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Medizin
Die Untoten

Rund 3.000 Mal wird in deutschen Kliniken jährlich der Hirntod diagnostiziert - ein eher seltenes Ereignis. Nur wenige Ärzte können eine gewisse Routine bei diesem Urteil entwickeln, Fehler sind deshalb nicht unwahrscheinlich. Eine Reihe von Medizinern fordert jetzt strengere Regeln.

Von Thomas Liesen | 14.12.2014
Ein EKG-Monitor zeigt eine Nulllinie an.
Der Hirntod ist weit weg von jenem Zustand, den Pathologen als Tod definieren. (picture-alliance/ dpa - Uwe Zucchi)
Er scheint zu schlafen. Die Haut hat eine warme, rosige Farbe. Die Stirn glänzt ein wenig, als würde er leicht schwitzen. Doch sein Herzschlag ist ruhig und regelmäßig. Der junge Mann, nennen wir ihn Philipp, liegt schon seit Tagen hier. Ein klein wenig scheint der Kopf über dem einen Ohr dicker und über dem Scheitel kreuzen sich zwei lange Pflasterbänder. Es war ein Unfall: Der Schädel über Philipps rechtem Ohr wurde eingedrückt. Das Gehirn schwoll stark an, quetschte sich förmlich im Schädelknochen ein.
"Unter der Kopfhaut hier ist die Schädelkalotte entfernt. Sie sehen, der Schädel erscheint geschwollen, wenn man darauf tastet, man merkt, das ist hart, als wäre der Schädel nicht entfernt. Das ist einfach die Härte des geschwollenen Gehirns."
Sein behandelnder Arzt Martin Herpers weiß: Durch die Schwellung drückt Philipps Gehirn nun seine eigene Blut- und Sauerstoffzufuhr ab. Und zwar komplett.
"Es ist ja so, dass durch diese Druckerhöhung nicht denkbar ist, dass von diesem zerebralen Durchblutungsstillstand irgendwelche Ecken des Gehirns von diesem Durchblutungsstillstand nicht betroffen sind."
Philipps Gehirn ist zerstört. Damit ist er vermutlich tot. Genauer: hirntot.
Martin Herpers informiert jetzt Philipps Eltern über seinen Verdacht. Sie warten schon seit Stunden auf neue Nachrichten.
"Letztlich ist dann eine Situation entstanden, dass wir uns nicht weiter gegen die Natur stemmen konnten und es letztlich zum Eintritt des Hirntodes gekommen ist, soweit wir es nach allen Indizien, die wir sonst am Bett erheben können, nachvollziehen konnten."
Keine Diagnose in der Medizin hat weitreichendere Folgen. Sie sollte eigentlich absolut verlässlich sein.
"Die Hirntod-Diagnostik ist im Prinzip die sicherste Diagnose, die es gibt, das wird ja auch immer so gesagt. Aber auch nur dann, wenn diejenigen, die es machen, auch Ahnung davon haben und wissen, wie es geht."
"Das ist in meinen Augen eine Katastrophe"
Gundolf Gubernatis, Transplantationschirurg, ehemals Medizinische Hochschule Hannover. Rund 3.000 Mal wird in deutschen Kliniken jährlich der Hirntod diagnostiziert. Ein eher seltenes Ereignis, selbst große Kliniken haben kaum mehr als zehn Fälle pro Jahr. Nur wenige Ärzte können eine gewisse Routine bei der Diagnose entwickeln und so passieren Fehler. Anfang dieses Jahres wurden mehrere Fälle bekannt, bei denen Mitarbeiter der Deutschen Stiftung Organtransplantation DSO eine fehlerhafte Hirntoddiagnose entdeckten. Details gibt die DSO nicht bekannt. Bestätigt ist jedoch, dass bei einem Säugling Untersuchungszeiten nicht korrekt eingehalten wurden. Im schlimmsten Fall war das Kind daher gar nicht tot, als ihm Organe entnommen wurden.
"Sie müssen weder Facharzt sein, noch jemals im Leben eine Hirntod-Diagnostik selbst unter Anleitung beziehungsweise zugesehen haben und Sie müssen auch nicht verpflichtend die Richtlinien der Bundesärztekammer überhaupt kennen. Das ist in meinen Augen eine Katastrophe, deswegen haben wir mit mehreren Ärzten einen Brandbrief sozusagen an die Ärztekammer geschickt Anfang des Jahres, weil die Probleme seit vielen vielen Jahren bekannt sind."
Wann ist ein Mensch wirklich tot?
Es geht um weit mehr als die Qualifikation der entscheidenden Ärzte. Zur Diskussion stehen auch die Kriterien für den Hirntod
"Den meisten ist nicht so klar: Wenn der Hirntod fehlerhaft bestimmt ist, dann ist man zwar todgeweiht, aber man erlebt unter Umständen den vollen Operationsschmerz."
Eine Reihe von Ärzten fordern jetzt strengere Regeln. Andere stellen die Frage: Ist ein Todeskonzept überhaupt länger haltbar, das nur aufgrund eines geschädigten Gehirns aus einem lebenden Menschen eine Leiche macht?
Sprecher: Es ist mittlerweile kurz vor 22 Uhr. Zwei Stunden ist es her, dass Martin Herpers mit Philipps Eltern über den möglichen Hirntod ihres Sohnes gesprochen hat.
Schwester: "39."
Herpers: "Ist doch opti".
Schwester: "422."
Herpers: "Die Lunge ist gesund."
Philipps Blutwerte sind bestens, sämtliche Organe funktionieren gut. Seit einer Woche liegt der 18-Jährige auf der Intensivstation des Universitätsklinikums Freiburg. Er war auf dem Heimweg, als seine S-Bahn auf einem Bahnübergang mit einem Lkw kollidierte. Er erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und liegt seitdem im Koma. Das Gehirn ist tot, vermutet sein Arzt. Falls sich der Verdacht bestätigt, wird aus dem Patienten, den die Ärzte retten wollten, ein potenzieller Organspender, dessen Herz, Lunge oder Leber andere retten soll.
"Wir machen jetzt die Untersuchung, die Lichtreaktion der Pupillen."
Martin Herpers hebt nacheinander eines von Philipps Augenlidern und strahlt mit einer Taschenlampe in die Augen.
"Sie sehen, dass die Pupillen leicht entrundet sind, dass sich bereits eine Linsentrübung eingestellt hat und die Lichtrektion der Pupillen ist erloschen."
Tatsächlich scheint Philipps Blick wie durch einen leichten Schleier verhüllt. Martin Herpers nimmt nun ein Papiertaschentuch zur Hand. Er nähert sich Philipps immer noch geöffneten Augen und reibt mit der Taschentuchkante mitten über deren Hornhaut.
"Das ist normalerweise sehr empfindlich und wir sehen, dass der Kornealreflex ausgefallen ist."
Philipps Augenlider müssten sich unwillkürlich schließen. Doch nichts passiert, nicht das leiseste Zucken. Ein Indiz dafür, dass sein Hirnstamm zerstört ist, der älteste und tief liegendste Teil des menschlichen Gehirns. Doch zunächst unterbricht Herpers die Untersuchung. Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer muss die Hirntod-Diagnose von zwei Ärzten durchgeführt werden. Ein Kollege aus dem Hause ist bereits angefragt, aber noch heißt es warten.

Das Modell eines menschlichen Gehirns
Das Modell eines menschlichen Gehirns (dpa / picture alliance / Weigel)
Um den Hirntod korrekt festzustellen, würde es reichen, den Ausfall des Hirnstamms nachzuweisen und damit das Erlöschen von Reflexen. Diese rein körperliche, sogenannte klinische Untersuchung muss nach zwölf Stunden wiederholt werden, dann ist der Hirntod juristisch korrekt nachgewiesen. Der Tod des Großhirns muss nicht eigens geprüft werden. Eine Zusatzuntersuchung mit EEG zur Messung eventueller noch vorhandener Hirnströme? Nicht notwendig. Eine Prüfung, ob das Gehirn nicht doch noch durchblutet ist, zum Beispiel per Ultraschall? Ebenfalls nicht notwendig.
"Man muss eben überhaupt keine technische Untersuchung heran ziehen. Sondern lediglich mit der rein körperlichen Untersuchung ist der Hirntod bestimmbar. Das ist mir zu wenig. Ich will, dass zumindest eine technisch-apparative Untersuchung herangezogen wird und das ist auch eine der Forderungen, die wir an die Bundesärztekammer gestellt haben."
Die Bundesärztekammer hat dem Transplantationsmediziner Gundolf Gubernatis bis heute nicht geantwortet. Auf Anfrage teilt sie mit, zurzeit würden die Richtlinien überarbeitet, Details nennt man nicht. Es scheint jedoch fraglich, dass es zu einer Verschärfung kommt. Denn nicht alle Experten halten zum Beispiel den Einsatz von Apparaten für zwingend notwendig.
"Nein, das gibt kein höheres Maß an Sicherheit. Eine ordentliche sorgfältige klinische Untersuchung, die in adäquatem Abstand durchgeführt ist, hat die gleiche Sicherheit wie eine klinische Untersuchung und die Durchführung einer Zusatzuntersuchung."
Cornelius Weiller, Direktor der neurologischen Universitätsklinik Freiburg. Voraussetzung für dieses hohe Maß an Sicherheit, so Weiller, sei natürlich, dass die klinische Untersuchung fehlerfrei durchgeführt werde. Doch Studien zeigen: Es gibt typische Fallen bei der Diagnostik. Das räumt auch Cornelius Weiller ein:
"Es gibt einige Probleme in der Hirntodbestimmung, das eine sind zum Beispiel die Medikamentenspiegel, es gibt eine Tendenz, sogenannte Hirn-protektive Maßnahmen zu machen, indem man sehr hohe Betäubungsmittel einsetzt."
Besonders Schädel-Hirn-Verletzte bekommen häufig hohe Dosen, das soll molekulare Zerstörungsprozesse im traumatisierten Gehirn stoppen. Selbstmordversuche werden ebenfalls regelmäßig mit großen Mengen an Betäubungsmitteln unternommen. In all diesen Fällen könnten die Medikamente Hirntod-ähnliche Symptome vortäuschen. Denn sie lähmen die Nervenaktivität, lassen also jene Reflexe verschwinden, auf die die körperliche Untersuchung gerade abzielt. Hinzu kommt: Eine toxikologische Untersuchung auf Medikamentenvergiftungen ist bei der Hirntoddiagnostik nicht zwingend vorgeschrieben.
Wie gravierend sich diese Sicherheitslücken auswirken können, zeigt folgender Fall. Er geschah in den USA und wurde Anfang 2012 in der Fachzeitschrift "Clinical Toxicology" veröffentlicht. Ein Auszug aus der Fallbeschreibung der Autoren:
Eine 40-jährige Frau wurde leblos von ihrer Familie gefunden. Die Patientin zeigte keine Hirnstammreflexe mehr, wurde künstlich beatmet und auf der Intensivstation versorgt, bis sie schließlich für hirntot erklärt wurde. Am fünften Tag ihres Klinikaufenthalts – man hatte bereits mit den Vorbereitungen für die Organentnahme begonnen – bewegte sich die Frau. Sie erwachte nach und nach und wurde ohne neurologische Folgeschäden in eine andere Klinik überwiesen.
Die Ärzte hatten nicht erkannt, dass die Patientin sich mit einem muskel-entspannenden Mittel vergiftet hatte. Diagnosegeräte hätten helfen können. Tatsache ist aber auch: Sie bieten ebenfalls keine hundertprozentige Sicherheit. Denn jede einzelne Methode hat Stärken und Schwächen.
Beispiel: EEG
Aufzeichnung elektrischer Gehirnströme in Form von typischen gezackten Linien. Bei Hirntoten entsteht die sprichwörtliche Nulllinie.
Vorteil: lange etabliertes Verfahren, Geräte in jeder Klinik vorhanden.
Nachteil: Narkosemittel und Unterkühlungen verursachen ebenfalls eine Nulllinie. EEG erfasst keine Aktivität tief liegender Hirnteile. Verlässlichkeit daher nur 80 Prozent
Beispiel: akustisch evozierte Potentiale
Messung von Nervensignalen aus dem Gehirn, während dem Patienten über Kopfhörer akustische Klicks eingespielt werden. Bei Hirntod kommt es zum Ausfall typischer Nervenantworten.
Vorteil: Sensitiv auch bei hohen Dosen von Betäubungsmitteln.
Nachteil: Hoher apparativer Aufwand. Hohe Qualifikation des Bedieners erforderlich. Nicht bei allen Formen von Hirnverletzungen aussagekräftig.
Beispiel: zerebrale Angiographie
Ähnlich wie bei einer Herzkatheter-Untersuchung wird Kontrastmittel in Hirnarterien gespritzt und per Röntgen der Blutfluss gemessen. Ein vollständiger Stopp gilt als sicheres Hirntod-Kriterium.
Vorteil: sensitiv auch bei hohen Dosen von Betäubungsmitteln.
Nachteil: hoher Aufwand, Verlegung des Patienten in radiologische Abteilung notwendig.
Eine Kombination aus körperlicher Untersuchung und mindestens einer apparativen Methode sei aus Sicherheitsgründen die Minimalanforderung, meinen kritische Ärzte. Manche Transplantationsmediziner befürchten dagegen, dass hohe Hürden bei der Hirntoddiagnose kleine Kliniken davon abhalten könnten, solche Diagnosen überhaupt noch zu stellen. Und dass sich der Zeitaufwand für die Hirntot-Feststellung erhöhe. Das ginge dann auf Kosten der Organqualität.
Endlich, nach einer Stunde Wartezeit, trifft - wie in den Richtlinien für die Hirntod-Diagnose gefordert - der zweite Arzt ein. Martin Herpers erklärt ihm kurz den bisherigen Stand:
"Pupillen entrundet, Katharakt, okulocephaler Reflex....Ok."
"Ein normalerweise kaum zu tolerierender Schmerz"
Dann geht es weiter mit der Suche nach Anzeichen einer Restaktivität in Philipps Gehirn.
"Im Rahmen der Schmerzreiz-Überprüfung im Gesicht durchstechen wir mit einer Injektionsnadel die Nasenscheidewand. Das ist ein normalerweise kaum zu tolerierender Schmerz, der normalerweise zu einem Blutdruckanstieg, einer Herzfrequenzbeschleunigung und einer massiven Erweiterung der Pupillen führt, was in diesem Fall jetzt ausbleibt."
Es fließt ein wenig Blut aus Philipps Nase. Doch er regt sich nicht. Der Neurologe hat noch lange nicht alle klinischen Tests abgeschlossen. Auch ein EEG will er noch machen, denn dann erspart er sich laut Richtlinien die Wiederholung der Tests nach einer Wartezeit von zwölf Stunden. Doch schon jetzt deutet für ihn alles auf Hirntod.
"In diesem Fall ist einfach ausgeschlossen, dass da noch irgendwas im EEG zur Darstellung kommt."
"Es ist sicher so, dass diese Menschen nie wieder erwachen. Aber wir können nicht sicher sein, dass alles im Hirn abgestorben ist, das weiß man, das ist so in der medizinischen Fachliteratur diskutiert, das muss man fair diskutieren und wissen."
Tanja Krones, leitende Ärztin für klinische Ethik, Unispital Zürich. Die Hirntod-Diagnostik wandelt auf einem sehr schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Keine der Diagnose-Methoden bietet hundertprozentige Sicherheit. Und der Hirntod ist weit weg von jenem Zustand, den Pathologen als Tod definieren. Denn ohne Totenflecken, Leichenstarre oder bereits einsetzende Fäulnis wird in Deutschland außerhalb von Intensivstationen kein Totenschein ausgestellt. Doch ein solcher Toter liefert keine brauchbaren Organe. Der Hirntod ist näher am Leben. Und viele Kritiker meinen: zu nah.
"Auf dem Organspendeausweis steht ja drauf: Ich bin einverstanden, nach meinem Tode Organe zu spenden, und das ist ja ganz klar eine einlullende Formulierung. Wir wissen genau, dass sich Menschen, wenn sie hören 'nach meinem Tode', sich jedenfalls etwas ganz anderes vorstellen, als das, was bei einem Hirntoten gegeben ist."
Jürgen In der Schmitten, Allgemeinmediziner, Universität Düsseldorf. Tatsächlich galten bis 1968 Menschen, die heute für tot erklärt werden, noch als Lebende. Doch in jenem Jahr trat ein Komitee der Harvard-Universität zusammen, kurz nach der weltweit ersten erfolgreichen Herztransplantation. Die Wissenschaftler des Komitees hatten die Idee, die bis dahin als lebende, wenn auch im Koma liegenden und künstlich beatmeten Menschen auf Intensivstationen für tot zu erklären. Und sie definierten die meisten der bis heute geltenden Hirntod-Kriterien in einer Stellungnahme.
"Und die hat auf eine ganz frappierende Weise sehr deutlich gemacht, warum man ein neues Todeskriterium braucht. Da steht nämlich drin: Wir brauchen ein neues Todeskriterium aus zwei Gründen. Erstens haben wir ein Problem damit, die Geräte abzuschalten bei Leuten, die mit zerstörtem Gehirn längere Zeit am Leben erhalten werden. Und zweitens wollen wir gerne deren Organe weiter verpflanzen und das geht mit dem alten Todeskriterium nicht, da sind die ja noch lebendig."
Der "neue" Tod ist ein rein neurologischer Tod und garantiert gute Organqualität. Denn er verknüpft Leben ausschließlich mit dem Gehirn.
"Ich sehe das eindeutig so, dass mit dem Tod des Hirns auch das Individuum gestorben ist, ganz sicher."
Das Gehirn ist der Sitz des Bewusstseins, davon ist der Neurologe Cornelius Weiler überzeugt. Ist es tot, fehle alles, was einen Menschen im Wesentlichen ausmacht.
"Damit hat man aber die wissenschaftstheoretische Schwierigkeit, dass das Bewusstsein ja trotz allem ein subjektiver Zustand ist, den man nicht messen kann. Und man kommt zudem in die Bredouille mit dieser Begründung, weil ja auch andere Menschen ein andauernd nicht vorhandenes Bewusstsein haben, wie zum Beispiel die Patienten im sogenannten Wachkoma, die haben auch keine Bewusstheit auf dieser Großhirnebene und die müsste man dann ja auch für tot erklären",
meint dagegen die Ethikerin Tanja Krones. Kritiker wie sie werden von Hirntod-Verfechtern häufig mit einem weiteren Argument konfrontiert: Ein Hirntoter sterbe ohnehin bald den "richtigen", also den Herztod. Doch wegweisende Untersuchungen eines US-Forschers haben schon 1998 gezeigt, dass Hirntote, denen die Organe nicht entnommen wurden, bis zu 14 Jahre mit selbstständig schlagendem Herzen weiter an der Beatmungsmaschine "leben". Einer der Gründe, warum für Jürgen In der Schmitten der Hirntod als Konzept nicht mehr haltbar ist.
"Es ist so, dass hier ganz bewusst ein Etikettenschwindel durchgeführt wird, um ein gewisses Unwohlsein, nämlich die Entnahme lebenswichtiger Organe, beim Sterbenden zu übertünchen und den Menschen damit die Entscheidung zum Organspendeausweis leichter zu machen. Man hat das durchgezogen all die Jahre und das Riesenproblem sich selbst geschaffen, dass es in der Bevölkerung ein tief sitzendes Misstrauen gegen die gesamte Organtransplantation und auch gegen die Todesfeststellung gibt."
"Jetzt als letzter Akt in der Hirnstammuntersuchung kommt der sogenannte Apnoe-Test - und das machen wir jetzt."
Was Martin Herpers nun vorbereitet, soll nach den Richtlinien der Ärztekammer erst gegen Ende der Hirntod-Diagnose erfolgen. Denn der Test ist eine große Belastung für den Patienten. Ihm wird die Beatmung abgeschaltet. Wenn Philipp auch nach zehn Minuten nicht von selbst anfängt, zu atmen, gilt sein Hirnstamm als tot.
Eine Frau betrachtet eine Magnetresonanztomographie-Aufnahme (MRT) eines menschlichen Gehirns.
Eine Magnetresonanztomographie-Aufnahme (MRT) eines menschlichen Gehirns (AFP / Foto: Miguel Medina )
"Wir müssen den Flow einstellen. Wo sind die Alarmgrenzen?"
Ein Pfleger kommt hinzu. Herpers bittet ihn, Kevins Kopf anzuheben, denn er muss ein wenig umgelagert werden.
"Mal nicht erschrecken, Kopf ein bisschen hoch!"
Der Pfleger spricht mit Philipp.
"Jetzt zieht es mal, nicht erschrecken!"
"Für mich ist das einfach eine Sache der Pietät. Wir wissen nicht, was sich im Unterbewusstsein abspielt und das ist ein normaler Vorgang. Das gehört sich einfach so."
Selbst wenn der Hirntod ordnungsgemäß festgestellt ist: Sogar erfahrenes klinisches Personal hat nach Umfragen Probleme, Hirntote wirklich als Tote anzusehen. Antje Zenz, Intensivkrankenschwester in einer Transplantationsklinik:
"Wenn die Hirntod-Diagnostik durchgeführt wird, ist der Patient den medizinischen Richtlinien nach tot, aber dennoch sieht er ja aus wie vorher. Das ist das Problem an der Sache, dass er sich äußerlich nicht ändert."
Obwohl schon fast 50 Jahre lang der Hirntod in vielen Ländern als Tod des Menschen definiert ist, untermauert mit wissenschaftlichen Begründungen und Theorien: In den Augen des Klinikpersonals sind Hirntote offenbar keine Leichen, sondern Sterbende. Allein schon weil sie keineswegs immer so regungslos daliegen, wie man es von Toten eigentlich erwartet.
"Das sind wirklich Armbewegungen, Rumpfbewegungen, Beinbewegungen, auch das stellt sich eigentlich als Schwierigkeit dar für Pflegende, auch wenn man dieses medizinische und fachliche Wissen hat und es treten diese Bewegungen auf, dann führt das zur Verunsicherung, ganz klar. Also ich erschrecke mich auch heute noch, auch wenn ich es weiß, erschrecke ich mich jedes Mal."
Antje Zenz weiß aus vielen Gesprächen, was ihre Kollegen denken:
"Ich glaube, für viele Pflegende ist der Patient so lange...der wird so lange als lebend angesehen, bis er zur Explantation in den OP transportiert wird."
Juristisch befinden sich Hirntote in einer Grauzone
Doch ist damit der Schluss gerechtfertigt, dass der Hirntod nur ein Konstrukt ist, geschaffen zum Zwecke der Versorgung mit Organen, wie Kritiker sagen? Der Streit ist bis heute wissenschaftlich nicht entschieden. Und dieser Schwebezustand hat Einfluss bis in die Gesetzgebung. Denn auch juristisch sind Hirntote in einer Grauzone verblieben. In keinem Gesetz steht, dass Hirntod gleich Tod ist. Dennoch genießen Hirntote nicht mehr den juristischen Schutz, der Lebenden zusteht. Dabei zeigen Studien über die Organentnahme: Der Puls der Hirntoten kann sprunghaft ansteigen, ebenso der Blutdruck. Bei einer normalen OP würde in diesem Fall jeder Arzt sagen: Der Patient hat Schmerzen - und entsprechend die Dosis an Narkosemitteln erhöhen. Doch da Hirntote für tot erklärt sind, werden bei ihnen diese Reaktionen nicht als schmerzbedingt gewertet, sondern als Nervenreflexe. Und so gibt es hierzulande für Organspender keine Narkose, zumindest offiziell.
"Sie brauchen - außer fürs eigene Gewissen – keine Narkose bei dem Patienten zu machen. Er ist hirntot, er wird es nicht fühlen",
meint Neurologe Cornelius Weiller. In der Schweiz denkt man da weniger strikt. In den ethischen Richtlinien der Schweizer Akademie der Wissenschaften wird eine Anästhesie bei Organentnahme sogar empfohlen, um – wie es heißt – motorische Reaktionen zu unterbinden. Tanja Krones, Ärztin vom Unispital Zürich:
"Ich weiß nicht, warum das Bedürfnis in Deutschland stärker ist zu sagen: 'Wir sind uns ganz sicher, es darf ja nicht sein, denn der ist ja tot'. Deshalb gibt man kein Anästhetikum, weil man das ja sozusagen aufbrechen würde, dass man da vielleicht zweifelt. Es gibt aber viele Länder und viele Anästhesisten, die dann doch bei Blutdruckerhöhung unter der Situation dann Anästhetika geben."
Die Beatmungsmaschine steht still. Das Auf und Ab von Philipps Brustkorb hat aufgehört. Dennoch bewegt sich leise sein Hemd, es ist sein Herz, das selbstständig schlägt, dank seines eigenen, vom Gehirn unabhängigen Impulsgebers. Laut Definition des Hirntods ist dieses rhythmische Flackern auf dem grau-weiß gestreiften Klinikstoff bald kein Lebenszeichen mehr. Wenn die Diagnostik durchlaufen ist, sind es vielmehr letzte, autonome, maschinenähnliche Äußerungen einer Leiche.
Arzt: "Sie haben 10 Minuten 100 Prozent gemacht?"
Schwester:"Ja."
Arzt: "Wie ist denn das O2 nach dieser Viertelstunde?"
Mittlerweile dazu gestoßen ist der Transplantationsbeauftragte der Klinik, Michael Lücking. Er ist selbst Arzt und nebenbei verantwortlich dafür, dass es möglichst reibungslos möglichst viele Organspender gibt. Er wird später mit Philipps Eltern sprechen, denn ein Organspendeausweis liegt nicht vor. Aber er hat noch eine andere wichtige Aufgabe:
"Ich berate, was die intensivmedizinische Therapie von hirntoten Patienten, potenziellen Organspendern betrifft."
Intensivmedizinische Therapie des Patienten, das klingt wie ein letzter, palliativer Dienst an Philipp. Doch das Gegenteil ist der Fall. Was Michael Lücking meint: Er berät, welche Maßnahmen nötig sind, um Philipps Organe in einer möglichst guten Qualität zu bewahren.
"Diese Patienten würden normalerweise nur noch palliativ behandelt werden und dann sterben, relativ schnell sterben. Weil sie aber Organspender sind, werden sie am Leben erhalten, aber nicht für sich selber sozusagen, sondern weil sie Organspender sind. Und da werden Flüssigkeiten gegeben, da werden manchmal bestimmte Medikamente gegeben, um die Organqualität zu erhalten."
Tanja Krones, Unispital Zürich. Was viele nicht wissen: Diese Behandlungen beginnen sogar noch, bevor der Hirntod diagnostiziert wird. Sie dienen dabei nicht mehr primär dem Patientenwohl, sondern bereits dem Organerhalt und damit dem Bedarf Dritter. In diesem sogenannten präfinalen Stadium werden dem Patienten Medikamente gegeben, die weder seine Lebens- noch seine Sterbequalität steigern; es werden Hormone gegeben; es wird Blut abgezapft, um für den Organerhalt wichtige Werte zu bestimmen. Und statt ihn in Frieden sterben zu lassen, wird der Stecker der Beatmungsmaschine eben nicht gezogen. Diese präfinale Phase mit ihrer Organkonditionierung - so der Fachbegriff - ist wiederum ein Graubereich, medizinisch wie ethisch, sagt Jürgen In der Schmitten:
"Das sind Maßnahmen für die ( ... ) letztlich das Einverständnis des Patienten fehlt. Gleichzeitig ist es aber eine Situation und ein Zeitpunkt, bei dem mit den Angehörigen die Organspende noch gar nicht besprochen worden ist, aus guten Gründen, weil ja die Hirntod-Diagnostik noch gar nicht erfolgt ist und es nur schwer vorstellbar wäre, die Angehörigen schon darauf anzusprechen."
Die informierte Zustimmung des Patienten oder stellvertretend der Angehörigen ist eigentlich eine Grundvoraussetzung jeden ärztlichen Handelns. Doch sie wird im präfinalen Stadium übergangen. Selbst wenn der Patient einen Spenderausweis haben sollte: Das "Ja" zur Organspende und damit verbundene medizinische Eingriffe gilt ausschließlich für die Zeit nach dem Tod. So steht es wörtlich auf dem Ausweis. Doch die Missachtung dessen ist Alltag im Umgang mit Hirntoten, gibt Hartmut Schmidt zu, Direktor der Klinik für Transplantationsmedizin an der Uni Münster:
"Der abrupte Zeitpunkt zu sagen, dass erst nach Feststellung des Hirntods eine Therapie eingeleitet werden darf, die sozusagen die eine Organunterstützung beziehungsweise eine Organspende ermöglicht, ist letztendlich in der Praxis nicht haltbar."
Schmidt weiß um die Brisanz dieser Praxis, die in keinem Werbeblatt für Organspende zur Sprache kommt. Er hat deshalb mit Kollegen der Uni Münster bereits vor drei Jahren eine Stellungnahme zum präfinalen Stadium verfasst, in der Hoffnung, damit eine Diskussion anzustoßen.
"Die Frage war eigentlich mehr an die Öffentlichkeit und insbesondere die medizinische Öffentlichkeit: Wie stellen wir uns zurzeit in dieser Konfliktsituation?"
Doch die Fachwelt schweigt bis heute eisern.
"Wir haben uns in der Tat erhofft, dass es eine größere Rückmeldung oder Diskussion loslösen könnte unser Artikel, in wie weit dieses jetzt nicht aufgefangen wurde, ist jetzt sehr spekulativ."
"Es ist etwas, was schamhaft beiseite gedrückt wird, weil eben immer noch die offizielle Linie lautet: Wir reden hier von "nach dem Tode" und wollen, dass die Leute möglichst wenig denken. Und ich glaube, dass die Bevölkerung hier unterschätzt wird."
Die Sorge, mehr Offenheit könne potenzielle Organspender abschrecken
Jürgen In der Schmitten, selbst ausdrücklich Organspendebefürworter. Offenbar haben medizinische Fachgesellschaften, aber auch die Ärztekammer und die Deutsche Stiftung Organtransplantation die Sorge, man würde mit der Offenlegung von Details zur Transplantationsmedizin noch mehr Menschen davon abhalten, einen Organspendeausweis zu tragen. Kritiker glauben, dass diese Strategie genau das Gegenteil bewirkt.
"Das schürt und fördert und hält aufrecht über Jahrzehnte nach meiner Überzeugung ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Transplantationsmedizin, das sie nie ganz abschütteln kann, sie ist ständig in dieser Defensive."
In der Schmitten plädiert daher dafür, die Dinge beim Namen zu nennen:
"Die Organentnahme führt den Tod herbei, der Tod tritt ein während des Prozesses der Organentnahme, davon bin ich überzeugt, wenn man ein biologisches Konzept von Leben und Sterben akzeptiert, und das tun wir in Deutschland, und wir müssen uns dann überlegen, ob wir das ethisch und rechtlich auf sichere Füße stellen können oder nicht."
Martin Herpers hat nach zehn Minuten Stillstand die Beatmungsmaschine wieder gestartet. Philipp hatte es nicht geschafft, einen eigenen Atemzug zu machen. Jetzt ist sein Kopf mit Elektroden verkabelt. Herpers zeichnet mit dem EEG Philipps Hirnströme auf. Ein Kollege kommt hinzu.
"Superschöne, einwandfreie Nulllinie. 11 Uhr ist Schicht."
Eine halbe Stunde läuft das EEG schon. Die Elektroden empfangen aus Philipps Großhirn nicht den leisesten elektrischen Impuls.
"Ich habe die EEG-Untersuchung abgebrochen, wie zu erwarten war, ist diese EEG-Ableitung nach 30 Minuten ohne irgendeinen Nachweis bioelektrischer Eigenaktivität des Patienten zu Ende gegangen. Sodass jetzt um 23 Uhr der Hirntod und damit der Tod dieses Menschen festgestellt ist."
Der Transplantationsbeauftragte der Uniklinik Freiburg, Michael Lücking, hat die letzten zwei Stunden in Philipps Nähe verbracht. Er wird nun mit den Eltern sprechen.