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Meinungsforscher zur Flüchtlingsfrage
"Angespannte Unruhe"

Die Flüchtlingskrise sei derzeit "mit Abstand" das Thema Nummer eins, sagte der Meinungsforscher Klaus-Peter Schöppner im DLF. Dabei befinde sich Deutschland in einer zweiten Phase der Flüchtlingsdiskussion. Sei es zuvor um die Willkommenskultur gegangen, sei nun die Frage: "Können wir das denn schaffen?"

Klaus-Peter Schöppner im Gespräch mit Jochen Spengler | 09.01.2016
    Meinungsforscher Klaus-Peter Schöppner gibt in Dresden Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung 2014 bekannt.
    Die großen Parteien würden sich in der Flüchtlingsfrage wenige von einander unterscheiden, sagte der Forscher. (dpa / picture alliance / Matthias Hiekel)
    "Wir haben selten eine Dominanz eines Themas gehabt wie jetzt", sagte der Chef von mentefactum. Die Schwerpunkte in dieser Diskussion würden sich mittlerweile differenzieren. "Nicht mehr Aufnahme ist unser Thema, sondern das Thema ist Integration." Und durch solche Ereignisse wie Silvester am Kölner Hauptbahnhof würde der Bevölkerung immer stärkere Bedenken kommen.
    Forderung der Bürger an die Politik
    "Die Bürger verlangen eigentlich drei Dinge vom Staat. Und die liefern der Staat und die Politik nicht." Das sei zum einen das Maß: "Die Mehrheit will eine Obergrenze." Das zweite sei die Macht: "Die Bürger erwarten vom Staat, dass er in bestimmten Situationen Stärke zeigt und dann ausweisungsfähig ist." Da erweise sich häufig der Staat als hilflos, so Schöppner. "Das Dritte ist die Mitte. Trotz der guten wirtschaftlichen Lage habe Deutschland auch Menschen, die am sozialen Rand leben. Die würden fragen: "Wo bleibe ich?"
    Die großen Parteien würden sich in der Flüchtlingsfrage wenig von einander unterscheiden, sagte der Forscher. Das Parteiengefüge werde sich bei den nächsten Wahlen nicht sonderlich verschieben, es werde aber einen höheren Anteil an Protestwählern und eine geringere Wahlbeteiligung geben.

    Das Interview in voller Länge
    Jochen Spengler: Vorgestern hat die ARD ihren Deutschlandtrend veröffentlicht, und daraus geht hervor, dass die Bürger in Sachen Zuwanderung nahezu gespalten sind: 41 Prozent sehen in der hohen Zahl der Flüchtlinge in Deutschland Nachteile, 38 Prozent Vorteile, 15 Prozent glauben, Vor- und Nachteile hielten sich die Waage. Die Befragung wurde von Infratest dimap Anfang der Woche durchgeführt, als noch nicht das volle Ausmaß der sexuellen Übergriffe während der Kölner Silvesternacht bekannt war. Mitte der Woche wusste die Öffentlichkeit schon etwas mehr, und das hat ausgereicht, um 37 Prozent der befragten Frauen antworten zu lassen, sie würden größere Menschenansammlungen vermeiden wollen. Außerdem plädierten 82 Prozent aller Befragten für eine Ausweitung der Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen, was etwa in London seit Langem üblich ist. Wir nehmen diese Umfrageergebnisse zum Anlass, um mit Klaus-Peter Schöppner, dem Meinungsforscher und Chef des Demoskopieinstituts Mentefactum über die Stimmungslage in Deutschland zu sprechen. Guten Morgen, Herr Schöppner!
    Klaus-Peter Schöppner: Hallo und guten Morgen nach Köln!
    Spengler: Herr Schöppner, wenn Sie die Stimmung im Volk auf den Punkt bringen sollten, zu welchem Attribut würden Sie greifen?
    Schöppner: Na ja, ich würde das derzeit als angespannte Unruhe bezeichnen, denn wir müssen konstatieren, dass wir uns eigentlich in Phase zwei der ganzen Flüchtlingsdiskussion befinden. Wir hatten in der Phase eins diese Willkommenskultur mit den Bildern der Flüchtlinge, die Probleme hatten, die aufgenommen werden mussten, die große körperliche und seelische Not aufwiesen. Das hat sich geändert, denn jetzt ist die Phase zwei, der Integration, dran. Phase zwei heißt, können wir das denn schaffen, diese Menge in einer Art zu integrieren, dass sie halbwegs Bestandteil unserer Gesellschaft werden. Da haben wir große Zweifel dran, weil die Politik in vielen Dingen da nicht mitmacht. Und da kommen die Deutschen eigentlich nach dieser großen Willkommenskultur auf die Frage: Liefern denn im Prinzip auch die Flüchtlinge? Und deshalb gerade die Sache, die in Köln und Hamburg passiert ist, kommt derzeit zu einem ganz ungünstigen Zeitpunkt, weil doch jetzt die Zweifel, ich will nicht sagen überhandnehmen, aber doch deutlich werden.
    Spengler: Also es könnte sein, dass wenn der Staat so versagt wie in Köln, die Stimmung gegenüber Flüchtlingen kippt und dann so eine Phase drei eingeläutet wird?
    Schöppner: Na ja, Sie müssen ja wissen, dass das Stimmungsbild immer sehr stark von den Bildern bestimmt ist, die die Medien verfassen, und das waren diese Flüchtlingsbilder zu Anfang. Und wenn wir jetzt diese gewaltbereiten Bilder sehen, dann dominieren die. Und wir wissen auch, dass ein Stimmungswandel durch andere Dinge verstärkt wird, zum Beispiel wenn der Aufklärungsbedarf scheibchenweise kommt, wenn wir eigentlich zuerst den Eindruck haben – Sie haben es gerade angesprochen, wie lange sich das hingezogen hat –, dass der Staat offensichtlich gar nicht einen Aufklärungsbedarf hat, den die Bürger natürlich massiv haben. Dann stärkt sich natürlich die Position derjenigen, die sagen, ja, wir haben ja immer schon auf die Probleme hingewiesen, wir haben schon von Anfang an Kritik geäußert, keiner hat uns richtig wahrgenommen, also der Vorwurf der eher einseitigen Berichterstattung. Und das führt natürlich dazu – Sie haben eben gerade davon gesprochen –, dass die Polarisierung in der Bevölkerung deutlicher wird.
    Spengler: Ja, aber Flüchtlinge ist zweifellos das Thema Nummer eins?
    Integration rückt in den Mittelpunkt
    Schöppner: Mit Abstand. Wir haben selten eine Dominanz eines Themas gehabt wie jetzt, das Thema Flüchtlingsproblem schon seit etwa August, September, aber es verstärken sich, oder sagen wir mal so, es differenzieren sich die Schwerpunkte in dieser Diskussion. Noch mal: Also nicht mehr Aufnahme ist unser Thema, sondern das Thema ist Integration, und da kommen uns natürlich jetzt durch solche Ereignisse immer stärkere Bedenken.
    Spengler: Wir haben angesprochen, also das Volk scheint gespalten zu sein in dieser Flüchtlingsfrage, pari-pari werden Vor- und Nachteile beurteilt – noch –, gleichzeitig heißt es aber in den Umfragen: 75 Prozent der Bevölkerung sind für ein Integrationspflichtgesetz, 61 Prozent sind für eine Obergrenze, 57 Prozent sind für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Weist das nicht darauf hin, dass nicht nur die Bedenken und Zweifel zunehmen, sondern dass das Volk vor allem eines von seinem Staat verlangt, die Kontrolle des Geschehens?
    Schöppner: Die Bürger verlangen eigentlich drei Dinge vom Staat, und die der Staat und die Politik nicht wirklich liefern. Das sind eigentlich die drei großen Ms. Das eine ist das Maß – Sie haben es gerade angesprochen: Die Mehrheit will eine Obergrenze, weil wir sagen, wir wollen integrieren, aber wir können natürlich nur in einem gewissen Maß integrieren. Und da ist es besser, weniger wirklich als richtigen Bestandteil dieser Gesellschaft zu machen und diese zu integrieren, für diese Möglichkeiten der Berufsausbildung, der Integrationsbedingungen zu haben, als nur im Prinzip Unterkünfte, Massenunterkünfte zu liefern. Das Zweite ist die Macht. Die Bürger erwarten natürlich auch vom Staat, dass er in bestimmten Situationen Stärke zeigt und dann ausweisungsfähig ist, und da erweist sich der Staat häufig als hilflos. Und das Dritte ist die Mitte. Das heißt also, wir haben natürlich auch bei uns in Deutschland trotz der guten wirtschaftlichen Lage viele Problemfälle, und da gibt es sehr häufig eine Position, die von der ärmeren Bevölkerung vertreten wird, die ist: Wo bleibe ich? Also natürlich Integrationsarbeit für die Flüchtlinge, aber auf der anderen Seite auch entsprechender Aufwand für diejenigen, die am Sozialrand leben – siehe Wohnung, siehe Freizeitaktivitäten –, dieses zu leisten. Und diese drei Dinge werden, so wird es in der Bevölkerung derzeit wahrgenommen, von der Politik nicht erfüllt.
    Spengler: Herr Schöppner, stattdessen schlägt die Politik immer neue Gesetzesverschärfungen vor, das ist schon so wie ein Pawlow'scher Reflex. Gibt es Erkenntnisse, wie diese Vorschläge der Parteien im Volk ankommen?
    Schöppner: Ja, man glaubt nicht, dass die Gesetze, eine Verschärfung der Gesetze in dem Sinne eine große Wirkung hat, weil wir letztendlich nicht glauben, dass wir in der Lage sind, die bestehenden oder dann auch die neuen anzuwenden. Insofern gibt es schon – ich hätte beinahe gesagt, in einigen Bevölkerungskreisen – die Renaissance der CSU auch bundesweit, mit diesen rigideren Positionen. Und auf der anderen Seite hat sich das Bundesland ja nicht als Gegner der Aufnahme gezeigt, sondern in vielen Dingen also geradezu Großes geleistet, die aber diese stringentere Position dann auch der Zurückweisung, der Deutlichmachung, wo die Gefahren liegen, wo unsere Grenzen liegen, die dieses goutiert. Und insofern glaubt die Bevölkerung nicht, dass neue Gesetze der große Vorteil oder jetzt unbedingt notwendig sind, sondern dass wir uns der Probleme bewusst werden und dass wir uns dementsprechend verhalten: auf der einen Seite Integration ja, so gut wir in der Lage sind, es zu leisten – und da kann die Politik mehr leisten –, auf der anderen Seite aber diese Obergrenze anzuerkennen.
    Spengler: Was heißt das nun für die fünf bevorstehenden Landtagswahlen – jetzt schon im Frühjahr haben wir drei –, wer wird von dieser Verunsicherung profitieren können und wer nicht?
    Schöppner: Na ja, es gibt ja im Prinzip keine. Oder die großen Parteien unterscheiden sich ja in der Flüchtlingsfrage wenig voneinander.
    Spengler: Ja, wir haben da eigentlich nicht nur die großen Parteien, sondern CDU, SPD, Grüne und Linke haben eine de facto riesengroße Koalition in der Flüchtlingspolitik.
    Prognose: Mehr Protestwähler, weniger Wahlbeteiligung
    Schöppner: Dazu gibt es mehrere Dinge zu sagen: Das eine ist, dass natürlich Protestwähler zunehmen, das heißt, dass die AfD zum Beispiel stärker wird, aber nicht, weil sie sozusagen eine Alternative zu bieten haben, sondern weil die Bürger ihren Protest loslassen wollen. Und dann gibt es etwas, was auffällig ist, dass nämlich der Anteil der Nichtwähler größer wird. Die Union zum Beispiel bekommt ein Nichtwählerproblem dadurch, dass viele Bürger nicht zur Wahl gehen werden, und auch diejenigen, die sozusagen werteorientiert häufiger zur Wahl gehen werden, also eher CDU-Wähler, diesmal zu Hause bleiben, weil sie hier auch so was wie einen Denkzettel geben wollen. Also insofern wird sich das Parteiengefüge nicht sonderlich verschieben, es wird aber einen höheren Anteil Protestwähler – siehe, Parteien am rechten Rand werden stärker – geben, und es wird eine geringere Wahlbeteiligung geben.
    Spengler: Wenn Sie nun mal in die Rolle eines Politikberaters reinschlüpfen würden und CDU und SPD beraten müssten, was würden Sie denen raten, was sollten die tun, um bei den nächsten Wahlen nicht ganz so schlecht abzuschneiden?
    Schöppner: Wir haben es eben schon gesagt: Wir müssen die großen drei Ms institutionalisieren. Wir müssen auf der einen Seite einen starken Staat zeigen, einen Staat, der angesichts der Probleme und angesichts der Not in der Welt nicht für alles zuständig sein kann, sondern der die Grenzen stark und stringent ziehen muss. Wir müssen auf der einen Seite natürlich den Flüchtlingen helfen, wir dürfen aber auf der anderen Seite unsere Bürger am gesellschaftlichen Rand nicht vergessen. Und wir müssen eindeutig akzeptieren, dass wir nicht in der Lage sind, diese Mengen zu integrieren. Wir müssen möglicherweise stärkeren EU-Druck machen oder aber, wir müssen deutlich machen, dass wir nur zu bestimmten Zeiten bestimmte Kontingente aufnehmen können, halt eben das, was wir uns in der Bevölkerung und in der Politik zutrauen. Denn es kann nicht sein, dass die Politik relativ sich auf Sonntagsreden beschränkt und die Arbeit hinterher von den vielen Freiwilligen durchgeführt wird, die das auch nicht endlos machen können und nicht endlos machen wollen.
    Spengler: Danke schön! Das waren Ratschläge von Klaus-Peter Schöppner, Meinungsforscher und Chef des Demoskopieinstituts Mentefactum. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen, Herr Schöppner!
    Schöppner: Ich bedanke mich, schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.