Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Maxim Gorki Theater Berlin
Wanja und Astrow von echten Hühnern begleitet

In Nurkan Erpulats Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" lauern überall "halb gare Einfälle" und alles sei extrem uneindeutig. Als braves Stadttheater gewinne Maxim Gorkis feine kleine Bühne keinen Blumentopf, meint unser Kritiker Michael Laages.

Von Michael Laages | 03.05.2015
    Das Maxim Gorki Theater, aufgenommen am 29.10.2012 in Berlin.
    Das Maxim Gorki Theater in Berlin (picture-alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Das ist die gute Nachricht – Tschechows "Onkel Wanja" hat Nurkan Erpulat nicht - wie dem ‚Kirschgarten' desselben Autors zu Beginn der neuen Gorki-Zeit - ein neckisch-postmigrantisches Hütchen übergestülpt; und die steile Behauptung im Programmheft, dieser Tschechow sei von heute aus betrachtet ein "Migrations-Experte", ist an sehr langen Haaren herbei gezogen; heiße Luft und Spökenkiekerei ... Nein - Tschechow ist Tschechow, sonst gar nichts; und nur die türkischen Chöre zwischen den Akten und gegen Ende markieren eine andere Geschichte.
    Der guten Nachricht folgt natürlich sofort und wie immer die weniger gute, und die steckt schon in der guten mit drin – denn je deutlicher sich die neue, multikulturelle Gorki-Bühne auch als ganz normales Stadttheater positionieren will, desto schwerer fällt es, die offenkundigen Defizite des Hauses wohlwollend zu ignorieren. Vor allem die unübersehbare Unausgewogenheit im Ensemble – dem Regisseur steht zwar mit Tim Porath als Titelfigur einer der wirklich erstaunlichen Darsteller im deutschsprachigen Theater zur Verfügung: weil der nämlich eine Technik entwickelt hat, die ihn zetern und wüten lässt wie das HB-Männchen selig. Hier putzt er den verrenteten Professor runter, der gerade dabei ist, sein, Wanjas Leben zu zerstören...
    "Dieser Mann liest und schreibt seit 25 Jahren über Kunst, ohne von Kunst irgendeine Ahnung zu haben. Also 25 Jahre käut der fremde Gedanken wider, über Naturalismus, Realismus und alles andere; 25 Jahre drischt der leeres Stroh! Aber mit was für einer Überheblichkeit, was für einer Prätention ... So. Und nun ist er im Ruhestand, und da stellt sich plötzlich heraus: Keine Menschenseele kennt ihn! Verstehste?"
    Der daueralkoholisierte und umweltschützerische Astrow
    Ihm gegenüber sitzt mit Dimitrij Schaad als umweltschützerischem und daueralkoholisiertem Arzt Astrow auch ein schillernd-kluger Star des Ensembles; und noch Mareike Beykirch als Wanjas Nichte Sonja folgt einer halbwegs überzeugenden Idee - abendfüllend lässt sie die müden Schultern hängen, um im Finale die tränenrührenden Jenseits-Fantasien von der Erlösung nach einem völlig sinnlosen Leben wie aus Kindermund zu erfinden.
    Aber schon für diese Figur erfindet die Inszenierung eine Szene, die es bei Tschechow nicht gibt: lebenslang, sagt diese Aufführung, sei die Tochter vom lieblosen Vater, dem verrenteten Kunstprofessor, mit Puppen beschenkt und so ruhig gestellt worden. Auch eine Spielzeug-Pistole gab's mal ...
    Diesem Professor, von Falilou Seck gespielt und schon sehr am Rand der Fabel, wird die Vision vom alternden Schauspieler übergestülpt, der sich des eigenen Erfolges nicht mehr sicher sein kann – auch so ein Einfall ohne Folgen, wie der mit den Puppen. Erpulat merkt also durchaus, wie schwach einige Figuren dastehen in der stark, das heißt: auf zwei pausenlose Stunden gekürzten Aufführung, deshalb greift er in die Trickkiste – und selbst das sturzbetrunkene Zeter-Duett von Wanja und Astrow wird von zwei echten Hühnern begleitet. Eins gackert sogar mit.
    Szenen aus dem Landleben halt, echt Tschechow ... aber stand nicht zu Beginn ein Klavier auf der Bühne, die ersten Töne aber kamen vom Tonband? Sagte das nicht: Vorsicht, hier gibt's gleich keinen Realismus? Sprach dafür nicht auch Alissa Kolbusch Rund-Horizont aus künstlichem Wald mit Türen drin? Wie passt das zu den Hühnern? Und warum muss die Randfigur Telegin, das pockennarbige Helferlein auf Wanjas und Sonjas Gut, hier eine junge Frau sein, die sich einen voluminösen Bart ums Kinn hängt? Klar – weil die Schauspielerin den Abend am Klavier begleiten soll.
    Überall lauern diese halb garen Einfälle – aber der Abend hat keine Idee. Nicht für all die gescheiterten Lebensentwürfe, auch nicht für den radikalen Umbruch, den der Professor nicht nur sich selbst, sondern all diesen Losern verordnen will, indem er das Gut, den Humus aller Lethargie, verkaufen will – und dafür von Wanja fast erschossen wird. Schießen nämlich kann der arme Kauz auch nicht...
    Über dem Kunst-Wald schwebt im Finale (und per Video) eine riesige Eule, ob bedrohlich oder nur so, ist nicht zu sagen. Wie der Vogel bleibt alles extrem uneindeutig in dieser Inszenierung – der "postmigrantische" Ruhm mag vielleicht vergänglich sein; als braves Stadttheater aber gewinnt Maxim Gorkis feine kleine Bühne erst recht keinen Blumentopf.