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Mehr ein Zustand als eine Entwicklung

In ihrem Roman "Rødby – Puttgarden" erzählt die dänische Autorin Helle Helle die Geschichte von den Schwestern Tine und Jane - in der eigentlich kaum etwas passiert. Doch genau das macht den Reiz daran aus.

Von Martin Grzimek | 25.01.2011
    "Unsere Mutter hat immer gesagt, das mit der Ordnung sei bei uns wohl ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Ich hatte den Ausdruck nie verstanden. Ich musste an einen Fluss denken, und ich sah Tine und mich forttreiben, jede auf ihrem eigenen Floß. Unsere Mutter stand am Ufer und rechte Laub zusammen. Ich weiß nicht, wo das mit dem Laub herkam, wir hatten nie einen Garten gehabt. Tine sagte, Ordnung sei nur etwas für alte, verbitterte Menschen. Unsere Mutter sagte, sie solle ihre Zunge hüten."

    Tine und Jane, die Erzählerin, sind die handelnden Hauptfiguren in dem von Flora Fink flüssig übersetzten Roman "Rødby – Puttgarden" der 45-jährigen dänischen Autorin Helle Helle. Tine ist fünf Jahre älter als ihre Halbschwester, hat ein Baby, lebt in Rødby in einer Wohnsiedlung und genießt gerade die letzten Monate ihres Erziehungsurlaubs. Jane ist nach einer abgebrochenen Ausbildung als Ergotherapeutin aus Næstved zu ihrer Schwester gezogen. Die beiden verstehen sich gut, kümmern sich um die kleine Ditte, und Tine hat Jane auf der Fähre Rødby - Puttgarden im Duty-free-Shop einen Job als Parfümverkäuferin verschafft, wo sie normalerweise auch selbst arbeitet.

    Da in Rødby jeder jeden kennt und die Handlung Mitte der 80er-Jahre spielt, helfen die Leute sich gegenseitig, und die jungen Männer sind noch ganz harmlos. Man trinkt ein bisschen Wodka mit Saft, liegt auf dem Sofa, unterhält sich über Belangloses und ist am liebsten zu Hause in den eigenen vier Wänden. Jane verliert sich bisweilen in Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, denkt an die früh verstorbene Mutter und findet sich schnell in ihre neue Arbeit auf dem Fährschiff ein. Die Gegenwart ist ein Nebeneinanderher einfacher, meist häuslicher Tätigkeiten, kurzer Gespräche über das, was so passiert ist, und Bilder aus der eigenen Vergangenheit, die man anschauen kann wie Fotos in einem Familienalbum – ohne Fragen, ohne Hintergedanken und anscheinend ohne den Wunsch, sich über das eigene Leben klar zu werden.

    Man liebt die Sonne wie den Schnee, weil sie einfach da sind. Um mal rauszukommen, geht man um den Häuserblock, oder man fährt mit dem Zug in die nächste größere Stadt. Da bleibt der Zug plötzlich mitten auf der Strecke wegen der schlechten Witterung stehen. Man könnte enttäuscht sein, dass aus der Shoppingtour nichts wird, steigt aber einfach aus und geht die paar Kilometer zu Fuß zurück nach Hause, wo es immer noch am schönsten ist. Die Schwestern holen sich eine Pizza, essen Weißbrot mit Würstchen oder kochen sich etwas.

    "(Aber) wir mochten beide dieselben guten alten Gerichte mit Soße. Und wir lagen beide gern auf dem Sofa, besonders ich. Dazu kam unsere gemeinsame Begeisterung für Donnerstage mit Illustrierten und Kuchen vom Bäcker. Unsere Mutter hatte uns auf den Geschmack gebracht, Donnerstag war immer der Höhepunkt der Woche gewesen. Zu dieser Tradition gehörte auch der immergleiche Wortwechsel: - Weißt du was?, fragte die eine. – Nein, und ich will es gerne selbst lesen, sagte die andere."

    Der knappe, emotionslose Erzählstil Helle Helles ist sicher nicht jedermanns Sache, man muss sich gewissermaßen daran gewöhnen, einer Geschichte zuzuhören, in der kaum etwas geschieht. Auffallend ist, welche untergeordnete, meist abwesende Rolle die Männer in diesem Roman spielen. Nicht nur die Mutter der beiden Halbschwestern lebte allein, sondern auch schon deren Großmutter. Tine und Jane setzen diese Tradition fort, denn Tine hat keinen Kontakt zu Dittes Vater, einem Isländer, der auf der Durchreise war, und Jane knüpft lose Beziehungen zu Schiffskollegen, mit denen sie mal den einen oder anderen Abend verbringt. Die Männer, die mit ihren Frauen oder Müttern in der Nachbarschaft der Schwestern wohnen, sind hilfsbereit, aber gesichtslos, alt oder vertrottelt – und sterben, wie es der Zufall will, einer nach dem anderen.

    Da ist etwa der alternde Bo, der den ganzen Roman hindurch einen Schaukelstuhl Tines repariert, oder Abel, ein Elektriker, dem Jane für ein Wochenende nach Hamburg folgt, um dort zufällig Jens kennenzulernen, einen Kollegen von Abel. Sie bleibt eine Nacht bei ihm – dann muss sie wieder auf die Fähre und im Parfümladen ihren Dienst tun. Wie an allen anderen Tagen, wenn sie nicht arbeiten gehen muss, wird sie dann wieder in Tines Wohnung auf dem Sofa sitzen und dort einschlafen.

    "Ich wachte erst am Nachmittag wieder auf, die Wohnung war leer, und im Wohnzimmer stand der Schaukelstuhl verkehrt herum, noch immer nur mit einer Schiene. Der Fußboden war voller Sägemehl, und Tine hatte einen Zettel auf den Couchtisch gelegt: "Wir bringen Bo nach Hause und kaufen auf dem Rückweg noch ein." Ich faltete den Zettel zusammen und brachte ihn in mein Zimmer. Ich hob alle Zettel auf, die mir jemand schrieb. Ich konnte sie nicht wegwerfen, vielleicht würde ich sie eines Tages noch einmal lesen wollen."

    Solch spröder Witz in den Schilderungen, Beobachtungen und Mitteilungen ist Helle Helle, geborene Helle Olsen, aufgewachsen auf Lolland, wo dieser Roman auch spielt, von der Kritik hoch angerechnet worden. Hinter dem Unspektakulären vermutet man einen tieferen Sinn, das nahezu protokollierende Aufschreiben alltäglicher Verrichtungen verberge Sehnsüchte und verschwiegene Bedürfnisse, unter dem nicht gesagten blubbere wie Blasen das Bedeutungsvolle herauf. Leider gibt der Roman selbst keine Hinweise darauf, was sein tieferer Sinn sein könnte, welche Emotionen nicht zur Sprache kommen, was seine Bedeutung sei oder was sich hinter dem Versteckten versteckt. Und ich denke, er will es auch gar nicht. " Rødby-Puttgarden" beschreibt einfach nur einen Zustand, bestenfalls einen Übergang von einer Entwicklungsphase in eine andere und fühlt sich, wie die Erzählerin in der Wohnung ihrer Schwester, darin zu Hause. Wie auf einer Fähre des Lebens kommen und gehen die Passagiere, wie in der Nachbarschaft leben die Leute weiter oder sterben.

    In dieser Hinsicht trifft Helle Helle mit ihrem Roman einen Nerv unserer Zeit: Die stille Zufriedenheit mit dem Unbeteiligtsein gegenüber den Geschehnissen um uns herum. In einem Interview hat Helle Helle dazu gesagt: "Vielleicht hat Jane" – also das Ich der Erzählerin – "nicht den Überschuss an Energie, der nötig ist, um sich für etwas anderes als nur für das ganz Naheliegende zu interessieren." In Dänemark war Helles Roman äußerst erfolgreich und wurde mit Preisen und Auszeichnungen bedacht. "Rødby-Puttgarden", so scheint es, zeigt vielen ihr Spiegelbild, und sie können sich tief in die Augen sehen, ohne etwas entdecken zu müssen.

    Helle Helle: Rødby - Puttgarden. Roman. Aus dem Dänischen von Flora Fink. Dörlemann Verlag, Zürich 2010. 285 Seiten, 19,90 Euro