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Megan Hunter: "Vom Ende an"
Auf dem Grat zwischen Grauen und Glück

Flut-Drama, totaler Verfall der Gesellschaft - und ein Baby am Körper der Mutter: Megan Hunter kreiert eindringliche Bilder von Flucht und Angst, gibt aber dem Leben ein Chance. Ihre kargen Beobachtungen schützen vor dem Abgleiten in Kitsch - ein überzeugendes Debüt.

Von Paul Stoop | 22.08.2017
    Überschwemmung
    Während das Land im Wasser versinkt, tritt ein Neugeborenes seine Entdeckungsreise in die Welt an. (dpa/EPA/Andy Rain)
    Es ist eine düstere, post-apokalyptische Welt, in die uns Megan Hunters schmaler Debütroman "Vom Ende an" versetzt. Eine Flut ungekannten Ausmaßes trifft England. Als die Katastrophennachrichten sich verbreiten, bekommt die nicht mehr junge Erzählerin gerade ihr erstes Kind.
    Wie die Protagonistin heißt, wissen wir nicht. Auch alle anderen Personen bleiben anonym: R, der Vater des Kindes, seine Eltern N und G, und weitere Namenlose, die scheinpräzise mit einem Buchstaben identifiziert werden. Nur der neugeborene Junge hat für einen Moment einen Namen, spontan gefunden, als der Vater Namenslisten verliest:
    Percy, Woody, Zeb, singt er am Fenster. Draußen schwimmt London und spiegelt sich dunkel im Wasser. Bei der letzten Silbe ruckt der Kleine mit dem Kopf, und damit ist es entschieden. Wir nennen ihn Z, singen ZZZZ und hoffen, er wird dadurch zum Schläfer.
    Der Horror der Überlebenden
    Von da an spielt sich die Geschichte auf dem Grat zwischen Grauen und Glück ab. Das Land steht unter Wasser, Menschen irren umher, auf der Suche nach einem trockenen Fleck und nach Lebensmitteln. Die kleine Familie ist Teil der flüchtenden Massen, die sich immer wieder neu gruppieren, in überfüllten Krankenhäusern, Flüchtlingslagern, auf einer Insel. Es gibt keine Gesellschaft mehr, nur noch Individuen. Vater R verschwindet. Mutter und Kind treffen eine andere Mutter, P, mit ihrem Kind, auch sie eine der "Ehemannslosen" und "Milchtröpflerinnen":
    P fragt mich nach R. Als ich sage, er musste mal raus hier, nickt sie. Sie hat ihren südlich der Grenze verloren. In den Unruhen, sagt sie. Das ist eines der Wörter, die Leute benutzen.
    Den Horror der Überlebenden, den Cormac McCarthy in seinem Katastrophenroman "Die Straße" ausbuchstabiert hat, deutet Megan Hunter nur mit wenigen Worten an. In den Monaten nach der Flut gibt es Gewalt - die, deren Art der Leser aus dem Wort "Unruhen" herauslesen muss, es auch gibt "Feuer", deren Ausmaß unklar ist, die aber nicht minder bedrohlich wirken.
    Der Mutterkitsch ist nicht fern
    Die zwölf Kapitel des schmalen Bandes bestehen jeweils aus mehreren Clustern von Textminiaturen. Manchmal bestehen diese aus einem einzigen Satz, nie sind es mehr als sechs Zeilen.
    Der Kontrapunkt zum großen Grauen ist das persönliche Glück: das Baby am Körper der Mutter. Es ist immer da, beim Berühren, beim Stillen, wenn es die Welt tastend erkundet. Beim Blick auf dieses physisch erfahrene Glück verschwindet für Momente die surreale Welt da draußen. Die Welt ist geschrumpft, das Kind wächst.
    Jetzt, ohne Internet, ohne Telefonverbindungen, gibt es dies: das Vollwerden, das Leerwerden. Die Klumpigkeit einer geschwollenen Brust. Das Prickeln der Erlösung.
    Hunter geht ein hohes Risiko ein: Der Mutterkitsch ist nicht fern. Die Symbiose, die rettende Dauerpräsenz dieses unschuldigen Wesens - das ist grenzwertig. Die eingestreuten kursivierten Zitate aus den Schöpfungs- und Untergangserzählungen verschiedener Kulturen nähren den Verdacht mythischer Überfrachtung wie auch das glückliche Ende der Geschichte: Der Vater wird in einer Notklinik gefunden, die Rückkehr ins Londoner Haus ist möglich und das Kind macht seinen ersten Schritt.
    Sein Körper steht auf zwei Punkten. Er nimmt die Arme hoch, um das Gleichgewicht zu halten. Er hebt ein Bein und - nicht möglich, nicht möglich - macht einen Schritt.
    Eindringliche Bilder
    Aber die karg-präzisen Beobachtungen schützen vor dem Abgleiten in den Kitsch. Zu treffend sind die minimalistischen Beschreibungen des totalen gesellschaftlichen Verfalls, zu eindringlich Hunters Bilder. Man sieht unwillkürlich andere Fluchtwelten, die Angstwelt mit den Kontrollpunkten, Formularen, Polizisten mit Maschinenpistolen, Vermissten und mit Plastiktüten mit gesamter Habe.
    Und happy ist Ende dieser Geschichte wohl kaum. Denn die Erfahrung der Katastrophe lässt den früheren Alltag als absurd und eine Rückkehr dorthin als unvorstellbar erscheinen.
    Früher als Angestellte schrieb ich Protokoll. Professor X sagte, seiner Ansicht nach sei die Fleischpastete am Mittwoch überraschend unbefriedigend ausgefallen. (...) Die meisten Dinge von früher sind heute lächerlich.
    "Vom Ende an" ist ein ungewöhnliches Buch, kunstvoll und mit größter Disziplin geschrieben und überzeugend übersetzt von Karen Nölle. Der Blick auf das Flut-Drama verstört, lässt dabei dem Leben eine Chance, allerdings mit Fragezeichen.
    Megan Hunter: "Vom Ende an". Übersetzt von Karen Nölle
    C.H. Beck, 160 Seiten, 16,00 Euro