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Mazedonisch-serbische Grenze
"Die Situation verschärft sich"

Der Ort Presevo an der mazedonisch-serbischen Grenze ist ein Nadelöhr für Flüchtlinge, die über die Balkan-Route nach Europa kommen. Bis zu 5.000 von ihnen passieren die Grenze dort jeden Tag, sagte Christian Vietz von der Hilfsorganisation Humedica im DLF. Viele der Geflohenen kämen unterkühlt und krank dort an, wollten aber trotzdem sofort weiter - denn der Druck auf sie nehme zu.

Christian Vietz im Gespräch mit Thielko Grieß | 16.10.2015
    Flüchtlinge an der serbisch-mazedonischen Grenze in Preševo (Serbien)
    Flüchtlinge an der serbisch-mazedonischen Grenze in Preševo (Serbien) (Imago)
    Der Wintereinbruch drohe die Lage zu verschärfen, so Vietz. Viele der Geflohnen kämen nur leicht bekleidet an, beispielsweise mit Sandalen oder sogar barfuß. Die meisten von ihnen haben laut Vietz eine lange Strecke hinter sich: Sie kommen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder dem Iran.
    Humedica arbeitet an der Grenze unter anderem mit Ärzte ohne Grenzen, dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR sowie den serbischen Behörden zusammen, die eine große Hilfe seien, so Vietz. Die größte Herausforderung für die Helfer vor Ort sei die Ungewissheit, wie die Lage sich entwickele. So schwanke die Zahl der ankommenden Flüchtlinge täglich.

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Jetzt richten wir unseren Blick auf die Grenze zwischen Serbien und Mazedonien, genau auf den kleinen Ort Presevo. Dort ist seit einigen Tagen ein kleines Team der Hilfsorganisation Humedica tätig, dessen Koordinator Christian Vietz heißt und ist, und der ist jetzt zugeschaltet. Guten Morgen, Herr Vietz.
    Christian Vietz: Guten Morgen, Herr Grieß. Ich grüße Sie.
    Grieß: Warum sind Sie in Presevo?
    Vietz: Wir sind in Presevo, um medizinische Hilfe zu leisten. Wir haben am Tag ungefähr drei bis 5000 Leute, die durchkommen: Familien, ältere Leute teilweise, Kinder ohne Begleitung. Wir sind vor Ort, um dort zu sein, wo die Not ist.
    Grieß: Reicht die Hilfe?
    Vietz: Sie schwankt. Die Herausforderung vor Ort ist wirklich die Ungewissheit. Das ist zum einen damit verbunden, dass die Anzahl der Flüchtlinge, die durchkommt, schwankt. Zum anderen ist es auch so, dass es immer abhängig ist von der Wetterlage. Es ist so: Die Organisationen vor Ort arbeiten eng zusammen. Wir haben die UNHCR, die UN-Flüchtlingsorganisation, wir haben Ärzte ohne Grenzen und natürlich die serbische Regierung hier, die alle zusammenarbeiten, damit den Menschen geholfen wird.
    Grieß: Ich habe gerade noch mal nachgeschaut, wie warm oder wie kalt es bei Ihnen gerade ist: immerhin zweistellige Temperaturen, nicht ganz so kalt wie in Deutschland. Aber es ist vermutlich kälter geworden in der letzten Zeit. Wie sehr macht das und auch der Regen, wie sehr macht das Flüchtlingen und Ihrer Arbeit zu schaffen?
    Vietz: In der Tat ist es kälter geworden. Die Flüchtlinge kommen meist sehr leicht bekleidet, teilweise auch nur mit Sandalen oder barfuß. Vor Ort haben wir viel mit Unterkühlungen zu tun, mit Menschen, die zittern, die dann auch nicht mehr ansprechbar sind. Wir können Hilfe leisten, indem wir zum einen wirklich ganz banale Dinge tun, indem wir Tee ausschänken. Wir haben Rettungsdecken, die wir geben. Wir wärmen die Menschen. Das sind Dinge, die wir tun können. Und dann geht es bis hin, dass Menschen eine Lungenentzündung haben oder ernsthafte Probleme, wo wir dann auch helfen können.
    Grieß: Wenn die Flüchtlinge ankommen, haben sie ja schon viele hundert, viele tausend Kilometer hinter sich. Sind Sie dann die ersten Hilfskräfte, die den Flüchtlingen begegnen?
    Vietz: Auf dieser ganzen Strecke gibt es verschiedene Stationen, an denen natürlich versucht wird, diesen Menschen zu helfen. Es ist in Presevo deswegen auch besonders, weil es in Südserbien der einzige Ort ist, an dem sie registriert werden. Das heißt, auf der Westbalkan-Route ist das wirklich dieses Nadelöhr, wo jeder Flüchtling durchkommt, und hier vor Ort zu sein und gerade auch direkt an dem Punkt zu sein, bevor die in die Registrierung reingehen, dadurch wissen wir, dass wir dort eine Anlaufstelle sein können, um möglichst viel Hilfe für möglichst viele Menschen anbieten zu können.
    Dankbarkeit für gute Zusammenarbeit der Organisationen vor Ort
    Grieß: Wir hören ganz oft hier in der Berichterstattung in Deutschland, Herr Vietz, dass viele Flüchtlinge gar kein Interesse haben, sich zu registrieren, solange sie nicht Deutschland erreicht haben. Warum registriert man sich denn als Flüchtling in Serbien schon?
    Vietz: Einen der Gründe haben Sie bereits angesprochen. Das ist die medizinische Hilfe. Mit einem Flüchtlingsstatus in Serbien hat man dann auch die Möglichkeit, medizinische Hilfe von Serbien anzunehmen. Es ist aber auch eine Sache, dass in dem Registrierungs-Camp die Möglichkeit ist, dass zum Beispiel Familienzusammenführungen da sind und zum Teil auch der Flüchtlingsstatus anerkannt wird.
    Grieß: Bei den Bedingungen, die Sie schildern - Sie haben von durchnässten, auch zitternden Menschen gesprochen -, ist es Zufall, dass noch keiner ums Leben gekommen ist?
    Vietz: Von Zufall würde ich nicht sprechen. Es ist so, dass wir dankbar dafür sind, dass wie gesagt die verschiedenen Organisationen doch so gut zusammenarbeiten und wir das zum Glück bis dato hier in Presevo nicht hatten.
    Grieß: Worauf ich hinaus wollte ist ein wenig der Blick in die Zukunft. Der Winter kommt. Was kommt da auf Sie zu?
    Vietz: Ja, wir merken es jetzt schon. Die Temperaturen sinken. Momentan haben wir glücklicherweise keinen Regen. Den hatten wir letzte Woche. Die Situation verschärft sich auf jeden Fall, mit dem Wintereinbruch dann auf jeden Fall. Momentan, wenn die Leute in der Schlange stehen, um sich registrieren zu lassen, ist auch keine Überdachung da. Die Leute stehen im Freien. Spätestens wenn es dann kälter wird, wird auch die Situation sich für die Flüchtlinge verschärfen.
    Grieß: Woher kommen die Menschen vor allem, vom Balkan, aus Syrien oder aus welchen Ländern? Das spielt ja hier in Deutschland eine ganz wichtige Rolle, ob es sich um Menschen handelt, die in ihrer Heimat verfolgt werden und deshalb hier Asyl bekommen, oder ob es sogenannte, wie man es in der politischen Diskussion häufig nennt, Wirtschaftsflüchtlinge sind.
    Vietz: Es ist so: Wir haben hier zumeist Leute, die wirklich über eine lange Strecke gekommen sind. Das heißt Syrien. Wir haben teilweise Leute aus Afghanistan, Irak, Iran dabei. Wenn ich diese Menschen sehe, wenn ich gerade vor zwei Stunden dort eine ältere Dame sehe, wenn ich ältere Männer dort sehe, dann weiß ich, dass diese Menschen nicht fliehen wegen wirtschaftlichen Gründen, sondern dass sie ihr Zuhause, ihre Heimat zurückgelassen haben und sich wegen Krieg und wegen Verfolgung auf diesen Weg gemacht haben.
    "Teilweise halten Leute kaum für Tee oder Hilfe an"
    Grieß: Gibt es die Sorge unter den Flüchtlingen, so eine Art Torschlusspanik, jetzt vor dem Winter und bevor es sich die Deutschen womöglich dann doch irgendwann noch mal anders überlegen mit ihren offenen Grenzen schnell nach Mitteleuropa zu gelangen?
    Vietz: Dass es einen gewissen, ich sage mal, Druck gibt, weiterzugehen, den sehen wir auf jeden Fall. Teilweise ist es so, dass Leute kaum für Tee anhalten oder für Hilfe, weil sie wissen, dass es weitergeht. Das hat auf jeden Fall auch was mit dem Winter zu tun und auch damit, dass man merkt, dass einfach eine generelle Bewegung dort ist.
    Grieß: Sind die serbischen Behörden Ihnen eine Hilfe?
    Vietz: Auf jeden Fall. Wir versuchen, eng natürlich dort zusammenzuarbeiten. Es gibt Kooperationen auf verschiedenen Levels, wo natürlich alle versuchen, dass diese Situation möglichst gut und möglichst auch schnell für die Flüchtlinge vorbei geht.
    Grieß: Herr Vietz, Sie und Ihr Team haben in der Nacht gearbeitet. Sie hatten die Nachtschicht heute in der Nacht auf Freitag. Wie lange haben Sie jetzt Pause und wann müssen Sie wieder ran?
    Vietz: Wir haben die Möglichkeit, mit MSF, also Ärzte ohne Grenzen, eng zusammenzuarbeiten. Wir übernehmen dabei die Nachtschicht, das heißt arbeiten von zehn bis sechs Uhr. Letzte Nacht hatten wir über 30 Patienten, wie gesagt auch eine Lungenentzündung dabei. Heute über den Tag kann das Team sich etwas ausruhen. Heute Abend um zehn Uhr geht es dann wieder weiter und dann wieder bis morgen Früh sechs Uhr.
    Grieß: Christian Vietz, Koordinator eines Hilfsteams der Hilfsorganisation Humedica in Presevo an der mazedonisch-serbischen Grenze. Herr Vietz, danke für Ihre Eindrücke und eine gute Pause und alles Gute für Ihre Arbeit.
    Vietz: Ich danke Ihnen, Herr Grieß, und alles Gute.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.