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Mein heimliches Auge. Das Jahrbuch der Erotik

Rosen vom Staatsanwalt hat sie nicht zu erwarten, die tapfere und brillante Verlegerin eines "Jahrbuchs der Erotik: schon gar nicht von jenem Vertreter des gesunden Volksempfindens, der den bislang letzten unter zahllosen Prozessen gegen sie verlor. Der nämlich hatte Claudia Gehrke, die Herausgeberin des Heimlichen Auges (so heißt das Jahrbuch) derart erbittert und erbost verfolgt, als gälte es eine Teufelsaustreibung zu veranstalten. Nicht Kriege, Kindersterben, millionenfacher Hungertod oder Völkermord bedrückten diesen Sittenwächter, sondern umgekehrt: Der Menschen Sehnsucht nach irdischem Glück erschien ihm als das Grunddübel unserer Epoche.

Eike Gebhard | 28.03.2001
    Da es nun aber gegen Glücksstreben keine Gesetze gibt (ja, manche Staaten - wie die USA - diesem Streben gar Verfassungsrang zubilligen), musste eine andere, gleichsam handgreifliche Gefahr beschworen werden: Pornographie. Und nicht etwa die zunehmende Gewalt unter Jugendlichen, sondern ihre Verführbarkeit zu zügelloser Erotik besorgte - allen Jugendstudien zum Trotz - diesen Herren. Das Jugendschutzgesetz war gefordert. Nicht auszudenken, was für ein unauslöschliches Trauma der Anblick erigierter Brustwarzen für Kinder bedeuten könnte, von den Spätfolgen ganz zu schweigen; solche Bilder verfolgen einen noch im Erwachsenenalter, nachts, in Albträumen. Da kann keine Folter, keine soziale Demütigung, keine Messerstecherei mithalten.

    Der Richter allerdings ließ sich von derart eifernder Pedanterie nicht sonderlich beeindrucken und wischte die Anklage der Pornographie vom Tisch. Es wäre auch allzu verwunderlich, wenn sich all die großen Namen der Literatur und Philosophie, die ihre Beiträge gern im dem inkriminierten Magazin veröffentlichten, kollektiv als Pornographen outen müssten - darunter Oskar Pastior, Adolf Muschg, Peter Schneider, Dietmar Kamper, Gisela Dischner, Peter Brückner, Rita Bischoff und zahllose andere. Texte von Bataille, Blanchot, Genet, Foucault und anderen Klassikern der Moderne reichern regelmäßig die Diskussion und Reflexion an - allein schon dieser Aspekt würde genügen, das Jahrbuch von purem Porno abzusetzen. In guter alter Tradition wird der soziale Stellenwert der Sexualität - die sexuellen Motive, Sex als Umgangsform, Sexualität und Macht - an den Fronten der Wissenschaft durchgespielt. Und viele Prominente aus Kultur und Wissenschaft, die den Playboy scheu verstecken würden, bekennen sich auch öffentlich als Leser oder fröhlichen Voyeur.

    Dass dieses Machwerk trotz aller Prozesse letztlich doch nie auf den Index kam, ist der beamteten Gedankenpolizei (die so verständnisvoll und einfühlsam über unser Liebesleben wacht) gerade deshalb ein Dorn im Heimlichen Auge, weil es sich eben nicht in die Schmuddelecke abdrängen lässt. Es sei denn, Aufklärung ist Schmuddelkram - just mit dem Doppelsinn des Wortes 'Aufklärung' spielt Gehrke zugegebenermaßen gern. Und dass die Sexualität eine sozial subversive Kraft sei, gehört zu dieser antiautoritären Tradition - nicht umsonst gilt die (angebliche) 'Pornographie' des 18. Jahrhunderts heute als wichtigstes Populär-Medium der sozialen Emanzipation - selbst unter seriösen Feministinnen. Denn erstens ließ sich, im Gegensatz zu den korrumpierbaren Instanzen Gefühl und Verstand, der körperliche Glücksanspruch nie ideologisch ganz vereinnahmen - der Körper sei der schärfste Kritiker der Verhältnisse, heißt es noch heute unter Psychosomatikern; gerade der körperliche Glücksanspruch - daher von allerlei Autoritäten auch geschmäht - erwies sich nämlich immer wieder als Quelle des Widerstands gegen jede Form der Gehirnwäsche, betonen unisono hochreputable Historiker von Robert Darnton bis Margret Jacobs. Denn gerade Frauen sahen und erlebten immer wieder, daß jene Tugendwächter selber dem geschmähten Glücke frönten, oft unter Ausnutzung ihrer Schützlinge. Die Porno-Literatur der Aufklärung war genau das: die Avantgarde der Aufklärung über falsche Autoritäten.

    Und genau an diesen Leitmotiven orientiert sich das HA - mit der Gewichtung auf die Sicht, die Sehnsucht, das Selbstbild, die Erwartung und folglich das Erlebnis der Frau im erotischen Umgang? Es ist ein himmelweiter, nicht nur ein kleiner Unterschied zum Vulgärfeminismus einer Alice Schwarzer: hier nämlich geht es nicht um Schärfung des Feindprofils, sondern um die Erforschung noch immer fremder Kontinente: fast ein Jahrhundert nach Sigmund Freuds verblüffter und verständnisloser Frage: "Was will das Weib?" sind wir der Antwort kein Stück näher - wohl weil sie immer per Dekret geregelt wurde. In solchen Sachen gibt's nur eine Form der Wahrheitsfindung: das Experiment, und d.h., das ganze Spektrum sexueller Erlebnismöglichkeiten durchzuspielen. Und genau das bietet das HA an. Dass diese Art experimentellen Lebens sich mit stabilen sozialen Rollenidealen beißt, ja dass es letztlich auf ein selbstbestimmtes Leben zielt, erklärt die Allergie der konservativen wie der vulgärfeministischen Ideologen gegen das HA.

    Ganz selbstverständlich sind hier sämtliche sexuellen Vorlieben und Varianten legitim, auch alle Rollen oder Rollenspiele - solange sie freiwillig und immer wieder revidierbar sind. Den Begriff des Perversen wird man vergeblich suchen, ebenso wie jene ewig und notwendig scheiternden Versuche einer Grenzziehung zur Pornographie. "Pervers nennen wir alles, was wir nicht genießen können", spottete dereinst die amerikanische Feministin Sally Tisdale. Ganz unabhängig von dieser Einstellung, die auch Gehrke teilen würde, sucht man vergeblich nach Pädophilie, nach blutiger Gewalt, nach Sodomie - es sei denn, sie ist, wie so viele Themen im HA, ironisch gebrochen und eingebunden in eine multiperspektivische Debatte übe die Ambivalenzen sexuellen Erlebens.

    Gehrke scheut ja keineswegs die Möglichkeit erotischer "Erregung" - schließlich ist Erotik nur für Mediziner und Sozialwissenschaftler ein rein akademisches Thema, und schon bei den letzteren gibt es eine Forschungsmethode, die sich "teilnehmende Beobachtung" nennt. Ähnlich muß man wohl auch Gehrkes Erkenntnisinteresse begreifen: Erotik ist eben auch eine Erlebnisform - und das Lernen über andere Gebräuche, Vorlieben, Praktiken ist selber ja ein Lusterlebnis. Und eben ein aufklärerisches - so wie jeder Pluralismus, jeder Zuwachs an Optionen tendenziell aufklärend wirkt. Die Entdeckerfreude ist denn auch unverkennbar das Prinzip des Heimlichen Auges: Der Titel ist Programm. Zwei Leitmotive ziehen sich durch alle Hefte: Das eine: "Körperpoesie", das andere: "Inszenierte Lust" - teilnehmende Beobachtung eben, die vom Wechselspiel der Schaulust und des Exhibitionismus lebt: die Körperpoesie als Dialog.

    In jeder sexuellen 'Begegnung' rollt ein Machtspiel ab, ein Versuch, das Gegenüber für die eigenen Träume, Sehnsüchte, Bedürfnisse, Lüste einzusetzen, kurzum: ein Gegenüber zum Objekt zu machen. Das ist, entgegen aller düsteren Rhetorik, nichts Unmoralisches, solange diese Rollenverteilung - wie jede Rolle - freiwillig und jederzeit revidierbar ist. Sich zum Objekt machen zu lassen, ist vermutlich nichts als die Kunst der Hingabe, und jemanden zum Objekt zu machen, zum Objekt der Begierde, ist vielleicht nur jener Traum Pygmalions, daß eine Sehnsucht ihre Entsprechung finden möge. Barbara Sichtermann mahnte schon vor zwei Jahrzehnten jene Gegenseitigkeit an: dass Männer lernen müssten, sich zum Objekt machen zu lassen - und Frauen, ihr Gegenüber zum Objekt zu machen. Die erste Stufe ist ja immer die visuelle Objektivierung, das visuelle Vorspiel.

    Und in dieser Arena treten die Unterschiede wohl am deutlichsten hervor zu jener billigen banalen Pornographie, die manche pauschal mit der Darstellung expliziter Sexulität verbinden. Lange und tapfer hat Gehrke für die Rettung des Genres und seine Nutzung für eher weibliche Sichtweisen gekämpft - eine Sexualität, die eher den interaktiven Aspekt, den sozialen, die Erotik als Umgangsform betont

    Nun hatten ja jene Feministinnen um die Zeitschrift Emma, die für ihre heterosexuellen Schwestern nur Mitleid und Verachtung übrig hatten (und für manche, die sie für Kollaborateusen hielten, nicht einmal Mitleid - wer mit Männern verkehrte, war selber schuld, denn, so eine Schlagzeile: "Die Giftspritze muss weg") - nun hatten ja diese ach so friedlichen Frauen Pornographie zur reinen Männersache erklärt. Dass dabei die Ergebnisse einer Kommission des amerikanischen Justizminsteriums z.T. gefälscht werden mussten, ging im Lärm um einen Gesetzesantrag unter, der Pornographie grundsätzlich als eine Form der Gewalt gegen Frauen verbieten sollte. Penetration ist Vergewaltigung, hieß es bei einer - von Emma fast heiliggesprochenen - US-Autorin, und schon sog. Reizwäsche erschien damit als Anstiftung zur Gewalt.

    Das ging seriösen Feministinnen denn doch zu weit. Da hatten sie Jahrzehnte für sexuelle Selbstbestimmung gekämpft, und nun kam schon wieder ein Mann, der ihnen sagen wollte, wo's langging - nur dass der Mann diesmal Alice Schwarzer hieß. Bekannte Autorinnen taten sich zusammen zu einer Gegen-Kampagne, und einige der prominentesten Namen fanden sich ein einem von Gerke herausgegebenen Band Frauen und Pornographie zusammen, um diese Selbstbestimmung öffentlich gegen solche Usurpatorinnen zu verteidigen. Fazit: Der Vulgärfeminismus ist der ärgste Feind der Frauenbewegung - er nimmt den Feinden alle Arbeit ab.

    Gerade eine Zeitschrift, die sich allen Facetten weiblicher Erotik widmete, konnte weder die Abwehr heterosexueller Lust noch die Schmähung bestimmter sexueller Fantasien, inklusive Gewaltphantasien akzeptieren, geschweige unterstützen. Sexuelle Gewaltfantasien sind zwar unter Lesben noch häufiger als unter heterosexuellen Frauen, dennoch wird kaum jemand die Fantasie mit der Wirklichkeit tauschen wollen. Vielmehr dienen diese Fantasien dazu, Scham, Gewissen und Konvention kurzfristig außer Kraft zu setzen, um Lust zu ermöglichen Überwältigt zu werden gestattet, unter dem Schutz der Machtlosigkeit diverse Fantasien auszuleben, schrieb die Filmemacherin Jutta Brückner - auch Gewaltphantasien können so zur sexuellen Befreiung beitragen.

    Nie schläft der Feind der Lust und Liebe - aus jedem neuen Anreiz erwächst eine neue Herausforderung für die sexuellen Ordnungspolitiker, Glücksstreben und Selbstbestimmung als asozial zu indizieren. Dem mutigen, auf-, an- und erregenden Jahrbuch sind noch viele weitere Geburtstage zu wünschen.