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Mehr als satt und sauber

Die Pflege nach Stoppuhr ist eines der größten Probleme in der Betreuung kranker und alter Menschen. Hoffnung auf Besserung knüpft sich an die geplante Reform der Pflegeversicherung. Doch dass Pflege mehr ist als Hilfe zum Ausgleich körperlicher Gebrechen, wird aus Sicht der Pflegenden weiterhin zu wenig berücksichtigt.

Von Eva Hillebrand | 13.12.2007
    "Also ich will Ihnen mal ein Beispiel nennen. Wenn jemand 27-mal am Tag sagt, er muss auf die Toilette, das ist kein Einzelfall, sondern das kommt durchaus vor, dann können Sie das innerhalb des Modulsystems gar nicht abrechnen, aber das sind natürlich Pflegehandlungen, die dann passieren, die ungeheuer viel Zeit kosten und die dann von dem Pflegepersonal tatsächlich gemacht wird."

    Klaus Pawletko vom Verein "Freunde alter Menschen", einer Initiative zur Gründung von Demenz-Wohngemeinschaften, beschreibt eine Situation, die Pflegende fast alltäglich erleben.

    "Also dass dann von 27-mal 25-mal blinder Alarm war, das hilft eben auch nichts. Aber die Zeit ist einfach weg.""

    Oftmals ist diese Zeit aber gar nicht da. Die Pflege nach Stoppuhr ist eines der größten Probleme in der hiesigen Pflegelandschaft.

    Hoffnung auf Besserung knüpft sich an die geplante Reform der Pflegeversicherung. Diese Woche ist das sogenannte Pflege-Weiterentwicklungsgesetz zur ersten Beratung im Bundestag. Wichtige Punkte bei der Neugestaltung sind ein Pflege-TÜV als Kontrollinstanz für die Qualität der Pflege und Pflegestützpunkte zur wohnortnahen Beratung von Pflegebedürftigen. Der viel diskutierte zehntägige bezahlte Pflegeurlaub für Angehörige ist mit der CDU nicht umzusetzen.

    Dem Credo "Ambulant vor stationär", seit Jahren propagiert und gefordert, wird in dem Entwurf kaum Rechnung getragen. Auch eine Erweiterung des Begriffes der Pflegebedürftigkeit lässt auf sich warten. Bislang wird Pflegebedürftigkeit allein über körperliche Defizite definiert. Elisabeth Schwarzenberg, pflegepolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen:

    "Es ist überhaupt nicht zu verstehen, wieso im Moment überhaupt eine Pflegereform gemacht wird, wenn letztlich ein Pflegebegriff überhaupt nicht definiert ist. Also ich kann nicht Dinge entscheiden für eine Situation, die ich heut noch gar nicht definiert habe. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff hätte zum Anfang gehört und dann, darauf aufbauend, hätte man die ganze Pflegereform und den Referentenentwurf erarbeiten müssen."

    Die Politik aber braucht Zeit, denn sie bedarf der Expertise. Das Bundesministerium für Gesundheit hat einen Beirat einberufen, der den Pflegebedürftigkeitsbegriff überarbeiten soll. In einem Jahr wird er auf die Ergebnisse aufbauen, die Pflegewissenschaftler aus Bielefeld im Auftrag der Spitzenverbände der Pflegekassen zu diesem Thema erarbeitet haben.

    Pflegewissenschaft: Das ist eine immer noch relativ unbekannte Disziplin. Ihre Erkenntnisse zu besserer Pflege und deren Finanzierung sind sowohl aus der Pflegepolitik als auch aus der Professionalisierung des Pflegeberufes nicht mehr wegzudenken. In den USA und Kanada startete die Akademisierung der Pflege bereits Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit mehrjähriger Verspätung im Vergleich zu den europäischen Nachbarn wird der Studiengang seit Mitte der 90er Jahre auch in Deutschland angeboten. Die Privatuniversität Witten/Herdecke machte damals den Anfang.

    2003 bis 2005 wurde dort das erste Forschungsprojekt zum personenbezogenen Pflegebudget durchgeführt. Ein solches Budget böte bei der häuslichen Pflege eine Alternative zur Pflege nach Stoppuhr. Denn es ermöglicht eine flexiblere Abrechnung der Pflegeleistungen. Dr. Andreas Büscher, der in Bielefeld an der Neufassung des Pflegebegriffs arbeitet, war Studienleiter des Forschungsprojekts:

    "Das Pflegebudget reflektiert, dass wir bislang ein System haben, was Pflegeleistung in Einzelteile zergliedert, entweder in einzelne Verrichtungen oder in sogenannte Leistungskomplexe in der Pflegeversicherung. Damit ist vorgegeben, welche Leistungen als refinanzierungsbedürftig angesehen werden oder als geeignet, Pflegebedürftigkeit zu bewältigen, aber die sind extern definiert durch Kostenträger, also Pflegekassen und Pflegedienste. Demgegenüber weiß man eigentlich inzwischen, dass Pflegebedürftigkeit sehr viel komplexer ist, dass die Einzelverrichtungen und die Leistungskomplexe nicht geeignet sind, um in jeder Situation tatsächlich die richtige Antwort zu geben."

    Die Pflegedienste offerieren insgesamt 21 verschiedene Leistungskomplexe oder Pflegemodule, die mit einem festen Satz vergütet werden.

    "Für die erweiterte kleine Morgen- oder Abendtoilette gibt es 12,36 Euro.
    Für die Hilfe bei der Nahrungsaufnahme: 10,30 Euro.
    Für Darm- und Blasenentleerung 3,30 Euro.
    Für Lagern und Betten 4,12 Euro."

    Die meisten ambulanten Pflegedienstleiter halten ihre Pflegekräfte aus ökonomischen Gründen dazu an, die einzelnen Leistungskomplexe so schnell wie möglich abzuarbeiten. Die Pfleger mutieren so zu Akkordarbeitern. Mehr als die mechanische, rein körperorientierte Satt- und Sauber-Pflege ist unter diesen Umständen kaum zu leisten. Über das Pflegebudget hingegen könnten Hilfestellungen gekauft werden, die nicht im bisherigen Leistungskatalog stehen.

    "Manche Menschen wollen halt nicht die gleiche Leistung immer wieder zur gleichen Zeit, sondern sie möchten vielleicht anstelle körperbezogener Leistung praktische Anleitungen erfahren, bei bestimmten Fragen, oder sie möchten vielleicht noch einmal über ihre Situation reden, über mögliche Perspektiven, die sie haben. Nebenbei bemerkt, möchte ich sagen, dass ich natürlich weiß, dass das heute auch schon passiert, nur es passiert am Rande der Legalität, weil Leistungen halt in der Form nicht abgerechnet werden können, sondern nur die, die vorher vereinbart waren."

    Das Pflegebudget unterstützt also sogenannte flexiblere Betreuungsarrangements, in die Freunde und Nachbarn so wie Hilfskräfte, die nicht an einen Pflegedienst gebunden sein müssen, miteinbezogen werden. Sie begleiten ihre Schützlinge beim Besuch von Familien und Freunden, gehen mit ihnen spazieren, sie helfen im Haushalt oder beim Umgang mit Behörden. Eines wird das Pflegebudget allerdings nicht verändern: Es soll den Betrag, der den Pflegebedürftigen von den Pflegekassen bewilligt wurde, nicht übersteigen. Die Hilfskräfte sind also nur finanzierbar, wenn sie ihre Leistungen billiger anbieten, als professionelle Pflegekräfte.

    "Von Seiten der Pflegedienste wird es kritisch gesehen, weil die Gefahr gesehen wird, dass halt für drei Euro, für fünf Euro Hilfen eingekauft werden, und da ist natürlich kein Dienst konkurrenzfähig, zu dem Preis. Also ich denke, ein Teil dieser Überlegung ist sicherlich berechtigt, manchmal geht es mir etwas übers Ziel hinaus, wenn vom massiven Arbeitsabbau in der Pflege die Rede ist, das sehe ich im Moment beim Pflegebudget nicht so. Also in der Form kann das bislang niemand nachweisen."

    Neue Akteure in der Pflege - da liegt die Frage nahe. Wer kontrolliert die Pflegequalität?

    "Wenn ich mit dem Budget zulasse, dass auch Menschen, Personen, Organisationen, Dienste anbieten, die nicht diesen Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen haben, dann gebe ich natürlich einen Teil der Kontrolle ab, und den gebe ich ab einmal an die Betroffenen, die das dann selber entscheiden müssen, Seitenbemerkung dazu: wir wissen, dass viele dazu nicht in der Lage sind. Ob die Kontrollmöglichkeiten durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherungen, die wir jetzt haben, dafür ausreichen, wage ich zu bezweifeln. Also je mehr Leute Leistung erbringen können, umso größer ist die Gefahr, dass dort vielleicht auch schlechte Qualität erbracht wird. Also es ist eine Balance."

    Das Budget birgt noch andere Widersprüche: Einerseits wohnt ihm ein Versprechen inne: Die Bezieher können die zur Verfügung stehende Summe flexibler und selbstbestimmter verwenden. Gleichzeitig sollen sie lernen, mit einem festen Betrag auszukommen und diesen optimal einzusetzen. Pflegebedürftige als eigenverantwortliche Kunden, die zum Wachstum des Marktes, in diesem Falle des Pflegemarktes, beitragen. In kaum einem Lebensbereich aber dürfte dieses Idealbild vom Kunden irreführender sein als in der Altenpflege.

    "Es ist ein Bereich, in dem selbst viele Paare Probleme haben miteinander umzugehen. Ständige Überschreitung von Schamgrenzen, von Intimgrenzen, das ist nichts, was man sich wie in einem Kaufhaus anguckt. Sondern das ist etwas, wo man einfach froh ist, wenn es jemanden gibt, der einem Hilfe leistet. Man sollte politischerseits und ökonomischerseits damit aufhören, Pflege als etwas zu betrachten, was ich im Kaufhaus einkaufe. Es entspricht einfach nicht den Realitäten."

    Der Pflegemarkt baut also auf Kunden, deren Entscheidungssouveränität oftmals professionelle Beratung voraussetzt. Diese Beratung soll von Case-Managern, zu Deutsch: Fallmanagern, geleistet werden. Sie vertreten eine anwaltschaftliche Position im Sinne der Betroffenen, gegenüber Behörden und Pflegeanbietern. Im Gespräch mit den Pflegebedürftigen identifizieren sie den nötigen Unterstützungsbedarf, vermitteln die entsprechenden Dienste und erschließen gegebenenfalls Hilfe von Nachbarn oder Freunden. Außerdem sollen sie die ihnen Anvertrauten langfristig begleiten, Versorgungsbrüche vermeiden, Versorgungslücken schließen. Case-Manager scheinen unabdingbar, damit das Pflegebudget funktionieren kann. Allerdings ist noch offen, wer sie bezahlt.

    2004 startete ein weiteres, großes Forschungsprojekt zum Pflegebudget in sieben Regionen der Bundesrepublik, gefördert von den Spitzenverbänden der Pflegeversicherung. Die politische Zustimmung war parteiübergreifend. Ob sie auch dauerhaft ist, wird sich im kommenden Jahr zeigen, wenn die Modellversuche beendet und ausgewertet sind.

    Pflegewissenschaftler denken in ethischen Kategorien. Auch deshalb sind Ihre Erkenntnisse von großer Bedeutung für eine eher effizienzorientierte Politik. Gesellschaftliche Teilhabe, soziale Kontakte, Beziehungspflege statt reiner Körperpflege, all diese Aspekte stehen im Fokus der Pflegewissenschaftler. So arbeitet man in Witten/Herdecke an der Wiedererweckung eines Berufsbildes aus der Mitte des 19.Jahrhunderts und aus der ehemaligen DDR: der Gemeindeschwester. In Anlehnung an den Begriff "Family Health Nurse", geprägt von der Weltgesundheitsorganisation, heißt sie hierzulande Familiengesundheitspflegerin. Dr. Wilfried Schnepp, Inhaber des Lehrstuhls für familienorientierte und gemeindenahe Pflege der privaten Universität Witten/Herdecke.

    "Also im Grunde wollen wir erreichen, dass einmal Gruppen, die bestimmte soziale Probleme haben, die immer ein Gesundheitsrisiko sind, sehr niedrigschwellig begleitet werden, und andererseits, dass Familien, die mit chronischer Krankheit konfrontiert sind, andere Hilfen erhalten, als wie sie sie jetzt bekommen. Und das ist der Ansatz, dass immer versucht wird, in diesen Situationen immer noch möglichst die Ressourcen der Familie aufzudecken und den Familien zu helfen, die Probleme zu lösen und den Weg ins Hilfesystem zu finden."

    Die Familiengesundheitspflegerin soll Menschen aufsuchen, die die Angebote des Gesundheitssystems von sich aus nicht in Anspruch nehmen.

    "Ein alleinlebender alter Mann, dessen Frau verstorben ist und der ein offenes Bein hat, und sie kommt hin und verbindet das Bein, das tut sie jetzt auch, aber künftig soll sie mehr tun. Sie wird zum Beispiel erkennen, dass der Mann sozial isoliert ist, wird mit ihm daran arbeiten, wieder soziale Kontakte zu knüpfen, wird mit ihm an Perspektiven arbeiten, wie seine Zukunft aussehen soll. Da muss man Menschen helfen, sonst wären sie nicht sozial isoliert."

    Einen großen Teil ihrer Arbeitszeit verbringt die Familiengesundheitspflegerin in der Wohnung ihrer Klienten und deren Familie - wobei mit Familie jegliche Form von Lebensgemeinschaft gemeint ist. Ihr Tätigkeitsfeld geht über die individuelle Betreuung von Kranken- und Pflegebedürftigen weit hinaus. Sie widmet sich problematischen Familien schlechthin, in allen Altersgruppen: jungen überforderten Müttern, Kindern, die unter Lernstörungen leiden, Migranten. Sie sucht Kindergärten auf, Schulen und soziale Brennpunkte. Wilfried Schnepp:

    "Die Familiengesundheitspflegerinnen werden an verschiedenen Stellen angekoppelt sein. Das kann einmal sein, wie heute schon, ganz traditionell der ambulante Pflegedienst. Das zweite ist, dass sie angekoppelt sein wird an Hausarztpraxen. Jeder Hausarzt kann eine Krankenschwester einstellen, wenn er das möchte, aber mit anderen Aufgaben. Besonders Langzeitbetreuung und Langzeitbegleitung von Familien mit chronischer Krankheit, das ist enorm wichtig."

    Drittens könnte sie bei den Kommunen angesiedelt sein: entweder beim Gesundheitsamt, in Projekten der Stadtteilarbeit oder an den geplanten Pflegestützpunkten. Inzwischen geht es beim Forschungsprojekt zur Familiengesundheitspflege um die Weiterbildung von Pflegekräften zu den ersten Familiengesundheitspflegerinnen. Die zweijährige Ausbildung kostet 4200 Euro und muss von den Teilnehmern selbst finanziert werden. Brigitte Niepel hat sich für die Fortbildung entschieden, weil sie sich durch den engen Entscheidungsspielraum, der ihr bislang als Krankenpflegerin gewährt wird, gehemmt fühlt. Sie würde gerne mehr Verantwortung übernehmen.

    "Was Pflege angeht, ist ja immer noch der Arzt mit drin, der die Salben verordnet, sie muss immer den Arzt fragen, darf nichts selber entscheiden, sie darf Empfehlungen machen, aber letztendlich ist die abhängig. Ich meine Ärztemangel kommt, und eine Pflegekraft die Erfahrung hat, die vor Ort Menschen beobachtet, die kriegen ja viel mit von den Patienten, und von daher kann sie ganz anders handeln."

    Ganz anders handeln, das hieße für Pflegekräfte zum Beispiel selbstständig Rezepte ausstellen zu können - für Verbandsmaterial, für die Wundversorgung und für alle technischen Hilfsmittel die zu Pflege und Rehabilitation gehören, Gehwagen, Hüftprotektoren, Antidekubitusmatratzen und vieles mehr. In Skandinavien und Großbritannien gehört diese Kompetenz in Kooperation mit dem Hausarzt schon zum Berufsalltag von Pflegekräften.

    In Deutschland wird es bis dahin noch ein weiter Weg sein. Doch schon jetzt verändern sich die Aufgaben der Pflegekräfte. Der Bereich der Prävention gewinnt im deutschen Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung, nicht nur aus Kostengründen. Politik und Pflegeverbände setzen darauf, dass sich Pflegekräfte zukünftig nicht nur um die gesundheitliche Für- sondern auch um die Vorsorge kümmern. Dieser Gedanke spiegelt sich schon jetzt in der Berufsbezeichnung wieder. Was früher der Krankenpfleger war, heißt seit 2004 offiziell Gesundheits- und Krankenpfleger. Das mag als bloßes Wortgeklingel erscheinen, soll auf Dauer aber den präventiven Auftrag der Pflegekräfte in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Im Berufsalltag der Familiengesundheitspflegerin, kurz FGP, ließe sich dieser präventive Aspekt ideal umsetzen, mein Brigitte Niepel:

    "Also eine ganz wichtige oder gute Aufgabe für eine FGP wäre halt auch, den Menschen mal klarzumachen, dass sie sich auch mal um ein bisschen mehr selber kümmern. Wenn man mal überlegt, wie viele Menschen zum Arzt gehen und ihren Körper abgeben: Herr Doktor, machen Sie mal und eigentlich gar nicht drüber nachdenken, dass sie dafür verantwortlich sind, dass es ihr eigener Körper ist. Viele Menschen wissen nicht mal, was sie für Medikamente nehmen, für was die sind, und das finde ich schon sehr erschütternd. Und das ist ja auch eigentlich eine Aufgabe von uns, da mehr in die Eigenverantwortung zu gehen."

    Wenn es in Deutschland jetzt zumindest ein Pilotprojekt zur Familiengesundheitspflegerin gibt, so geschieht dies nicht aufgrund von Initiativen seitens der Politik. Wilfried Schnepp von der Universität Witten/Herdecke:

    "Ich vermute nicht, dass die Familiengesundheitspflege allgemein politisch gewollt ist, sondern wenn man sich anguckt, wie wir zu dieser Pilotstudie Familiengesundheitspflege in Deutschland gekommen sind, dann deshalb, weil das ein Pilotprojekt der Weltgesundheitsbehörde ist. Und da ist Deutschland mit zweijähriger Verzögerung eigentlich seiner Pflicht nachgekommen, nun doch auch das in Deutschland auszuprobieren. Es war viel eher so, dass der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe und ich selbst dann auch sehr viel politische Arbeit im Vorfeld gemacht haben, damit überhaupt Familiengesundheitspflege auf der Ebene eines Pilotprojekts ausprobiert werden darf. Ich denke, dass die Gesundheitspolitik in Sachen Pflege sehr ahnungslos ist in Deutschland, auch Vieles verpasst hat und sich nur sehr schwer bewegt."

    Doch allein aufgrund des Ärztemangels in ländlichen Gebieten, allen voran Mecklenburg-Vorpommern, übernehmen Pflegekräfte schon jetzt mehr Aufgaben. Und auch die Krankenhauslandschaft verändert sich rapide.

    "Es werden sehr viele Krankenhäuser schließen. Krankenhäuser, die es dann noch gibt, werden unter enormem Kostendruck in ganz knapper Zeit sehr viel leisten müssen, und es wird niemand mehr erwarten können, dass jemand ein Krankenhaus geheilt verlässt."

    Patienten, die noch der medizinischen Behandlung und Aufsicht, der Bettruhe oder der körperlichen Unterstützung bedürfen, müssen dann also woanders geheilt werden. Schon innerhalb der nächsten Jahre werden sich sowohl das Berufsbild als auch die Einsatzorte von Pflegekräften immens verändern, prognostiziert Wilfried Schnepp.

    "Die werden ambulant tätig sein, die werden selber praktizieren, die werden in, was weiß ich, Pflegehotels arbeiten, die Krankenhäusern angeschlossen sind, wo wirklich Pflegebedürftige versorgt werden, die sind in Wohngemeinschaften mit pflegebedürftigen Menschen zu finden, die werden sehr viel stärker kommunal angebunden sein und arbeiten, aber das Krankenhaus ist nicht mehr der Ort, wo sich Pflegebedürftigkeit in Zukunft langfristig abspielen wird."

    Die Zeiten, in denen die Betreuung von Kranken allein eine Angelegenheit der Medizin waren, neigen sich dem Ende zu. In der Politik scheint dieser Erkenntnisprozess voranzuschreiten. Auf Seiten der Mediziner wird noch gemauert. Professor Rolf Rosenbrock, Leiter der Abteilung Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin.

    "Es gibt heute sehr viel Leistungen, die unter dem Medizinervorbehalt stehen, die mit gleicher oder höherer Qualität von Pflegekräften erledigt werden könnten. Und es ist ja da auch sehr viel Bewegung auf Seiten der Pflege, leider sehr viel weniger Bereitschaft, dem zuzuhören auf Seiten der Medizin. Aber wenn ich auf die letzten 15 Jahre blicke, dann muss ich sagen, ist die Pflege auf einem erfolgreichen Weg, nicht zuletzt durch ihre Akademisierung und Professionalisierung, und ich glaube, dass immer mehr Tätigkeitsfelder in Zukunft nur noch vernünftig geregelt werden können, wenn Medizin nicht mehr die geborene Chefin der Pflege ist, sondern wenn es sich um zwei gleichberechtigte Professionen handelt, die in Ansehen der jeweiligen Kompetenzen und Schwächen fair darüber reden, wer was machen wird."