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Megha Majumdar: "In Flammen"
Lügen zahlen sich aus

Ist eine muslimische Kaufhausangestellte aus einem Slum von Kalkutta in Wirklichkeit eine gefährliche Terroristin? In ihrem Debütroman "In Flammen" porträtiert Megha Majumdar eine zerrissene Gesellschaft, in der die Wahrheit nicht viel zählt.

Von Holger Heimann | 20.09.2021
Megha Majumdar und ihr Roman „In Flammen“
Megha Majumdar erzählt von religiösen und sozialen Spannungen. (Foto: Elena Seibert, Buchcover: Piper Verlag)
In Indien, dem Land, das sich gern als größte Demokratie der Welt sieht, ist es nicht weit her mit Pluralität, Toleranz und Gerechtigkeit. Das behauptet Megha Majumdars Debütroman, der in den USA überraschend zu einem Bestseller wurde, sehr direkt und unverstellt. Soziale und religiöse Spannungen bestimmen den harten und teils brutalen Alltag. Das Leben ist ein beständiger Kampf um Selbstbehauptung, zumal für jene, die in den Slums, am unteren Rand einer streng hierarchischen Gesellschaft aufwachsen. Von diesem Ringen erzählt Majumdar. Dass sie dabei weniger auf Differenzierung, aber umso mehr auf plakative Vereinfachung setzt, verleiht ihrem Roman die Wucht einer radikalen gesellschaftlichen Anklage. Drei Menschen, lose verbunden durch biografische Zufälle und den Wunsch nach sozialem Aufstieg, lässt Majumdar im Wechsel auftreten und immer wieder auch selbst zu Wort kommen.

Jivan, die im Zentrum des Geschehens steht, lebt mit ihrem Vater und ihrer Mutter in einem Slum von Kalkutta. "Ich wohne in dem Haus hinter der Müllkippe", sagt sie und meint damit eine Behausung aus Blech und Planen. Mit dem Stipendium einer Hilfsorganisation konnte sie zur Schule gehen und hat es so zur Angestellten in einem Kaufhaus gebracht. Eines Tages wird die junge Muslima Zeugin eines Brandanschlags auf einen Zug, bei dem über hundert Menschen sterben. Weil sie bei Facebook geliked werden will, postet sie einen Kommentar, von dem sie annimmt, dass er für Aufmerksamkeit sorgen wird:

"Wenn die Polizei einfachen Leuten wie euch und mir nicht geholfen hat, wenn die Polizei zugesehen hat, wie diese Menschen starben, heißt das dann nicht, dass die Regierung ebenfalls ein Terrorist ist?"

Verbrechen gegen die Nation

Kurze Zeit später wird sie mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen und verhaftet. Fast während der gesamten Romanhandlung sitzt sie im Gefängnis und wartet auf ihren Prozess. Sie hat das Pech, dass sie mit einem verdächtigen Bündel in der Nähe des Tatorts gesehen wurde und außerdem über Facebook Kontakt zu einem Anwerber für Terroristen hatte. In Verbindung mit dem aufrührerischen Posting genügt das, um ihr "Verbrechen gegen die Nation" und "Volksverhetzung" zur Last zu legen.

Die schlichte, schematische Romankonstruktion will es, dass nur zwei Menschen Jivan helfen können: ihr früherer Sportlehrer PT Sir und eine junge Transsexuelle, die sich Lovely nennt und der Jivan Englischunterricht gegeben hat. Beide sagen zunächst zugunsten der Angeklagten aus und schildern diese als talentierte Schülerin und engagierte Nachhilfelehrerin. Doch mit den Auftritten vor Gericht schaden sie sich selbst, denn die Öffentlichkeit verlangt nach Schuldigen und nach Bestrafung. Den Zeugen wird nahegelegt, sich von Jivan zu distanzieren. Der Rat an Lovely klingt so:

"Lass sie aus deinem Leben ziehen. Mag sein, dass du dieses Mädchen gernhast, aber du musst dich entscheiden: Willst du in der Filmwelt groß rauskommen? Oder willst du, dass die Öffentlichkeit dich als einen Menschen sieht, der eine Terroristin verteidigt? Lass dich von diesem Fall nicht runterziehen, Lovely."

Moral ist hinderlich

Beide entscheiden sich gegen ihr Gewissen und für das eigene Vorankommen. Lovely winkt ein Engagement als Schauspielerin. PT Sir sieht für sich die Chance, innerhalb einer muslimfeindlichen Hindu-Partei Karriere zu machen. Jivan hofft unterdessen im Gefängnis noch immer auf Gerechtigkeit. Einem engagierten Journalisten, der sie dort besucht, erzählt sie von ihrem Lebensweg, um so zu verdeutlichen, dass sie keine Mörderin und Terroristin ist. Die Geschichte, die schließlich gedruckt wird, habe der Herausgeber noch verbessert, berichtet der Journalist verdruckst. Jivan versteht nicht:

"'Meine Geschichte wäre besser, wenn ...' Ich zählte es an den Fingern ab: 'Wenn wir nicht aus unserem alten Zuhause vertrieben worden wären, verstehen Sie? Wenn mein Vater keinen kaputten Rücken hätte, wenn meine Mutter nicht angegriffen worden wäre, weil sie ein kleines Geschäft betreiben wollte. Wenn ich das Geld gehabt hätte, die Schule fertig zu machen.'"

Doch besser im Sinne der Zeitung meint etwas Anderes. Denn Auflage und Leser bringt weniger die Geschichte einer vom Leben nicht begünstigten, unschuldig Inhaftierten, sondern eher die Story einer gefährlichen Terroristin. Für Jivan wird das Gefängnis zur Lebensschule. Am Ende ist sie so hellsichtig und desillusioniert wie die anderen Insassinnen. Wahrheit und Mitmenschlichkeit sind nur hinderlich, Lüge, Betrug und Rücksichtslosigkeit hingegen zahlen sich aus. Das ist die Lektion, die in diesem engagierten, aber allzu vorhersehbaren Politthriller alle zur lernen haben. Manche zahlen dafür einen sehr hohen Preis.
Megha Majumdar: "In Flammen"
aus dem Englischen von Yvonne Eglinger
Piper Verlag, München. 336 Seiten, 22 Euro.