Freitag, 29. März 2024

Archiv

Medienethik
Aus Menschen werden Massen

Warum erregt die Höhlenrettung thailändischer Kinder mehr Aufmerksamkeit bei Medien und Publikum als Flüchtlingskinder, die im Mittelmeer ums Überleben kämpfen? Die Theologin Johanna Haberer macht dafür eine entpersonalisierte Sprache verantwortlich - und nimmt jeden einzelnen in die Pflicht.

Johanna Haberer im Gespräch mit Monika Dittrich | 12.07.2018
    In der Kategorie "General News" gewann der russische Fotograf Sergey Ponomarev den World Press Photo Award für ein Bild eines Flüchtlingsbootes vor den griechischen Inseln.
    Flüchtlinge vor der griechischen Küste. (dpa/World Press Photo/Sergey Ponomarev)
    Monika Dittrich: Frau Haberer, Medien in der ganzen Welt haben über die glückliche Rettung der Jungen aus der thailändischen Höhle berichtet. Zugleich gibt es im Netz, aber auch in den klassischen Medien eine Debatte darüber, warum über die Kinder in Thailand so viel berichtet wurde und über die ertrinkenden Flüchtlingskinder im Mittelmeer so wenig. Deshalb die Frage an Sie als Theologin und Medienethikerin: Darf man das überhaupt miteinander vergleichen? Darf man das Leid der einen gegen das der anderen aufrechnen?
    Johanna Haberer: Nein, das darf man nicht miteinander vergleichen. Man kann ja auch nicht Leben gegen Leben aufrechnen, aber man kann natürlich aus einer medienethischen und einer medienwissenschaftlichen Perspektive die beiden Fälle vergleichen. Und da gibt es ganz entscheidende Unterschiede, die auch für unsere Wahrnehmung und unser Wahrnehmen darüber, wie wir wahrnehmen, wichtig sind. Also diese Geschichte von den Kindern in der Höhle hat ein Potential von einem Hollywoodfilm. Wir reden in der Kommunikationswissenschaft von der sogenannten Nachrichtenwertstheorie.
    Johanna Haberer - evangelische Theologin und Professorin für christliche Publizistik
    Johanna Haberer - evangelische Theologin und Professorin für christliche Publizistik (Christian Topp)
    Also, wann berichten die Medien? Wann ist die Schwelle überschritten, dass man sagt, das ist ein Weltsthema? Und da ist natürlich die große Sensation und es ist eine Katastrophe passiert und es ist eine hohe Relevanz, weil es sind Kinder. Jeder Mensch hat das Gefühl, Kinder sind ihm nahe. Also hat man eigentlich alle Relevanzkriterien, wie wir so schön sagen, erfüllt, bei dieser Geschichte in Thailand: Das sind junge Leute und Kinder, die im Dunkeln sitzen. Es ist zur Zeit der WM, und es ist eine Fußballmannschaft. Sie sitzen auch noch mystisch im Berg der schlafenden Frau. "Bild" berichtet, es sei ein religiöser Ort und er wollte mit seinen Fußballkindern dort beten. Man hat Helden, man hat die Experten aus der ganzen Welt. Die arbeiten auch noch ohne Geld und am Schluss gibt es die Erlösung und ein Happy End. Ein Wunder, das kaum zu glauben ist. Also, Sie haben eigentlich das ganze Potential für ein ganz großes Drama mit einem guten Ende. Es ist eine Geschichte, die sich kein Medium entgehen lassen sollte. Und es ist eine Geschichte, bei der wir alle mitfiebern.
    Das andere ist natürlich, was ist dann der Unterschied zu den Flüchtlingskindern und den Flüchtlingsfamilien? Das ist eine Geschichte, die ohne Ende seit 15 Jahren erzählt wird: Wir sehen die Boote, wir sehen die Menschen anlanden. Ich erinnere mich an Farbige, die sich in Spanien vor 15 Jahren ans Ufer gerettet haben und zwischen den Touristen angekommen sind. Das war damals eine Sensation in den Medien und seitdem wird immer und immer wieder berichtet. Sozusagen ein Long-Seller mit immer den gleichen Bildern. Und das ist entpersonalisiert. Die Menschen werden mit der Zeit zu keinen Personen, sie werden einfach Menge. Und das ist eine ganz große Gefahr in unserer Wahrnehmung, dass wir sie als Menge wahrnehmen.
    Und dazu kommt dann, dass sich bei uns - in den europäischen Ländern - der Wind gedreht hat. Das kann man ganz deutlich sehen an den verschiedenen Sprachfiguren, die sich verändert haben. Wir sprechen jetzt nicht mehr von den Flüchtenden oder den Gefolterten oder den Armen. Sondern wir sprechen von Asyltouristen und wir sprechen von, ja, die ganz Rechte, die Identitären sprechen von der Invasion. Und wir haben sozusagen eine Sprache, die sie vermasst, diese Menschen und die sie zu - beinahe so wie man von Ameisen spricht, wo man sie völlig entpersonalisiert. Und das finde ich eigentlich eine sehr - ethisch gesehen, sprachethisch gesehen und von dem humanistischen Standpunkt her - eine gefährliche Entwicklung.
    "Von den Politikern eine andere Sprache erzwingen"
    Dittrich: Das heißt, wir fühlen als Hörer, Leser, Zuschauer eher mit den thailändischen Jungen gerade, weil die auch nichts von uns wollen, weil die uns auch nicht gefährlich werden können. Die wollen nicht nach Europa oder Deutschland kommen.
    Haberer: Ja. Das ist, wenn man es auf die kurze Formel bringt, habe ich irgendwo gelesen: Die Jungs, wenn die rauskommen, wollen sie gebratenes Schweinefleisch und die Menschen, die zu uns kommen, wollen einfach einen Pass und die Staatsbürgerschaft. Und dann wollen ihre Familien nachkommen. Das ist schon mal, wenn man so will, eine andere Form von Vorstellung oder Forderung, wer da kommt. Das entbindet uns aber nicht davon, dass wir das, was uns in der Wahrnehmung oktoryiert wird, diese Reflexe, sag ich jetzt, diese Abwehrreflexe, durch die Gewöhnung, durch die immer gleichen Bilder, durch die sprachlichen Negativsetzungen. Da müssen wir und da müssen auch die Medien, da müssen die Kirchen, da müssen die Christen dagegen halten und sagen: Das sind Einzelpersonen und wir müssen nach den Reflexen die Reflektion setzen. Wir müssen anders sprechen. Und wir müssen auch eine andere Sprache erzwingen von unseren Politikern.
    "Auf den Zynismus nicht einlassen"
    Dittrich: Viele Hörer erinnern sich vielleicht noch an das Bild eines zweijährigen syrischen Flüchtlingsjungen, das war im Herbst 2015, als dieses Bild große Aufmerksamkeit erregte. Der Junge war im Mittelmeer ertrunken und an die türkische Küste angeschwemmt worden. Man sah das Kind mit dem roten T-Shirt, wie es mit verdrehtem Arm auf dem Bauch im Sand liegt. Dieses Bild hat damals weltweit für großes Entsetzen und für Mitgefühl auch gesorgt. Müssen es solche Bilder sein, Bilder von ertrunkenen Kindern, um die Öffentlichkeit überhaupt zu berühren und zu bewegen?
    Haberer: Die Bilder gibt es ja. Wir haben ja Bilder neulich gesehen, von der lybischen Küste, wo ganze Menschengruppen angeschwemmt wurden, unter ihnen Kinder oder Babys. Diese Bilder gibt es. Und vielleicht ist es jetzt rein wahrnehmungstheoretisch noch eindrucksvoller, wenn ein Kind, wie Aylan Kurdi da liegt. Er hat ja auch einen Namen, die anderen haben alle keinen Namen. Und ich glaube, wir müssen uns an dieser Stelle dazu verabreden in der Gesellschaft, dass wir auch diese Form von Massenwahrnehmung und Wahrnehmungsgewohnheit, das wir uns auf diesen Zynismus nicht einlassen. Es ist ganz schwer, als Journalisten diese Menschen zu personalisieren. Meist sind sie verpixelt, wenn man versucht, es zu tun, dann muss man sie verpixeln und ihre Geschichten zu erzählen, schon dann ist es nicht mehr persönlich. Der Mensch hat keinen Namen und ich sehe sein Gesicht nicht.
    "Überforderung und Schuldgefühl"
    Dittrich: Das heißt, wir brauchen die Bilder von den Toten, um ihre Geschichten persönlich erzählen zu können, weil es uns sonst nicht berührt?
    Haberer: Ich vermute, dass das möglicherweise zu einer anderen Art von anderer Wahrnehmung führen würde, ja.
    Dittrich: Hilft die mediale Aufmerksamkeit den Opfern denn?
    Haberer: Bisher habe ich den Eindruck, dass es eher das Gegenteil bewirkt. Dass die Vorstellung, es strömen immer mehr Menschen mit ihren roten T-Shirts und orangenen Jacken ein bei den Europäern - und auch den Medien inzwischen - so eine Mischung aus Überforderung und Schuldgefühl und daraus dann so eine gewisse Abwehr hervorruft. Und das ist zu spüren je länger dieses Thema der Menschen auf dem Mittelmeer uns - es ist ja nicht medial unterrepräsentiert. Wir sehen diese Bilder ja jeden Tag, was auch eine Gefahr hat, weil wir uns - wie gesagt - daran gewöhnen. Die Lösung ... es ist ein fast unlösbares Problem, auch für die Medien. Weil die Lösung wäre eine gewisse Personalisierung, aber die ist nicht möglich, weil die Menschen dann kriminalisiert werden oder in dem Moment, wo ein Schlepper erfährt, dass die Geschichte erzählt wird und Namen genannt werden, es diesen Menschen schlecht ergeht. Also es ist für Journalisten dieses zu tun, was medial eigentlich nötig wäre, nämlich den Menschen Namen und Geschichten zu geben.
    "Kleine Katzen - das täuscht uns"
    Dittrich: Als Journalisten hören wir immer wieder den Vorwurf - warum berichtet Ihr denn über diese oder jene Geschichte - es gibt doch wirklich wichtigere Themen, größeres Leid, schlimmere Katastrophen. Gibt es so etwas wie eine zulässige Hierarchisierung des Leids?
    Haberer: Ja, ich glaube schon. Man muss ja als Journalist auswählen. Heute hat die "Bild"-Zeitung eine ganze Seite einer überfahrenen Entenfamilie gewidmet. Und an der Stelle finde ich schon, dass da in der Auswahl der Themen schon andere Themen geben müsste. Aber wir sind Pawlowsche Tiere, wir reagieren nach Reiz-Reaktionsmuster und gucken uns kleine Katzen an und gucken uns kleine Enten an.
    Und das müssen wir in userer Selbstwahrnehmung, in unserer Selbstreflexion müssen wir das uns klarmachen, dass das uns täuscht, in der Wichtigkeit auch von politischen Themen, von Themen, die wirklich für viele Menschen langfristig wichtig sind. Die nehmen, wie Klima und diese Migrationskatastophen, die müssen wir uns im Einzelnen antun und ich erwarte auch, dann von den Medien, die wir Bürger bezahlen, dass sie uns das zumuten, auch wenn ihnen das viele Bürger nicht danken.
    Dittrich: Inwiefern zumuten? Können Sie das beschreiben? Also wie sollten sich Journalisten in diesen Debatten verhalten?
    Haberer: Sie müssen uns durch Dauerpräsentation dieser Art von Themen, müssen Sie den Bürgern, denen diese Themen weil unangenehm ein bisschen zum Hals heraus hängen, müssen Sie ihnen diese Themen immer wieder klein aufbereiten. Ich glaube, wir sind Personen, die Unterhaltungsreflexe abfahren. Und dazu gehört jetzt auch ein bisschen diese thailändische Fußballmannschaft. Das ist jetzt erledigt, die Geschichte ist erzählt und dann wird vielleicht noch in zwei Wochen erzählt, wie es denen geht. Das große Leid der Leute, die zu uns kommen, das wird uns zu viel mit der Zeit. Und da müssen, glaube ich, da müssen die Medien und auf jeden Fall die, die wir Bürger bezahlen, die öffentlich-rechtlichen, von denen muss ich erwarten, dass ich sie bei diesem Thema herausfordern und immer wieder diese Geschichte erzählen. Wenn möglich, möglichst kleinteilig, möglichst intim, möglichst personal.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.