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Medizinmodelle von Somso
Auf Herz und Nieren - und aus Plastik

Virtuelle Realität und Computersimulationen reichen doch nicht immer. Auch in digitalen Zeiten schafft es das Familienunternehmen Somso, Abnehmer für seine medizinischen Modelle zum Anfassen zu finden. Schüler, Studenten und Wissenschaftler arbeiten mit den lebensechten Nachbauten von Körperteilen.

Von Klaus Lockschen | 29.06.2018
    Den menschlichen Körper in all seinen Einzelteilen hat Louis-Benedikt Sommer oft auf dem Tisch liegen. Doch nicht als Pathologe. Er leitet das Familienunternehmen Somso, das in fünfter Generation anatomische und wissenschaftliche Modelle fertigt. Sein Ururgroßvater, Modelleur im Mekka der Spielzeugindustrie in südthüringischen Sonneberg, kam 1876 auf die zündende Idee, statt Puppenköpfe Modelle für die medizinische Ausbildung zu fertigen. Somso war geboren: der Name zusammengesetzt aus Sommer, Marcus, Sonneberg.
    "Ganz früher wurden die Modelle aus Papiermasché gefertigt, mit Wachs modelliert. Dann kam unter der zweiten Generation der Gips. Da war dann schon eine Kleinserienfertigung möglich. Und Gips war so bis zu den 60er Jahren der Hauptwerkstoff, und dann kam der Kunststoff und damit war natürlich noch eine höhere Solidität, Belastungsfähigkeit und Haltbarkeit mit verbunden."
    Mit den Schädeln fing es an
    Die ersten Stücke, die vor gut 140 Jahren gefertigt wurden, waren Schädel, Gehirn, Auge, Herz, erinnert sich Firmenchef Sommer:
    "Ja, so über die Jahre ist halt einfach das Programm organisch gewachsen".
    Im wahrsten Sinn des Wortes, denn mittlerweile zählt der Kosmos an lebensechten Abbildungen über 1.000 Posten. Vom 41-teiligen Ganzkörpermodell bis zum 11.000-fach vergrößerten roten Blutkörperchen. Hauptabnehmer sind Museen, Schulen, Universitäten und Ausbildungsstellen, bei denen am Körper gelehrt und gelernt wird. Wo im doppelten Wortsinn das Begreifen eine Rolle spielt und der Tastsinn oft tiefere Eindrücke liefert als eine computer-simulierte Realität, sagt Sommer:
    "Die gesamte Bandbreite vom menschlichen Körper ist abgebildet, sowohl naturgetreu als auch bei gewissen Modellen natürlich vergrößert dargestellt, um die didaktische Aussagefähigkeit auch zu gewährleisten".
    Zudem werden bei Somso Modelle aus Zoologie und Botanik gefertigt. Vom Alpensalamander bis zur Zecke, vom Ackerschachtelhalm bis zum Zelldetail. Zu Preisen zwischen 40 und mehreren tausend Euro, wobei mehr als die Hälfte der Erlöse aus dem Export kommt. Umsatzzahlen nennt Sommer nicht.
    "Einteilige Modelle, die nicht zerlegbar sind, sind natürlich kürzer hergestellt als ein 40-teiliges Torsomodell. Also das differiert von ein paar Stunden bis natürlich hin zu einem ganzen Monat, wo eine Person eben mit dem Modell beschäftigt ist."
    Die Natur so gut wie möglich ins Modell bringen, ist der Slogan von Somso.
    "Jedes Modell hat ja auch einen wissenschaftlichen Vater, der einfach von der Fachwelt kommt und die Modelle betreut und auch die Korrektheit begutachtet".
    Risiko: geklaute Augen
    Zu den Klassikern zählen zerlegbare Torsos.
    "Gerade bei Torsomodellen, die im Schulunterricht sind, also wenn das Auge rausnehmbar ist, das kommt oft vor, dass es geklaut wird".
    Und Mann, groß und mit zwei "n" geschrieben, mag es ungerne hören:
    "Natürlich besonderen Spaß machen sich die Schüler eben bei den zerlegbaren Geschlechtsorganen, wenn diese Penishälften, so kleine Teile, die abnehmbar sind, entwendet werden".
    Das Ersatzteillager ist gut sortiert.
    Bis 1952 wurde am Stammsitz produziert, dann verstaatlichte die DDR den Betrieb und Opa Marcus Sommer zog es mit seiner Fertigung über die deutsch-deutsche Grenze ins nahe Coburg. 1990 wurde der VEB-Betrieb Sonneberg dann rückübertragen. Heute arbeiten bei Somso gut 150 Beschäftigte an beiden Standorten.
    Schultermuskeln im Spritzguss
    Der Enddreißiger führt durchs Coburger Hauptwerk. Das Gebäude ist gut 100 Meter lang und in Funktionseinheiten gegliedert: Guss, Retouche, Malerei. Vornan lagern in einem Hochregal in Holzkästen verpackt die Gussformen. Der erste Produktionsschritt findet gleich dahinter in der Kunststoffgießerei statt. Eine graue, langgestreckte Maschine formt verborgen hinter ihrem Blechkleid die PVC-Teile im Hohl- oder Spritzgussverfahren. Aktuell sind es Schultermuskeln, die stetig ausgeworfen werden. Sie erinnern in Form und Größe an Filetstücke vom Metzgertresen. Weiter geht’s – Firmenchef Sommer:
    "Der zweite Fertigungsschritt, die technische Bearbeitung, wo wir jetzt gleich hingehen".
    An einem der Werktische hat ein Mitarbeiter ein hautfarbenes Reliefmodell vom menschlichen Blutkreislauf vor sich, halbe natürliche Größe, fünf Kilo schwer. In der rechten Hand hält er ein kleines Schleifgerät und retuschiert überstehende Grate.
    "Es muss sein wie eine richtige Haut, ganz glatt. Kommt dann noch auf einen schönen Sockel, ein Brett, dass man´s auch hinhängen kann. Ja, und dann wird es schön bemalt und dann wird es lackiert".
    Wenige Meter weiter nehmen lebensgroße Skelette Form an.
    "Ich binde den Brustkorb, dass praktisch der Brustkorb ein schönes Bild ergibt, ne, dass die Abstände zwischen die Rippen alle stimmen".
    Fein sortiert für links und rechts steckt ein Teil der Rippen noch in den jeweiligen Plastiktüten. Ist das Skelett fertig, klappert´s mit 210 Knochen.
    Körperteile von Hand bemalt
    Schließlich zur letzten Station: zur Malerei. Es riecht nach Lösemittel. Hier bekommen die Modelle mit zarten Pinselstrichen ihre naturgetreue Optik. An einem der Arbeitsplätze werden an einem Medialschnitt eines Schädels feinste Konturen gezogen.
    "Also erst wird der Grund gemacht, also alles, was unten ist, die Muskeln, und dann kommt erst das feine Zeug obendrauf".
    Hirnstamm, Kleinhirn, Schläfenlappen, Schädelknochen…
    Am Nebentisch werden Gebärmütter bemalt. Muskeln, Nerven, Blutgefäße. Die Palette der Rot- und Brauntöne dominiert. Und immer wieder der Probestrich für die exakte Farbnuance. 40 Jahre Erfahrung habe sie, sagt die Mitarbeiterin, und eine ruhige Hand. Der Chef nickt:
    "Wenn jemand ein Modell schon über die Jahre gemacht hat, geht das in Fleisch und Blut über, wenn man so sagen will.
    Wie soll es auch anders sein in einem Beruf, bei dem es sich meist um Organe dreht?