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"Mein NEIN ist dieses Buch"

Fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch hat Martha Gellhorn Kriege beobachtet. Sie schrieb über die Einsamkeit der Verletzten und Verstümmelten - und immer wieder über die Einsamkeit der Kinder, die in Hospitalbetten lagen. Letztendlich wollte sie mit all diesen Texten aber eines aufzeigen: die katastrophalen Pervertierungen des Kriegshandwerks.

Von Eberhard Falcke | 27.01.2013
    Kriege gehören nicht zu den erstrebenswerten Erfahrungen. Darüber sind sich alle im klaren, die ihre Sinne beisammen, halbwegs intakte humane Empfindungen und hinreichend menschliche Vernunft besitzen. Martha Gellhorn fehlte es an nichts von alledem, und trotzdem ist sie immer wieder hingegangen, wenn Krieg geführt wurde, fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch. So wurde sie zur legendären Kriegsreporterin, der besten ihrer Zeit, wie manche mit guten Gründen sagen. Es kam ihr darauf an, wie sie einmal in einem Brief schrieb, sich anzusehen "wie die Welt funktioniert und wie die Menschen darin mit ihren Katastrophen umgehen".

    "Die Führer der Welt scheinen auf merkwürdige Weise in Privatfehden verstrickt zu sein. Sie sausen in Flugzeugen um den Erdball und walten ihres olympischen Amtes; und sie reden und reden, unablässig, als Selbstreklame. Ihr Gerede hört sich an, als ob sie glaubten, ein Atomkrieg könnte gewonnen oder verloren werden ...
    Die Führer der Welt scheinen mit dem Leben hier unten auf der Erde die Fühlung verloren zu haben. Denn wir werden geführt und müssen folgen, ob wir wollen oder nicht. Aber wir müssen nicht schweigend folgen. Als eine von den Millionen Geführten werde ich mich auf dieser hirnverbrannten Straße ins Nichts kein Stück mehr weitertreiben lassen, ohne meine Stimme zum Protest zu erheben. Mein NEIN wird so wirksam sein wie ein Grillenzirpen. Mein NEIN ist dieses Buch."


    Die Einleitung, die Martha Gellhorn 1959 zu ihren gesammelten Kriegsreportagen schrieb, ist ein Statement, das es mit Stéphane Hessels "Empört Euch" locker aufnehmen kann. Der Titel "The Face of War", "Das Gesicht des Kriege", den das Buch schon in seiner ersten Ausgabe trug, war schnell als Programm und Korrektur gängiger Sichtweisen erkennbar. Mit dem Fortschreiten von Zeit und Arbeit wurde die Sammlung verändert und erweitert, insgesamt erschienen vier Versionen, die letzte und vollständigste 1988. Darauf basiert die deutsche Ausgabe, die der Zürcher Dörlemann Verlag nun in überarbeiteter Übersetzung erneut herausbringt. Damit erweitert er seine Martha-Gellhorn-Edition, die bisher drei Novellen-Bände, eine Briefausgabe und eine Sammlung mit Reiseberichten umfasst, um einen entscheidenden Titel. Denn nichts von dem, was Martha Gellhorn je geschrieben hat, wurde für ihren Ruhm, ihre öffentliche Rolle und wohl auch für ihre eigene Weltsicht so bedeutsam, wie ihre Kriegsreportagen. Und, das sei mit allem Respekt gesagt: Sie brachte für diese Tätigkeit besonders günstige Voraussetzungen mit. Im Alter von 33 Jahren bilanzierte sie in einem Brief mit der ihr eigenen Unverblümtheit hinsichtlich eigener Stärken und Schwächen:

    "Ich wäre wirklich ein ziemliches Mannsbild geworden, und als Frau bin ich bloß ein Ärgernis, ein Problem, etwas, das ganz sicher nirgendwohin gehört und nie ganz zufrieden oder erfüllt sein wird. [...] Ich will die Hölle auf Rädern sein oder tot."

    Noch mit 81 Jahren reiste sie kurz entschlossen nach Panama, um sich über die US-Intervention von 1989 ihr Urteil zu bilden. Erst Anfang der 90er-Jahre, als die Jugoslawienkriege begannen, gestattete sie sich, aus Altersgründen zu Hause zu bleiben.

    Für den Ersten Weltkrieg hingegen war sie zu jung. Martha Gellhorn wurde 1908 in St. Louis, Missouri geboren, als Tochter einer Frauenrechtlerin und eines Gynäkologen. Ihr Lebensziel war es, Schriftstellerin zu werden, und das erreichte sie auch. Nur dass ihr rein literarischer Ruhm dann doch überstrahlt wurde von ihren aufsehenerregenden Meriten als furchtlose Reporterin, die vor keiner Front, keinem Risiko, keiner Strapaze zurückschreckte. Der Stoff, der sie am mächtigsten anzog, waren die Geschehnisse der Welt, und die drängten damals in solch dramatischer Fülle an den Tag, dass sie ihnen bei ihrem Temperament besser als Journalistin und Reporterin beikommen konnte denn als Autorin literarischer Werke.

    Mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs schlug ihre Stunde. Das war der Moment, in dem für linke und progressive Geister an die Stelle der schönen Hoffnung auf Frieden der antifaschistische Kampf treten musste. Allein die Reise in die von Franco-Truppen bedrängte Spanische Republik war schon eine Solidaritätserklärung. Martha Gellhorn fuhr hin, um für die Zeitschrift "Collier's", ein Gründungsorgan des investigativen Journalismus, zu berichten. Doch obwohl es an Engagement nicht fehlte, wusste sie 1937 im düsteren, von Granattrichtern übersäten Madrid erst einmal nicht, wie sie die Sache angehen sollte.

    "Ich zottelte hinter den Kriegsberichterstattern her, erfahrenen Männern, die eine ernste Arbeit zu tun hatten. Immer noch machte ich nichts anderes, als etwas Spanisch zu lernen und einiges über den Krieg zu erfahren. Das waren armselige Bemühungen, und Wochen nach meiner Ankunft in Madrid meinte ein befreundeter Journalist eines Tages, ich solle doch schreiben. Aber wie konnte ich über den Krieg schreiben? Musste nicht irgend etwas Gewaltiges und Endgültiges passieren, bevor man einen Artikel schreiben konnte? Mein Journalistenfreund schlug mir vor, über Madrid zu schreiben. Wieso sollte das irgendwen interessieren?, fragte ich. Es sei Alltag. Er machte mir klar, dass es kein gewöhnlicher Alltag war. So fing das an."

    Damit hatte Martha Gellhorn auch schon die wesentlichen Grundzüge ihrer Methode der Kriegsberichterstattung gefunden. Sie schrieb über die katastrophalen Pervertierungen des Kriegshandwerks im 20. Jahrhunderts. Dazu gehört die rückhaltlose Ausdehnung der Kriegführung auf die Zivilbevölkerung, die es im Ersten Weltkrieg noch nicht gegeben hatte. Aus dem bombardierten Helsinki schrieb sie im November 1939 an Hemingway:

    "Ich habe inzwischen zuviel gesehen in meinem Leben; ich versichere Dir, noch nie habe ich erlebt, dass den Unschuldigen und Unbewaffneten etwas anderes widerfahren wäre, als gejagt und zerstört zu werden. Es ist ein zutiefst entmutigender Anblick."

    Also entschied sie sich für die Perspektive der Menschen, seien sie nun Zivilisten oder Kombattanten. In Madrid begleitete sie die Bewohner durch den Alltag in den Bars, Restaurants, Theatern, Parks, einen Alltag unter Granatenbeschuss, durch den Häuser zerrissen, Menschen in die Hölle der Schmerzen gestoßen oder ausgelöscht wurden und in dem dennoch unablässig an der Organisation des Überlebens gearbeitet wurde. Auf der nächsten Station berichtete sie vom sowjetischen Überfall auf Finnland, einem Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, und bewunderte, wie sich die Finnen mit pragmatischer Beherztheit gegen den Aggressor zur Wehr setzten. Dabei traf sie zum ersten Mal auf einen der gefangenen Gegner, einen russischen Piloten, einen von denen also, die man unter dem Bombenhagel still verflucht hatte.

    "Wir gingen ins Gefängnis von Viipuri, um die festgenommenen Russen zu besuchen. Der Direktor unterhielt sich mit einem sowjetischen Flieger auf russisch. Der Flieger war zweiunddreißig Jahre alt und hatte ein trauriges, müdes Gesicht. Ich fragte, ob er irgendwelche Angehörigen habe. Er rührte sich nicht, und auch seine Stimme veränderte sich nicht, aber Tränen rollten ihm über die Wangen. Sowohl der Direktor als auch die Wärter wandten sich ab, weil sie das nicht sehen wollten. Der Flieger sagte mit derselben leisen Stimme, dass er zwei Kinder hatte und seine geliebte Frau erwartete gerade noch ein weiteres Kind. Er teilte dies lediglich als Tatsache mit, bat nicht um Milde, aber seine Einsamkeit mit anzusehen, war schrecklich."

    Es sind solche und ähnliche Einsamkeiten, die Martha Gellhorn bei vielen Menschen im Krieg entdeckte, auch wenn sie nicht immer so ausdrücklich darauf hinwies: Die Einsamkeit der alten Menschen in Madrid, von deren vier Wänden mindestens eine von Bomben weggesprengt wurde; die Einsamkeit der Verletzten, Verstümmelten und Misshandelten; und immer wieder die Einsamkeit der Kinder, die in Hospitalbetten lagen und nicht wussten, wie ihnen geschah, ob in Vietnam oder anderswo.

    Wenn sie über Soldaten schrieb, dann beschrieb sie sie als Menschen, die in Uniformen steckten, und damit zurecht kommen mussten, im Mahlwerk des Krieges immer auf der Kippe zu stehen, zwischen mahlen und zermahlen werden. Bei den Kämpfen an der Ardennenfront begegnete sie in der apokalyptisch verwandelten Landschaft immer wieder kleinen Kampfgruppen, die sich ohne Überblick durchschlagen mussten.

    "An der Stelle, wo wir uns zur Zeit befanden, trafen wir auf zehn Amerikaner, zwei Sergeants und acht Schützen; außerdem lagen da zwei zerschmetterte deutsche Leichen, zwei tote Kühe und ein ausgebranntes Haus. »Ich würde diese Straße nicht weiterfahren, wenn ich Sie wäre«, sagte einer der Sergeants. »Sie wird ungefähr einen halben Kilometer weiter von Handfeuer abgeschnitten. Wir haben erst vor kurzem siebzehn Heinies da rausgeholt, aber ein paar andere müssen sich reinverkniffen haben. Außerdem machen die sowieso einen Gegenangriff.« Die Lage wurde wieder überaus fließend. »Was wollen Sie machen?« fragte ich.
    »Hierbleiben«, sagte einer der Soldaten."


    Der Kampf gegen Nazideutschland bedurfte zu diesem Zeitpunkt keiner Rechtfertigungen mehr, er verstand sich von selbst und kam ohne ideologische Verklärungen aus. "Sie alle taten ihren Job, und das war's", schrieb Martha Gellhorn über die alliierten Infanteristen, Panzerbesatzungen und Piloten, deren Arbeit sie beschrieb. Und wenn sie doch einmal eine Botschaft an die Heimatfront anfügte, dann stellte sie ganz individualistisch die Leistung der Einzelnen heraus.

    Aber wie funktionierte das eigentlich so, als Kriegsreporterin in einer Welt ohne Gender-Mainstreaming? Zwar war Martha Gellhorn seit dem Ersten Weltkrieg nicht die erste und einzige Journalistin an einer Kriegsfront, aber das, was sie zustande brachte, gelang ihr vor allem, weil sie Martha Gellhorn war.

    "Die Pressesprecher der US-Armee, die Vorsager der amerikanischen Presse, waren ein engstirniger Haufen, dem es nicht paßte, dass eine Frau bei den Kampftruppen Korrespondentin sein sollte. Die Pressesprecher in London wurden regelrecht feindselig, als ich mich auf ein Lazarettschiff schmuggelte, um etwas von der Invasion der Normandie mitzukriegen. Mit allerlei Heimlichkeiten und Kniffen gelang es mir, mich nach Holland hineinzustehlen und der großartigen 82. US-Luftlandedivision bei der Arbeit zuzusehen."

    Attraktivität und Selbstbehauptungswillen standen ihr zur Verfügung, Unerschrockenheit und Durchsetzungsvermögen waren ihre Begabungen, und zweifellos verstand sie es auch, sich ihre Seilschaften zu bilden. Sie liebte Männer und bedeutende liebte sie besonders. "Ich sammelte gern Könige", bekannte sie einmal. Doch war das nichts anderes als die Suche nach ebenbürtigen Partnern, mit denen sie selbstsicher konkurrierte. Hemingway, mit dem sie knapp zehn Jahre zusammen und einige davon auch verheiratet war, bekam das besonders zu spüren. "Bist Du Kriegskorrespondentin oder die Frau in meinem Bett?" fragte er ihr einmal vorwurfsvoll hinterher. Ihr Leben lang zog es sie zu den Fronten des Zeitgeschehens und in Kriegszeiten fand sie die eben im Krieg. Ihre Rastlosigkeit und ein zuweilen durchaus extremistisch anmutender Erlebnishunger trugen ihr den Spitznamen "Disaster Girl" ein. Sehr zutreffend, wenn man an die fidelen Briefzeilen denkt, die sie im August 1944 über ihre erneute Abreise in das vom Krieg zerstampfte Europa denkt.

    "Ich breche jetzt auf zu einem weiteren schönen, aufregenden Auftrag, ein Glücksgriff, auf den ich mich wahnsinnig freue."

    Das klingt frivol und leichtsinnig aber es war jene Art von Weltlust und Neugierde, die für Martha Gellhorn verbunden war mit einer großen, immer sprungbereiten kämpferischen Parteinahme wenn es um Ungerechtigkeit, menschliches Leid und die Arroganz der Macht ging. Jedenfalls ließ sie sich weder zu belanglosen Eskapaden verführen noch war sie anfällig für ideologische Verbohrtheiten. Ihre Kriegsreportagen sind auch heute noch, obwohl diese Kriege inzwischen schriftlich und bildlich schon vielfach dokumentiert und vergegenwärtigt wurden, nach wie vor lesenswert und oft genug packend.

    Sie schrieb über ihre Beobachtungen deutlich, präzise, detailliert und - das ist das Wichtigste - immer aus der unmittelbaren eigenen Anschauung. Die bewusst zur Genauigkeit ausgekühlte Empörung, die den Blick der Berichterstatterin lenkte, blieb in den Reportagen in vielen Fällen spürbar. Martha Gellhorn verhehlte nicht, dass sie sich Nüchternheit und Abwägung mitunter erarbeiten musste.

    "Ich habe meine Artikel immer gekürzt und zusammengestrichen, um meine Schreie so weit wie möglich auszumerzen."

    Sie schaute genau hin, in Spanien, in Finnland, in Holland, bei den Antikolonialkriegen in Südostasien und später in Vietnam. Und dieser Blick verschonte nicht einmal die am reichlichsten von Mythen umwobenen Figuren wie etwa die Jagdflieger. Die Piloten der Thunderbolts und Black Widows, die nachts aufstiegen, um Jagd auf den Gegner zu machen, führten, wie die Reporterin auf einem der Frontflugplätze erstaunt feststellte, ein "Hundeleben" in Zelten, bei bescheidener Verpflegung und "quälendem Unbehagen" vor dem nächsten Einsatz. Einen von ihnen begleitete sie auf der von Bodenradar gelenkten Suche nach feindlichen Fliegern über Deutschland.

    "Wir landeten, wie wir abgehoben hatten - wie ein einschlagender Blitz. Etwas über zweieinhalb Stunden waren wir weggewesen, und der Major war fast blau vor Kälte. Er hatte nicht viel an, da er die Maschine nicht fliegen konnte, wenn er durch zuviel Kleidung in seiner Bewegungsfreiheit eingeengt war. So saß er also jetzt zweieinhalb Stunden und später in dieser Nacht noch einmal zweieinhalb Stunden, und das jede zweite Nacht, bei einer Temperatur von dreißig Grad unter Null in einem Flugzeug und nahm es einfach hin. Allerdings bemerkte er am Rande: »Donnerwetter, ist das kalt!«"

    Für Gelassenheit dieser Art hatte Martha Gellhorn das allergrößte Faible. Wo immer sie darauf traf, vergaß sie nie, diese Haltung zu loben, gleich ob sie amerikanische Soldaten porträtierte, ob sie den alliierten Vormarsch von Süd nach Nord durch Italien begleitete, ob es um die imponierende Kaltblütigkeit englischer Zivilisten ging oder um den D-Day, die Invasion in der Normandie, bei der sie als handfeste Helferin auf einem Lazarettschiff dabei war.

    Was sie dagegen unverhohlen verabscheute, waren die Klagen der besiegten Deutschen, die angesichts der Greuel, die in ihrem Namen begangen worden waren, nur als moralisch stumpfe Wehleidigkeit erscheinen konnten.

    Die Deutschen wollte Martha Gellhorn in ihre Anteilnahme für die leidenden Zivilisten nicht einschließen. Sie waren in ihren Augen Teilhaber der Kollektivschuld an den schlimmsten Untaten, die gegen die Zivilbevölkerung begangen wurden. Bei ihren Besuchen in zahlreichen der gerade befreiten Konzentrationslager verschaffte sie sich Einblick in das Ausmaß der eiskalt ausgeführten deutschen Verbrechen. Und bei den Nürnberger Prozessen studierte sie die Physiognomien der Täter. Darin entdeckte sie, ohne den Begriff zu benutzen, das, was Hannah Arendt später die "Banalität des Bösen" genannt hat:

    "Es waren bloß Gesichter, manche grausamer als andere und alle unbedeutender, als man es für möglich halten möchte. Man saß da und beobachtete sie und fühlte innerlich eine solche Entrüstung, dass man fast daran erstickte. Diese einundzwanzig Männer, diese Nichtse, diese emsigen und einst so selbstsicheren Ungeheuer waren von der kleinen Bande, die Deutschland beherrscht hatte, die letzten, die noch am Leben waren. Sie richteten eine Vernichtung an, wie die Welt sie noch nie gesehen hat. Und da saßen sie nun hinter ihren starren Gesichtern."

    In einer ihrer Reportagen zog Martha Gellhorn das Fazit, dass es eine gute Sache wäre, wenn man den Deutschen nie wieder gestatten würde, einen Krieg anzuzetteln. Dafür, dass es Hitler so weit hatte bringen können, machte sie nicht zuletzt die gegenüber Faschismus und Nazismus zunächst allzu duldsamen Westmächte verantwortlich.

    Doch mit diesem Fazit war die Reise der Kriegsreporterin durch das erschütternd blutige 20. Jahrhundert noch längst nicht zu Ende. Schon in Torgau an der Elbe, wo Amerikaner und Sowjetrussen zusammentrafen, verspürte sie, wie da eine neue Konfliktlinie entstand. Nach dem Weltkrieg folgten die Interventionskriege, die Stellvertreterkriege, die Antikolonisierungskriege, die Nahostkriege. In den 50er-Jahren hatte sie der Kriegsberichterstattung schon einmal abgeschworen und sich in Mexiko, Italien, London und Ostafrika getummelt, rastlos wie eh und je.

    "Ich hätte mich niemals dazu entschlossen, mich noch einmal auch nur in die Nähe eines Krieges zu begeben, wenn nicht mysteriöserweise mein eigenes Land angefangen hätte, einen nicht erklärten Krieg zu führen. Anstelle von Gründen und Tatsachen erhielten wir Mahnreden und Propaganda. Schließlich ging ich doch nach Südvietnam, um, da man es von niemandem erfuhr, selbst herauszufinden, was mit dem stummen vietnamesischen Volk geschah."

    Um es kurz zu machen: Wenn das vietnamesische Volk - und sei es völlig ungewollt - mit den Vietcong in Kontakt kam, dann wurde es mit Bombenteppichen belegt. Dem laotischen und kambodschanischen Volk erging es nicht besser. Dabei wurden mehr Bomben abgeworfen, so bemerkt die Berichterstatterin lapidar, als im gesamten Zweiten Weltkrieg auf sämtlichen Kriegsschauplätzen. Die Folgen und Hintergründe recherchierte Martha Gellhorn in Kranken- und Waisenhäusern, Gefangenen- und Flüchtlingslagern und sie analysierte die Propagandapolitik der US-Regierung und ihrer Streitkräfte. Die Interventionen der Regierung von Ronald Reagan in San Salvador und Nicaragua Anfang der 80er-Jahre geben schließlich die letzten Stationen der hier versammelten Kriegsreportagen ab.

    "Wieder einmal weiß die US-Politik, was für andere am besten ist, im amerikanischen nationalen Interesse, ohne dass sie etwas von den anderen weiß, ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrem täglichen Leben und ihren dringenden Bedürfnissen."

    Dabei blieb es vorläufig in vieler Hinsicht und durchaus bis in unsere Tage. Martha Gellhorn hat längst die Statur einer Legende gewonnen. Zu Recht. Zwar können nicht alle Einsichten und Feststellungen, die ihre Kriegsreportagen bieten, heute noch so außergewöhnlich erscheinen, wie diese Frau es war. Vieles ist anderswo inzwischen ebenfalls bezeugt und nachlesbar, nicht wenige ihrer Überzeugungen teilte sie mit Zeitgenossen, die mindestens ebenso bedeutend und berühmt waren wie sie. Trotzdem haben ihre Kriegsreportagen ganz besondere und unverwechselbare Qualitäten: Sie bieten ein fesselndes Panorama historischer Erfahrungen aus erster Hand. Sie demontieren ein paar nach wie vor kursierende Illusionen und Lügen über den Krieg als Weltverbesserungsmittel. Und sie bereiten das Vergnügen mit einer Persönlichkeit unterwegs zu sein, deren Blick auf sich selbst nicht weniger klar und kritisch war als ihr Blick auf die infernalischen Seiten der Welt.

    Martha Gellhorn: "Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937-1987."
    Deutsch von Hans-Ulrich Möhring. Dörlemann, Zürich 2012.
    572 Seiten, 24,90 Euro.
    Juni 1944: US-amerikanische Truppen landen in der Normandie
    Bei der Invasion in der Normandie 1944 war Martha Gellhorn als Helferin auf einem Lazarettschiff dabei. (AP Archiv)