Mittwoch, 24. April 2024

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Meilensteine der Klavierkunst
Ein Mann, vier Flügel

Die Aufnahme will nicht "historisch korrekt" sein, das schickt Alexander Melnikov vorneweg. Und doch geht es ihm darum Werke auf den Instrumenten ihrer Zeit zu verstehen, sie zu erschließen. Schubert, Chopin, Liszt, Strawinsky: Für jeden Komponisten wählt er darum einen anderen Flügel. Ein Ohren-Öffner.

Von Christoph Vratz | 04.04.2018
    Der Pianist Alexander Melnikov
    Der Pianist Alexander Melnikov (Josep Molina)
    Mit Franz Schuberts so genannter "Wanderer-Fantasie" eröffnet Alexander Melnikov sein neues Album, auf dem er Werke von Schubert, Chopin, Liszt und Strawinsky präsentiert – an vier verschiedenen Flügeln, die auf die jeweilige Entstehungszeit der Kompositionen Bezug nehmen. Für die Schubert-Fantasie hat Melnikov einen Alois Graff-Flügel aus Wien ausgewählt, Baujahr um 1830. Nach dem stürmischen Beginn mutiert das erste Thema plötzlich zu einem kurzen, intimen Bekenntnis.
    Musik: Schubert, Wanderer-Fantasie 1. Satz
    In seinem fundiert-informativen Beiheft-Text erklärt Melnikov, dass er in keiner Weise "historisch korrekt" spielen wolle und könne. Denn die Einbettung in den geschichtlichen Kontext lasse sich nur in begrenztem Maße realisieren.
    Dennoch ist beeindruckend, wie stilsicher Melnikov auf diesen Flügeln agiert, was Dynamik, Phrasierung, Ausdruckskraft und Tempi betrifft. Geradezu umstürzlerisch etwa eröffnet er das Presto der "Wanderer-Fantasie", obwohl dieser Graff-Flügel über weit weniger Kraftressourcen verfügt als ein Instrument von heute.
    Musik: Schubert, Wanderer-Fantasie
    Für die zwölf Etüden op. 10 von Frédéric Chopin hat Melnikov einen Érard-Flügel von 1837 ausgewählt. Dieses Instrument wurde, wie der Graff, in der Werkstatt des niederländischen Klavier-Restaurators Edwin Beunk aufbereitet; Melnikov und Beunk verbindet seit vielen Jahren eine enge, auch auf diversen CDs dokumentierte Zusammenarbeit.
    Musik: Chopin, Etüde op. 10, 1
    Erard-Flügel sind gerade für das "jeu perlé", das geperlte Spiel, bestens geeignet. Daher zählte auch Chopin sie zu seinen Favoriten. Melnikov beweist eine große Variabilität beim Anschlag. Mal kommen die Mittelstimmen unverhofft deutlich zur Geltung, mal überführt er eine scheinbar heitere Grundstimmung in eine Atmosphäre des Nervösen, Zerbrechlichen, wie in der C-Dur-Etüde.
    Musik: Chopin, Etüde op. 10, 7
    Auf Chopin folgt Franz Liszt: Die "Réminiscences de Don Juan" spielt Alexander Melnikov an einem Bösendorfer-Flügel von 1875 (der mit den heutigen Instrumenten gleichen Namens kaum mehr etwas gemeinsam hat). Die so genannte Wiener Mechanik erlaubt vor allem einen schnellen Anschlag. Das zeigt sich bereits in der Einleitung: Der säulenartigen Gewichtung der Bassakkorde stellt Melnikov die filigranen, fast blitzartigen Läufe der rechten Hand gegenüber.
    Musik: Liszt, Réminiscences de Don Juan
    Alexander Melnikov erweist sich auf dieser CD als Ohren-Öffner. Er erlaubt dem Hörer den Eintritt in verschiedene Klavier-Welten, er lässt erahnen, unter welchen Rahmenbedingungen die Werke entstehen konnten. Dank seiner Flexibilität, seiner hohen technischen und gestalterischen Fähigkeiten ist diese Aufnahme weit mehr als klingende Pädagogik. Sie ist eine Bereicherung, musikalisch und programmatisch. Abschließend spielt Melnikov die drei "Petruschka"-Sätze von Igor Strawinsky – auf einem modernen Flügel, den er einerseits wie ein Schlaginstrument nutzt und der andererseits wie die Reduktion eines ganzen Orchesters klingt.
    Vier Klaviere - vier Werke
    Werke von Schubert, Chopin, Liszt und Strawinski
    Alexander Melnikov, Klavier
    harmonia mundi