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"Meine Sorge ist, dass kurz nach der Wahl wieder alles vergessen ist"

Angela Merkel bespreche vor der Wahl intensiv Themen, nach der Wahl aber passiere wenig, sagt der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Seine Partei habe den Fehler gemacht, sich auf das Wort der Bundeskanzlerin zu verlassen.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 20.07.2013
    Jürgen Zurheide: Die Bundeskanzlerin hat sich gestern in die Ferien verabschiedet, wie viele Deutsche tut sie das. Sie hat vorher aber Bilanz gezogen. Das hat sie wie immer selbstbewusst getan, sie sieht sich an der Spitze der besten Regierung seit Langem in Deutschland. Die Umfragen immerhin bestätigen, dass sie persönlich hohes Ansehen genießt. Am Telefon ist jetzt jemand, den das alles ärgert. Ich begrüße Siegmar Gabriel, den SPD-Parteivorsitzenden. Guten Morgen, Herr Gabriel!

    Siegmar Gabriel: Guten Morgen, Herr Zurheide!

    Zurheide: Herr Gabriel, fangen wir mal an bei Merkel und dem Euro. Sie gibt sich auch da gute Noten bei der Euro-Rettung, wir haben gerade einige Ausschnitte gegeben – ich weiß, es ist Wahlkampf, eigentlich darf man das nicht fragen, ich tue es trotzdem: Welche Note geben Sie ihr?

    Gabriel: Das ist deshalb unzureichend, weil die Arbeitslosigkeit und die Schulden steigen. Das Problem ist ja, dass Frau Merkel erklärt hat, mit ihrer Politik würden sie die Arbeitslosigkeit senken, sie würden dafür sorgen, dass die Schulden auch sänken. Und vor allen Dingen hat sie versprochen, dass die Deutschen nicht immer mehr für die Schulden anderer Länder in Haftung genommen würden. Und alle drei Versprechen sind ins Gegenteil verzerrt, inzwischen glaube ich, das ist eine Billion Euro, für die Deutschland die Haftung übernommen hat. Nur dass das eben nicht offiziell, sondern heimlich passiert, indem man die Europäische Zentralbank schlicht und ergreifend europäische Staatsschulden aufkaufen lässt, und wer haftet für die Europäische Zentralbank? Na ja, wir Deutschen.

    Und das eigentliche Problem ist, dass wir in der Eurokrise in Europa immer nur ein Rezept verfolgt haben. Das Rezept war, alle müssen zum gleichen Zeitpunkt sparen. In Wahrheit hätten wir parallel zu einem Abbau der Staatsverschuldung auch in Wachstum investieren müssen. Und das Geld dafür hätten wir natürlich nicht als Schulden aufnehmen dürfen, sondern wir hätten die Finanzmärkte endlich besteuern müssen. Das ist ja der eigentliche Skandal, dass diejenigen, die verantwortlich für viele, viele Schulden in Europa sind, bis heute keinen Cent zurückzahlen müssen, sondern dass der Steuerzahler ständig haftet. Das haben wir nicht getan, wir haben nur gespart und nicht investiert.

    Und deshalb muss man sich nicht wundern, dass aus dieser Heilfastenkur, die Frau Merkel den Europäern verordnet hat, inzwischen eine Magersucht geworden ist und wir richtig reinschlittern in eine europäische Rezession. Und wir merken, dass in Deutschland an den ersten, sehr schlechten Zahlen beim Absatz der Automobilindustrie, und es ist ja klar: Wir sind eine Exportnation als Deutsche. Uns wird es nur dann gut gehen, wenn allen anderen es um uns herum einigermaßen auch so gut geht, dass sie sich unsere Produkte leisten können, wenn sie keine deutschen Autos, keinen Stahl, keine Elektrotechnik, keinen Maschinenbau mehr kaufen, dann wächst die Arbeitslosigkeit bei uns. Und in diese Entwicklung rutschen wir gerade rein.

    Zurheide: Jetzt sagen Sie das allerdings schon eine ganze Zeit. Sie sagen, Frau Merkel mache vieles zu spät und es wird dann teuer. Nur, ich frage mich, wenn Sie dann immer zustimmen im Bundestag, wo bleibt da eigentlich Ihre Opposition?

    Gabriel: Also sie hat ja Wortbruch betrieben. Sie hat uns ja versprochen, genau vor einem Jahr übrigens hat sie mit uns, weil wir gesagt haben, wir stimmen sonst nicht zu, hat sie gesagt, okay, ich vereinbare mit euch einen europäischen Wachstumspakt und ich setze den in Europa auch durch. Und übrigens, der ist dann auch beschlossen worden in Europa. Die SPD hatte ja gesagt, wir würden, damals vor einem Jahr, die Entscheidungen für den Fiskalpakt in Europa nicht mittragen, wenn es nicht parallel dazu zu Verabredungen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und vor allen Dingen gegen diese rasant steigende Jugendarbeitslosigkeit gäbe. Und dann haben die Europäer das auch beschlossen vor einem Jahr, und dann ist zwölf Monate nichts passiert.

    Also das fand ich das Erschreckendste, dass dann sozusagen selbst, nachdem man verabredet hat, ja, wir müssen mehr tun, sonst steigt die Jugendarbeitslosigkeit auf über 50 Prozent, dass dann zwölf Monate nichts passiert ist. Und jetzt auf einmal, kurz vor den Wahlen in Deutschland, lädt Frau Merkel ihre Kollegen ein und sagt, Mensch, wir müssen endlich was gegen Jugendarbeitslosigkeit tun. Das ist schon ein bisschen auch Volksverdummung, was da getrieben wird.

    Zurheide: Auf der anderen Seite, Sie haben aber eben zugestimmt, möglicherweise in der Erwartung, nur, meine Frage war, wo bleibt die Opposition und wo bleibt die Unterscheidbarkeit? Und ist das möglicherweise der Grund dafür, dass Sie in den Umfragen so schlecht wegkommen im Moment?

    Gabriel: Das weiß ich nicht, ob das der Grund dafür ist, dass Frau Merkel so populär ist. Sie hat nur einfach – wir haben wahrscheinlich, den Fehler, den wir gemacht haben, ist, dass wir uns auf ihr Wort verlassen haben. Denn natürlich wollten wir in der europäischen Politik eine gute Tradition in Deutschland fortsetzen, und die lautet: In der Auslandspolitik ist es so, dass Regierung und Opposition sinnvollerweise nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit suchen sollten. Die anderen im Rest der Welt müssen sich darauf verlassen können, dass bei uns nicht nach einem Regierungswechsel 180-Grad-Wenden in der internationalen Politik stattfinden. Es wäre ja Wahnsinn, den Versuch zu unternehmen, immer das genaue Gegenteil der Vorgängerregierung zu tun. Und deswegen haben wir diese Zusammenarbeit auch ganz offensiv gesucht.

    Und wir haben uns schlicht und ergreifend darauf verlassen, dass die Konservativen es ernst meinen, wenn sie sagen, ja, wir müssen auch in Wachstum investieren, weil man ja, ehrlich gesagt, nicht Politik studiert haben muss, um zu ahnen, was passiert, wenn man nur in 27 Staaten zeitgleich spart. Dass dann die Wirtschaft droht, zusammenzubrechen in diesen Ländern und dass dann irgendwann selbst ein starkes Land wie Deutschland auch dran ist – na ja, dafür muss man nicht wirklich so unglaublich lange sich mit Politik und Volkswirtschaft beschäftigen, das ist eigentlich erstes Semester.

    Zurheide: Stichwort Schuldenschnitt in Griechenland. Viele sind der Auffassung unter den Ökonomen, unter den Fachleuten, dass das kommen muss. Wie sehen Sie das? Die Botschaft ist ja auch nicht doll. Denn Frau Merkel sagt, Nein, wir machen keinen Schuldenschnitt, und die Deutschen haben immer das Gefühl, wenn es einen Schuldenschnitt gibt, müssen sie wieder bezahlen für irgendwelche Griechen, die es mit den Reformen nicht so ganz ernst nehmen. Wofür sind Sie?

    Gabriel: Na, es wird sicher so sein, dass Frau Merkel nur ein Ziel hat, diese Entscheidung über neue Griechenlandhilfen rauszuzögern bis nach der Bundestagswahl. Ich kann nicht ausschließen, dass die Griechen wirklich in eine dramatische Lage wieder kommen. Das liegt einfach daran, dass deren Wirtschaft nicht in Gang kommt. Und wenn man Sparauflagen macht, von denen klar ist, dass sie die Krise eher verschärfen, und vor allen Dingen dann auch noch immer kürzer werden, dann passiert das, was wir gerade erleben: Die Schulden in Europa sind in den letzten drei Jahren der Politik von Frau Merkel um über eine Billion Euro gestiegen. Und jetzt ersticken die Länder auch wie Griechenland daran, dass sie zwar sparen, sparen, sparen, aber dass deren Wirtschaft schneller zusammenbricht, als die Sparerfolge zusammenkommen. Und dann haben sie am Ende noch weniger. In diesem Teufelskreislauf stecken die.

    Ich kann Ihnen nicht beantworten, ob es Sinn macht, denen noch einmal zu helfen. Ich wäre jedenfalls eher dafür, dass wir dafür sorgen, dass es endlich einen Lastenausgleich gibt in diesen Ländern zwischen den sehr, sehr Vermögenden – das gab es ja in Deutschland auch, als wir in einer schwierigen Lage waren, nach dem Zweiten Weltkrieg und viele, viele Flüchtlinge aufnehmen mussten, haben wir in Deutschland einen Lastenausgleich zwischen den Menschen organisiert, denen es sehr gut ging und denen, denen es sehr schlecht ging.

    Zurheide: Sie meinen aber jetzt, die Griechen müssen es dann selbst bezahlen, also die reichen Griechen?

    Gabriel: Ja, sicher. So ist es. Ich finde, dass dieser Lastenausgleich in Ländern wie Griechenland, in Spanien, längst hätte kommen müssen, denn es sind ja auch viele dort, die an diesen Spekulationen, die Länder am Ende in die Krise getrieben haben, sehr, sehr viel Geld verdient haben. Das Argument, dass viele von denen gar nicht mehr in Griechenland leben würden, das lasse ich nicht gelten. Denn die Amerikaner besteuern auch jeden Bürger ihres Landes, egal, an welchem Ort der Welt er lebt. Und ich finde, wenn die G-20-Finanzminister jetzt verabreden, jetzt etwas gegen Steuerflucht zu tun, dann wäre es sinnvoll, mal damit zu beginnen, dass diejenigen, die in ihren Heimatländern mitverantwortlich sind, dass die Länder in der Krise sind, selbst aber superreich sind, dass die mal einen Beitrag dafür leisten, ihren eigenen Ländern wieder aus der Not zu helfen. Einen solchen Lastenausgleich finde ich absolut notwendig.

    Zurheide: Jetzt haben Sie das Stichwort G-20 gerade genannt – ist das nicht das nächste Thema, wo Frau Merkel Ihnen wieder etwas wegnimmt? Die Steuerschlupflöcher werden jetzt auch mit einem Male ganz plötzlich geschlossen. Sie wollen das schon ganz lange. Wird es jetzt passieren?

    Gabriel: Bei Frau Merkel ist immer folgendes Problem: Kurz vor einer Wahl wird es immer ganz intensiv beredet alles, und kurz nach der Wahl passiert wenig. Es gibt ein schönes Parallelbeispiel: 2005 gab es ja in der Periode dann die Finanzkrise, 2007/2008, und kurz vor der Bundestagswahl im Jahr 2009 traf sich Frau Merkel auf einem G-20-Treffen und verabredete, wie die Finanzwelt neu geordnet werden muss. Dass man die Banken endlich unter Kontrolle bekommen muss. Dann kam die Wahl – und danach passierte gar nichts. Deswegen, solche Versprechungen, jetzt würden endlich auch Konservative und Neoliberale Steuerflucht bekämpfen – die hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube.

    Meine Sorge ist, dass kurz nach der Wahl wieder alles vergessen ist, denn es ist ja wirklich skandalös: Jeder Handwerksmeister um die Ecke zahlt mehr Steuern als ein sehr großer Konzern wie Apple. Und zwar nur aus einem einzigen Grund: Weil wir in Europa nicht in der Lage sind, gemeinsame Grundlagen der Besteuerung herbeizuführen, sucht der sich ein Land aus, wo die nicht mal fünf Prozent Steuern zahlen. Und ich finde, wenn Frau Merkel es ernst meint mit den Versprechungen, dann muss sie nicht auf die internationale Bühne, zu G-20, sondern zuallererst müssen wir das in Europa schaffen.

    Es kann nicht sein, dass wir in Krisensituationen als Deutsche mit unseren Steuerzahlern haften für Hilfe für andere Länder, und andere Länder sozusagen, die in die Krise geraten, haben so miserable Steuersätze, dass sie sich selber gar nicht helfen können. Irland war so ein Beispiel, das ist auch ein Niedrigsteuerland in Europa. Also wir müssen gar nicht auf die Cayman-Islands und in die Bahamas, sondern wir haben unsere Steueroasen in Europa, und die gilt es zu bekämpfen. Wir haben ja in Deutschland eine spannende Debatte über die Frage, müssen wir zur Finanzierung unserer Bildungsausgaben höhere Steuern der sehr wohlhabenden Menschen einnehmen. Ich sage Ihnen, wir können uns jede Steuerdebatte in Deutschland ersparen, wenn es uns endlich gelingt, die Steuerflucht innerhalb Europas zu stoppen. Und wenn die Europäer dazu nicht in der Lage sind, dann wär das ja eine große Schande.

    Zurheide: Das war Siegmar Gabriel, der SPD-Parteivorsitzende zu Europa, zu der Krise. Herr Gabriel, ich bedanke mich für das Gespräch! Auf Wiederhören!

    Gabriel: Gerne!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.