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Mehr als eine Märchentante

Nils Holgersson machte sie weltberühmt. Doch Selma Lagerlöf ist mehr als eine Jugendschriftstellerin mit pädagogischem Ansatz. Sie ist eine der bekanntesten Autorinnen Schwedens, ihre Werke gehören zur Weltliteratur.

Von Eva Pfister | 20.11.2008
    Im Jahr 1909 ging der Literaturnobelpreis zum ersten Mal an eine Frau. Ausgezeichnet wurde Selma Lagerlöf "in Würdigung des hohen Idealismus, der lebendigen Einbildungskraft und der durchgeistigten Darstellung, die sich in ihren Werken offenbaren", so die Begründung.
    Die schwedische Schriftstellerin war damals 51 Jahre alt und bereits weltberühmt. Sie hatte mit ihrem ersten Roman "Gösta Berling" ihren literarischen Durchbruch erzielt und war beliebt durch ihre Erzählungen mit Trollen und Geistern. Den Ruhm jedoch verdankte sie einem Buch, das sie im Auftrag des schwedischen Volksschullehrerverbandes geschrieben hatte:

    "Es war einmal ein Junge. Er war etwa 14 Jahre alt, groß und schlaksig und hatte flachsblondes Haar. Er taugte nicht viel."

    "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen" - mit Selma Lagerlöfs Stimme auf einer Schallplatte verewigt - erschien 1907 als "zeitgemäßes Lesebuch für den Heimatkundeunterricht". Dieser Welterfolg verstellt bis heute den Blick auf die literarische Vielfalt der Autorin. Sie schrieb kaum für Jugendliche. Auch ihre Geistergeschichten entpuppen sich beim genauen Lesen als schauerliche Psychostudien. Schon zu Lebzeiten wehrte sich Selma Lagerlöf dagegen, nur als "Sagotant", also als Märchentante, wahrgenommen zu werden. Aber der Erfolg von "Nils Holgersson" ermöglichte es ihr, das Elternhaus zurückzukaufen, das zehn Jahre zuvor versteigert werden musste.

    Auf Gut Mårbacka im schwedischen Värmland wurde Selma Lagerlöf am 20. November 1858 als viertes Kind des Leutnants Erik Gustav Lagerlöf und seiner Frau Lovisa geboren. Das Gut, die Landschaft und die Menschen ihrer Heimat spielen in ihrem Werk eine wichtige Rolle. Als zentrale Gestalt schimmert ihr Vater durch viele Figuren hindurch, vom trinkfesten Frauenheld Gösta Berling bis zu dem melancholisch-gutherzigen Junggesellen Theodor in der Erzählung "Das Flaumvögelchen". Die traurige Wahrheit, die sich dahinter verbarg, machte der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist öffentlich, der 1997 den Selma-Lagerlöf-Preis erhielt und daraufhin ein Theaterstück über die Autorin schrieb:

    "Ein Glas in fröhlicher Freundesrunde. Ein Lied und ein Glas guten Wein, mitunter. Mitunter jede Minute. - Alles starb weg. Das Gewissen und die Gefühle, alles."

    In "Die Bildermacher", hier als Hörspiel des Saarländischen Rundfunks mit Rosel Zech, lässt Enquist die Nobelpreisträgerin selbst aussprechen, wie sehr sie unter dem Alkoholismus des Vaters litt und wie es ihr dennoch Schuldgefühle bereitete, den Kranken zu verlassen, um gegen seinen Willen in Stockholm eine Ausbildung als Volksschullehrerin zu machen.

    "Wir wussten ja beide, wenn ich fahre, würde er sterben, und wir wussten auch, ich würde meine Meinung nicht ändern."

    Selma Lagerlöf legte großen Wert auf ihre Selbständigkeit und arbeitete zehn Jahre als Lehrerin, bis sie vom Schreiben leben konnte. Sie wurde von Frauen gefördert - und sie liebte Frauen. Mit ihrer Freundin Sophie Elkan unternahm sie lange Reisen durch Europa und den Nahen Osten. Dort recherchierte sie auch für ihren Roman "Jerusalem", der vom Auszug religiös "erweckter" schwedischer Bauern ins Heilige Land berichtet.

    Die Bauern, Fischer oder Köhler in Lagerlöfs Werk sind keine Wesen der Folklore. Die Autorin beschrieb ungeschminkt die Armut der Menschen und auch die Hartherzigkeit der Reichen. Der Kampf gegen Ungerechtigkeit lag Selma Lagerlöf am Herzen, sie engagierte sich in der Frauenbewegung und in der Sozialpolitik. Nach 1933 half sie deutschen Juden, nach Schweden zu fliehen. So rettete sie 1940 auch das Leben von Nelly Sachs. Im gleichen Jahr, am 16. März, starb Selma Lagerlöf an einem Schlaganfall im Alter von 81 Jahren.