Mittwoch, 24. April 2024

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Mediziner zu hartem Lockdown
Anstieg der täglichen COVID-Toten noch bis Anfang Januar zu erwarten

Bis zum Ende des Jahres sei mit mindestens 30.000 Corona-Toten zu rechnen, daran könne auch der harte Lockdown nichts mehr ändern, sagte der Mediziner Thorsten Lehr im Dlf. Die harten Maßnahmen würden sich je nach Bundesland wohl bis "weit in den Februar reinziehen". Sachsen werde sicher am längsten brauchen.

Thorsten Lehr im Gespräch mit Ralf Krauter | 14.12.2020
Ein Beatmungsgerät des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein steht am Bett eines am Coronavirus erkrankten Patienten. Die Zahl der Corona-Patienten auf deutschen Intensivstationen hat erstmals die Schwelle von 4000 überschritten. Am Freitag meldete die Deutsche Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) 4011 Menschen in intensivmedizinischer Behandlung. (Stand: 04.12., 12.15 Uhr).
Erst in der dritten oder vierten Januarwoche werde sich zeigen, ob der Lockdown zu sinkenden Infektionszahlen führe, sagte der Mediziner Thorsten Lehr im Dlf (dpa / Frank Molter)
Aus Sicht einiger Experten kommt der ab dem 16. Dezember geltende harte Lockdown zur Reduzierung der Corona-Infektionen zu spät. Zu den Kritikern gehört auch Thorsten Lehr von der Universität Saarbrücken. Der Professor für klinische Pharmazie füttert ein Computermodell regelmäßig mit den neuesten Informationen, um Prognosen zu erstellen, wie sich das neue Coronavirus in Deutschland verbreiten wird. Er glaubt: Bis zum Ende des Jahres könnten 30.000 Menschen in Deutschland an COVID-19 sterben.
Ralf Krauter: Freut Sie das, dass die Politik jetzt endlich den Empfehlungen der Corona-Modellierer folgt und einen harten Lockdown verhängt?
Thorsten Lehr: Freuen ist vielleicht das falsche Wort. Ich bin beruhigt, dass jetzt endlich was geschieht, weil wir jetzt gesehen haben, dass die Infektionszahlen auch permanent weiter steigen, und von daher war es einfach dringend notwendig. Ich denke, wir hatten nicht mehr fünf vor zwölf, sondern es ist eher zwölf, wenn nicht sogar drei nach zwölf, was wir hier erleben.
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"Zehn Infizierte stecken elf gesunde an"
Krauter: Sie haben auf Basis Ihrer jüngsten Modellrechnung bereits am Freitag gefordert, wir brauchen jetzt schnell einen harten Lockdown, sonst laufen die Dinge wirklich aus dem Ruder. Was hätte uns geblüht, wenn wir jetzt einfach weitergemacht hätten wie bisher?
Lehr: Was wir momentan einfach sehen, ist, dass der R-Wert deutschlandweit auch wieder über 1 angestiegen ist, das heißt, wir haben immer mehr Infektionen, also zehn Infizierte stecken elf Gesunde an, das heißt, wir sind jetzt wieder in dieser Wachstumsphase. Wir hätten dann eben das erlebt, was wir eigentlich nicht erleben wollen, das heißt, dass die Betten auf den Intensivstationen knapp werden, dass die Todeszahlen weiter ansteigen. All diese Szenarien, die wir eigentlich verhindern möchten, sind jetzt in der nahen Zukunft machbar, wenn dieser Lockdown jetzt auch nicht wirken wird.
Harter Lockdown könnte Ende Januar sinkende Infektionszahlen bringen
Krauter: Die Siebentagesinzidenz liegt im Bundesdurchschnitt aktuell bei 176 pro 100.000 Einwohner, also mehr als dreimal so hoch wie der Grenzwert von 50 pro 100.000, ab dem die Gesundheitsämter die Infektionsketten nicht mehr nachverfolgen können. Wie schnell könnte denn der harte Lockdown ab Mittwoch jetzt diese Zahlen drücken, sofern sich alle an die neuen Regel dann halten?
Lehr: Ja, gut, das ist natürlich die Frage, ob sie sich dran halten, aber wenn sie sich dran halten – und das kommt dann auch sehr stark drauf an, wie gut das umgesetzt wird –, gehen wir eigentlich davon aus, dass diese 50er-Inzidenz entweder so in der dritten Januarwoche bis Ende erster Februarwoche möglicherweise wieder unterschritten werden kann. Dabei sind wir ja in dieser Berechnung davon ausgegangen, dass es jetzt an Weihnachten eigentlich keine besonderen Lockerungen geben wird und dass jetzt auch diese beiden offenen Tage, bevor der Lockdown eintritt, nicht noch mal negativ zu Buche schlagen, was natürlich zu befürchten ist, wenn man sich den Verkehr in den Straßen draußen anschaut.
Krauter: Wie viel Zeit würden uns denn Lockerungen an Weihnachten kosten, wenn man da jetzt drei Tage sagen würde, wir lassen die Zügel ein bisschen locker?
Lehr: Ja, man kann ungefähr so rechnen, dass ein Tag locker bedeutet in der Summe zwei Tage länger einen Lockdown fahren, das heißt also, für drei Tage Lockerung müssten wir sechs bis sieben Tage weiteren Lockdown in Kauf nehmen. Aber das ist natürlich nicht das Einzige, sondern das würde sich natürlich auch an der Zahl der verstorbenen Patienten am Ende des Tages widerspiegeln, die natürlich auch dadurch deutlich erhöht werden würde.
Je nach Bundesland könnte unterschiedlich schnell gelockert werden
Krauter: Kommen wir gleich drauf zu sprechen, erst noch mal eine Frage zur Siebentagesinzidenz, die Sie gerade ansprachen. Sie sagten, bis Mitte/Ende Januar würde es dauern, bis wir im Bundesdurchschnitt wieder diese 50 erreicht hätten, die wir eigentlich anstreben. Wie verteilt sich das regional? Ich frag deshalb, weil Sachsen ist ja aktuell Spitzenreiter mit einer Siebentagesinzidenz von 379 pro 100.000, also sehr weit von der Zielmarke 50 entfernt. Die müssten dann wahrscheinlich noch deutlich länger auf die Bremse treten, oder?
Lehr: Absolut, genau das ist das, was wir natürlich auch sehen. Die Bundesländer werden wahrscheinlich unterschiedlich schnell das Ziel erreichen. Wie Sie sagen, Sachsen ist sicherlich das Land, was am längsten brauchen wird, dort können sich die Maßnahmen, je nachdem wie streng sie umgesetzt werden, auch noch bis weit in den Februar reinziehen, also bis Anfang Februar auf jeden Fall. Wir haben auch andere Bundesländer wie die norddeutschen, Schleswig-Holstein oder auch Mecklenburg-Vorpommern, wo wir sicherlich auch schon Anfang des neuen Jahres wieder mit der Unterschreitung der Zielgrenze rechnen können.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Lehr: Krankenhausbelegung wird weiter ansteigen
Krauter: Was verraten Ihre Modellrechnungen über die Zahl der täglich bestätigten Neuinfektionen und die Belastung auf der Intensivstation der Krankenhäuser, worauf müssen wir uns da in den nächsten vier Wochen einstellen?
Lehr: Worauf wir uns sicherlich noch einstellen müssen, ist, dass die Krankenhausbelegung noch weiter stark ansteigen wird. Aktuell haben wir schon knapp 4.600 Intensivbetten belegt, und je nachdem, wie das Lockdown-Szenario ablaufen wird, rechnen wir jetzt, wenn es erfolgreich wird, wenn der R-Wert wirklich auf zwischen 0,6 und 0,8 gedrückt werden könnte, was schon auch eine deutliche Reduktion wäre, dann müssten wir noch mit 6.000 bis 6.500 Intensivbettenbelegung Anfang Januar rechnen. Wenn wir allerdings da bleiben, wo wir jetzt sind, dann würden die Intensivbetten letztendlich bedauerlicherweise auch volllaufen und natürlich auch über die Grenze hinwegschießen.
Lehr: Bis Ende 2020 rechnen wir mit 30.000 Corona-Toten
Krauter: Die Belegung der Intensivbetten erlaubt ja rein rechnerisch auch die Hochrechnung der Sterbezahlen, die aufgrund von COVID-19 zu erwarten sind, einfach weil es da sehr klare statistische Zusammenhänge gibt, wie viele Menschen in welcher Altersgruppe so eine Intensivbehandlung dann überleben und wie viele nicht. Was sagen Ihre Zahlen da, wie viele Menschen werden in Deutschland bis zum Jahresende noch an COVID-19 sterben?
Lehr: Bis zum Jahresende ist es eigentlich so, dass jetzt der Lockdown eigentlich keinen Einfluss mehr groß drauf haben wird, wie viele Leute noch versterben werden an COVID. Wir rechnen eigentlich unabhängig von dem Lockdown mit mindestens 30.000 in der Summe verstorbenen COVID-Patienten Ende des Jahres.
Krauter: Und wie wird sich das im Januar dann weiterentwickeln? Dort müsste ja dann der harte Lockdown sich bemerkbar machen.
Lehr: Richtig. Wir würden dann wahrscheinlich ungefähr in der ersten, zweiten Januarwoche so einen Peak sehen, was die maximale Sterberate pro Tag angeht. Die könnte noch ansteigen auf ungefähr 650 bis 700 Tote Anfang Januar, und dann würde sich das wieder langsam entspannen, wenn der Lockdown wirklich dann durchgezogen werden würde.
Krauter: Nach allem, was Sie sagen, würde aber, selbst wenn sich jetzt alle wirklich an die Maßnahmen halten, der Lockdown durchgezogen wird, wie Sie sagen, die verschärfte Situation oder der Peak auf den Intensivstationen wäre erst Mitte Januar sozusagen erreicht.
Lehr: Genau richtig. Das kommt immer nach dem Lockdown ungefähr drei bis vier Wochen im Anschluss, und das wäre dann ungefähr Anfang/Mitte Januar, wo wir die Peak-Belegung erwarten würden.
Krauter: Und die Belastung wäre aber so, dass das im Bundesdurchschnitt zumindest noch handelbar wäre, aber regional schon eng werden könnte.
Lehr: Genau richtig. Im Bundesdurchschnitt sollte das zumindest nach den Zahlen des Intensivregisters handelbar sein. Sicherlich können da auch im Notfall wahrscheinlich noch besondere Ressourcen freigeschaufelt werden, aber regional werden wir sicherlich Unterschiede sehen, weil wir einfach Bundesländer haben, die etwas weniger, und andere, die etwas stärker belastet sind, wo wir dann auch möglicherweise über Transport von Patienten aus dem einen Bundesland ins andere nachdenken müssten.
Lehr: Man hätte sicherlich früher reagieren müssen
Krauter: Hätte die Regierung viel früher reagieren müssen?
Lehr: Ich sage mal so: Was wir jetzt gerade sehen, ist sicherlich ein absehbares Szenario. In meinen Augen hätte man sicherlich früher reagieren müssen, man hätte auch eben vor allem den November-Lockdown eigentlich sehr viel effizienter durchziehen sollen, dann hätten wir jetzt eine deutlich entspanntere Adventszeit als wir sie jetzt erleben. Aber natürlich sind dort auch andere Interessen, die die Politik leiten, die nicht nur rein wissenschaftlich geprägt sind, von daher lässt sich das für uns als Wissenschaftler natürlich schwierig beurteilen. Aus wissenschaftlicher Sicht hätten wir das früher und auch den ersten Lockdown light schon in einen Lockdown hart umwandeln müssen, damit wir jetzt eigentlich in einen entspannteren Advent gehen können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.