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Maylis de Kerangal: "Eine Welt in den Händen"
Die Jagd nach der absoluten Illusion

Nach zwei abgebrochenen Studiengängen beginnt die 20-jährige Pariserin Paula Karst in Brüssel eine Ausbildung zur Dekorationsmalerin. Ihre Skepsis wandelt sich in Faszination. Paula lernt die Trompe-l'œil-Technik, die vorgaukelt, was gar nicht ist – und über sie die Abgründe und Wonnen der Liebe.

Von Christoph Vormweg | 21.06.2019
Die Schriftstellerin Maylis de Kerangal und ihr Roman "Eine Welt in den Händen"
Maylis de Kerangal erzählt in ihrem neuen Roman von Wimmerwuchs und Maserknollen (Buchcover Suhrkamp Verlag / Autorenportrait Catherine Hélie (c) Éditions Gallimard)
Was bedeutet "Wimmerwuchs"? Was ist eine "Maserknolle"? Wie mischt man Farben wie "Küss-mich-Liebchen-Puderrosa" oder "Gänsedreck-Grau"? Maylis de Kerangal hat ein Faible für die Poesie der Fachsprachen, die Berufe mit sich bringen. In "Eine Welt in den Händen" taucht sie ab in das Universum der Dekorationsmaler – und zwar von Grund auf. Ihre Protagonistin, die 20-jährige Paula Karst, wollte nach ihrem abgebrochenen Jura-Studium eigentlich Künstlerin werden. Doch dafür reicht ihr Talent nicht. Also begnügt sie sich mit einer sechsmonatigen Ausbildung in Brüssel.
Zum ersten Mal verlässt sie ihr Kinderzimmer in der Pariser Rue de Paradis und zieht in eine Zweier-WG mit Jonas, einem anderen Schüler des Instituts für Dekorationsmalerei. Erst fühlt sich Paula Karst überfordert und will wieder einmal alles hinwerfen. Doch dann fängt sie Feuer für ihr neues Metier.
"In der Tasche ihres Kittels hat sie ein kleines schwarzes Notizbuch und einen Bleistift, sie hortet die Wörter wie einen Kriegsschatz, sie legt einen Vorrat an und ahnt verwirrt die ungeheure Fülle – so als griffe eine Hand blind in eine Tasche, ohne je den Grund zu fühlen –, sie notiert die Namen der Bäume und der Steine, der Wurzeln und der Böden, der Pigmente und Pulver, der Pollen und Stäube und lernt zu unterscheiden, zu spezifizieren und dann diese Wörter für sich selbst zu benutzen, so dass dieses Büchlein allmählich zu einem Halt und Kompass wird: je mehr die Welt ins Gleiten gerät, sich verdoppelt, neu entsteht, je mehr das Werk der Illusion sich vollzieht, desto mehr findet Paula in der Sprache ihre Bezugspunkte, ihre Berührungspunkte mit der Realität."
Der schöne Schein
Paula Karst wird zur Jägerin der – so wörtlich - "absoluten Illusion". Denn die erlernte "Trompe-l'œil-Technik" täuscht dem Auge vor, was gar nicht ist. Dekorationsmaler liefern also den schönen Schein: ob sie die Wände einer Eingangshalle in den Farben eines seltenen Marmors bemalen oder historische Kulissen für Filme hinzaubern. Die zwanzig Brüsseler Studenten versuchen sich eine ausgefeilte Technik zuzulegen, über die die eigentlichen Künstler heute nur selten verfügen. Damit wollen sie das schlechte Image der Dekorationsmaler aufbessern: dass sie nur Kopisten seien, nur Bluffer, nur Fälscher ohne eigene Imaginationskraft.
Der Roman "Eine Welt in den Händen" besticht zum einen durch die schillernde Detailfülle, mit der Maylis de Kerangal die schulischen und ersten beruflichen Erfahrungen von Paula Karst schildert, zum anderen durch eine in ihren Ambivalenzen ungemein subtile Beschreibung des langsamen Ablösungsprozesses von einem behüteten Zuhause. Zum Abschied von den Eltern kommt das tastende, oft widersprüchliche Erlernen von Lust und Liebe. Denn mit der Ausbildung in Brüssel endet nach sechs hyperaktiven Monaten auch die Wohngemeinschaft mit dem attraktiven, hochbegabten Jonas:
"Zwar hatten sie Vertrauen, zweifelten nicht daran, füreinander etwas Besonderes, auf der Welt Einzigartiges, Geliebtes geworden zu sein, doch sie nahmen auch zur Kenntnis, dass etwas zu Ende ging: die Zeit des Institut de peinture und der Wohnung in der Rue de Parme, diese Zeit ihrer Jugend und ihrer Ausbildung, diese Zeit war um. Paula schloss die Augen und hämmerte sich diesen Satz in den Kopf, sie mochte seine Härte, so als erlaubte ihr der Schmerz, das Ganze zu verlängern, noch ein paar Minuten zu gewinnen. Sie mussten jetzt das Atelier hinter sich lassen, wie man die Kindheit hinter sich lässt, sie mussten wieder nach draußen, zurück in eine Welt, die sie verlassen hatten, ohne es zu merken. Alles war für immer verändert."
Paula Karst kehrt mit ihrem Diplom nicht an die Kunsthochschule zurück, wie ihre Eltern gehofft haben, sondern wählt den Alltag der modernen Arbeitsnomaden: mit seinen ständigen Umzügen, dem sexuellen Frust, den finanziellen Engpässen.
Wanderjahre einer Dekorationsmalerin
Neue Orte bringen neue Liebschaften, neue Erfahrungen, nach Jahren auch besser dotierte Aufträge. Damit gibt Maylis de Kerangal ihrem Roman einen permanenten Grundton der existentiellen Suche. Mehr noch: Die Orte können sich sehen lassen. So streifen wir mit Paula Karst über das Gelände der Cinecittà, der legendären Traumfabrik vor den Toren Roms mit ihren verfallenden Kulissen aus den großen Filmen von Fellini & Co. Oder wir entdecken mit ihr in einem Pariser Stadtpalais hinter einer Gipswand ein altes Fresko. Und – als Höhepunkt - begleiten wir sie zu einem monströsen Projekt, das Dutzende Dekorationsmaler in den Bann zieht. Sie sollen die Höhlen von Lascaux mit ihren prähistorischen Wandmalereien kopieren, weil diese durch die Flut der Touristen gefährdet sind. Und immer schwebt die gleiche Frage über allem: Wo endet die Nachahmung, wo beginnt die Kunst?
Maylis de Kerangals Roman "Eine Welt in den Händen" ist auch deshalb so mitreißend, weil ihre Prosa es ist: dieses Wechselspiel aus fein verschachtelten, nuancenreichen Parataxen und kurzen, pointierten Sätzen. Je präziser sie schreibt, desto mehr wird unsere Vorstellungskraft entfesselt. Die bravouröse, im Sprachrhythmus genau austarierte Übersetzung von Andrea Spingler ist jedenfalls eine permanente Verlockung, sich diesen Roman laut vorzulesen.
Maylis de Kerangal: "Eine Welt in den Händen"
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp Verlag, Berlin. 270 Seiten, 22 Euro.