 29,80 Euro