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Medizinischer Grenzfall
Späte Abtreibung oder Totschlag

Eine Ärztin und ein Arzt stehen in Berlin vor Gericht. Sie haben bei einer Zwillingsgeburt ein Kind absichtlich getötet. Bei ihm war eine Hirnschädigung festgestellt worden. Verhandelt wird der Zeitpunkt: Eine Spätabtreibung wäre straffrei gewesen. Die Anklage lautet Totschlag.

Von Daniela Siebert | 23.10.2019
Ein Arzt hält in einem Kreißsaal ein neugeborenes Baby in den Händen (Symbolbild)
Dass der Fall vor Gericht gelandet ist, geht auf eine anonyme Anzeige zurück. Im Bild: Ein Arzt hält in einem Kreißsaal ein neugeborenes Baby in den Händen. (Symbolbild) (imago / Westend61)
Es war frühmorgens, im Sommer 2010. In einer Berliner Klinik. 32. Woche, zu früh eigentlich. Die Schwangere – werdende Mutter von eineiigen Zwillingsmädchen - liegt auf dem Rücken, per Spinalanästhesie örtlich betäubt. Das Ärzteteam hatte das weitere Vorgehen mit ihr besprochen: Sie öffnen per Kaiserschnitt den Bauch und die Gebärmutter. Sie holen das erste "gesund" diagnostizierte Kind aus dem Mutterleib und übergeben es der Hebamme. Bei dem zweiten Mädchen, dem schon vor Wochen eine "schwere Hirnschädigung" diagnostiziert worden war, klemmen sie die Nabelschnur ab. Sie setzen ein Spritze in die Nabelvene und injizieren Kaliumchlorid. Eine Flüssigkeit, die zur Herzlähmung führt. Erst nachdem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, entnehmen die Ärzte das Kind aus dem Mutterleib. Um 5 Uhr 30, mit 41 Zentimetern Größe und rund 1400 Gramm Gewicht kam das Mädchen zur Welt.
Dieses Vorgehen sei Totschlag, sagt Staatsanwältin Silke van Sweringen im Interview vor dem Gerichtssaal. Sie erklärt:
"Weil den Angeklagten nach den Inhalten des OP-Berichtes schon und auch nach der Einlassung, die sie heute abgeben haben, zur Last zu legen ist, dass sie diese Tötung vorgenommen haben, zu einem Zeitpunkt, zu dem er rechtlich nicht mehr zulässig war, weil es sich eben bereits um einen Menschen gehandelt hat und nicht mehr um einen Fötus, den man im Wege der Abtreibung töten kann und unter Voraussetzungen ja auch darf."
Anonyme Anzeige ging ein
Nicht die Tötung selbst ist also das eigentliche Problem, sondern der Zeitpunkt. Für das getötete Zwillingsmädchen lag ein Indikationsschreiben vor, dass eine Abtreibung erlaubt hätte. Grund dafür war der diagnostizierte Hirnschaden. Doch solch eine Abtreibung ist nicht mehr möglich, wenn die eigentliche Geburt schon begonnen hat. Was das aus strafrechtlicher Sicht bedeutet, fasst Silke van Sweringen so zusammen:
"Die Geburt beginnt mit dem Einsetzen von Eröffnungswehen entweder bei einer natürlichen Geburt oder im Fall eines Kaiserschnitts mit Eröffnung des Uterus und ab diesen jeweiligen Zeitpunkten ist das zu gebährende Kind Mensch und eine Abtreibung ist nicht mehr zulässig."
Aus Sicht der Staatsanwaltschaft wäre es daher richtig, legal und auch Stand der ärztlichen Kunst gewesen, wenn die Ärzte das krank diagnostizierte Kind durch einen sogenannten "selektiven Fetozid" während der Schwangerschaft getötet hätten. Demnach hätten sie durch einen Eingriff mit Laser an der Nabelvene des Kindes dessen Tod herbei führen, es aber anschließend bis zur Geburt des gesunden Kindes in der Gebärmutter lassen sollen.
Dass der Fall nun überhaupt vor Gericht gelandet ist, geht auf eine anonyme Anzeige zurück, dem Vernehmen nach von einem Klinik-Mitarbeiter, die allerdings erst drei Jahre nach dem Vorkommnis erstattet wurde.
Hauptziel: Schutz des gesunden Zwillings
Die beiden Frauenärzte, die nun wegen Totschlags angeklagt sind, haben lange Erfahrung auf ihrem Gebiet. Sie, Ende 50 und aktive Klinikärztin, er ehemaliger Chefarzt im Ruhestand, erklärten gestern vor Gericht ihre Sicht der Dinge und begründeten ihr Verhalten. Kern ihrer Aussagen: Das Hauptziel sei es gewesen, den gesund diagnostizierten Zwilling zu schützen und die Mutter nicht zu gefährden. Daher hätten die Ärzte gerne noch länger gewartet als bis zu jenem Tag im Juli 2010, der erst in der 32. Schwangerschaftswoche lag. Es war also eine Frühgeburt, doch die Mutter hatte zuvor so starke Wehen bekommen, dass der Kaiserschnitt kurzfristig angesetzt wurde. Wie sie dann weiter vorgegangen sind, daraus machen die beiden keinen Hehl. Es habe auch keine Versuche gegeben, im OP-Bericht etwas "zu verschleiern". Nach den Äußerungen der Ärztin im Gerichtssaal ist aber fraglich, ob sie sich damals der geltenden Rechtslage überhaupt bewusst war.
Ins Mikrofon wollten sich die beiden Angeklagten nicht äußern. Doch ihre Aussagen vor Gericht waren detailliert.
Dem ehemaligen Chefarzt zufolge sind die juristischen Kriterien für die Definition einer Geburt nicht praxistauglich. Zum einen, weil ein Zwilling geboren werden könnte, der andere aber auch über Tage und Wochen über diesen Termin hinaus im Mutterleib weiterleben könnte. Zum andern weil es möglich sei, einen Fötus aus dem Mutterleib zu entnehmen, zu operieren, dann wieder in den Mutterleib zurückzugeben. Eröffnungswehen erkenne man oft erst im Nachhinein, im "Erfolgsfall", also wenn das Kind dann auch wirklich kommt. Selbst ein Blasensprung könne Wochen vor der Geburt vorkommen.
Da hätten sich die Ärzte im vorliegenden Fall dann also eine eigene Definition konstruiert, fragte einer der fünf Richter nach - eher rhetorisch.
Unscharfe Definitionen von "Mensch", "Fötus" und "Geburt"
Diese Zwillingsgeburt sei ein besonderer Fall gewesen argumentierten die Mediziner. Auch durch eine Anomalie bei den Gefäßverbindungen zwischen den beiden Zwillingen, ohne Vorlagen in der Fachliteratur. Sie hätten keinen Zweifel an ihrem Verhalten gehabt, so der angeklagte Arzt explizit.
Rechtsanwalt Joachim Laux wundert sich nicht, dass Mediziner und Juristen, ein und denselben Vorgang so unterschiedlich beurteilen. Der Berliner Medizinrechtler dazu konkret:
"Erstmal gibt es grundverschieden Mentalitäten zwischen Juristen und Medizinern. Das ist eine ganz verschiedene Denkweise. Das eine sind eben auch Naturwissenschaftler und das andere sind Sprachwissenschaftler."
Allerdings: Selbst für Juristen seien die Definitionen rund um die maßgeblichen Begriffe "Mensch", "Fötus" und "Geburt" nicht so eindeutig und scharfkantig wie man meinen könnte. So definiert das BGB etwa – anders als das Strafrecht - die Rechtsfähigkeit des Menschen mit dem Ende der Geburt. Gemeint ist der Moment, in dem das Kind vollständig und lebend aus dem Mutterleib ausgetreten ist.
Joachim Laux vermutet daher, dass die Einschätzung eines medizinischen Gutachters für das Urteil eine große Rolle spielen wird. Die Kernfrage:
"Hat die Geburt schon begonnen oder nicht? Und wenn sie begonnen hat, dann ist es Strafrecht, also ist es Tötungsdelikt und wenn die Geburt noch nicht begonnen hat, dann nicht. Das Abgrenzen davon, das lässt sich naturwissenschaftlich nicht genau machen. Juristisch schon gar nicht."
Für die Staatsanwälte funktioniert das aber offenbar schon.
Nach dem ersten Prozesstag bleiben viele Fragen: Waren die Interessen des getöteten Zwillings ausreichend geschützt? Wie schwerwiegend war die Hirnschädigung wirklich? Auch die pränatale Diagnostik macht Fehler. Das tote Kind wurde nicht obduziert, eine Antwort wäre Spekulation. Eine Leichenschau nahm die Ärztin selbst vor, die an der Tötung beteiligt war. Wäre es zu einem selektiven Fetozid gekommen und dabei auch der als gesund geltende Zwilling gestorben, dann hätte es kein Strafverfahren gegeben. Wie das Berliner Landgericht den Fall beurteilt, erfährt die Öffentlichkeit voraussichtlich Ende November.