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Melamin im Gemüse
Nierengift gelangt über Düngemittel auf den Teller

Melamin ist ein Bestandteil von Kunstharzen und hat im Essen nichts verloren. Umso erstaunlicher ist es, dass es offenbar auch in Deutschland regelmäßig auf den Teller kommt, wie die Analysen von Lebensmittelchemikern ergeben haben.

Von Volker Mrasek | 12.10.2016
    Über 6.000 pflanzliche Lebensmittel überprüfte das Chemische Untersuchungsamt Stuttgart in den letzten drei Jahren auf Rückstände von Pestiziden. Mehr als jede zehnte Probe enthielt dabei Melamin, und sogar jede siebte eine Substanz namens Cyanursäure. Sie entsteht, wenn Melamin abgebaut wird. Auf dem Deutschen Lebensmittelchemikertag in Freising stellte Simone Adam die Ergebnisse kürzlich erstmals vor. Sie gehört zum Untersuchungsteam in Stuttgart:
    "Wir haben das in einem breiten Spektrum von Lebensmitteln gefunden, in allen Warengruppen. Die höchsten Gehalte an Melamin haben wir in Kartoffeln gefunden und an Cyanursäure in grünem Spargel. Das waren für Melamin 17 Milligramm je Kilogramm und für Cyanursäure 14 Milligramm je Kilogramm."
    Die Kartoffeln stammten dabei aus Deutschland, der Spargel aus Mexiko. Auch in Pilzen lagen die beiden Stoffe oft im Milligramm-Bereich. Von "Spuren" kann man da nicht mehr sprechen:
    "Vor dem Hintergrund, dass auch höhere Gehalte auftreten, ist es unser Anliegen, den Verbraucher zu schützen. Und deshalb haben wir beim Bundesinstitut für Risikobewertung, um eine gesundheitliche Bewertung dieser Befunde gebeten."
    Zumal Melamin und Cyanursäure in vielen der untersuchten und positiven Proben gemeinsam auftraten.
    "Da ist bekannt, dass die Kombination von Melamin und Cyanursäure da wohl kritischer ist, als wenn man die Stoffe einzeln aufnehmen würde."
    2008 gab es Todesfälle unter Neugeborenen in China
    Beide Substanzen können die Niere schädigen. Im Jahr 2008, beim sogenannten Melamin-Skandal in China, kam es sogar zu Todesfällen unter Neugeborenen.
    Allerdings, und das betont auch Simone Adam ausdrücklich: Die verseuchte Babynahrung enthielt damals Melamin-Mengen, die etwa um den Faktor hundert höher waren als in den jetzt untersuchten Kartoffeln, Pilzen und Gemüsesorten. Dennoch könnte auch von geringeren Konzentrationen ein Risiko für Verbraucher ausgehen. Schließlich sind Kartoffeln und Gemüse Grundnahrungsmittel, die häufig gegessen werden. Deswegen müsse man die Sache weiter verfolgen, so die Lebensmittelchemikerin:
    "Also, vorbeugender Verbraucherschutz bedeutet ja, dass man ein Problem erst einmal entdeckt, dass man dem nachgeht, dass man eine Vielzahl von Proben untersucht, dass man dann auch eine entsprechend hohe Anzahl an Daten hat, um eine toxikologische Bewertung durchzuführen. Und in dieser Phase sind wir jetzt. Da muss man eines nach dem anderen angucken, ohne Panik zu machen."
    Wie kommen Melamin und Cyanursäure überhaupt in Kartoffeln und Co.? Zunächst war Simone Adams Arbeitsgruppe hier auf dem Holzweg. Sie dachte nämlich: Bei beiden Stoffen handelt es sich um Rückstände eines bestimmten Insektizids in den Lebensmitteln. Doch auch in Proben aus dem ökologischen Landbau fanden sich Melamin und Cyanursäure. Obwohl das Insektenbekämpfungsmittel von Bio-Bauern gar nicht eingesetzt wird.
    Melamin und Cyanursäure stecken in gängigen Düngemitteln
    Die Analytikerinnen überlegten also, welche anderen Eintragspfade es noch geben könnte. Und machten eine überraschende Entdeckung. Demnach stecken Melamin und Cyanursäure in gängigen Düngemitteln:
    "Es gibt Düngemittel, die enthalten Cyanamid. Das ist eine Stickstoff-Komponente. Und aus der kann Melamin und dann halt auch Cyanursäure entstehen."
    19 solcher Stickstoff-Dünger untersuchte die Fachbehörde. Und wurde auch hier fündig:
    "Also, ich kann die höchsten Konzentrationen nennen. Und zwar waren das für Melamin 7,3 Milligramm je Kilogramm und für Cyanursäure 41 Milligramm je Kilogramm."
    Mit dem Stickstoffdünger gelangen die Schadstoffe in den Acker und können dann vom heranreifenden Gemüse aufgenommen werden - das ist die Vorstellung. Für Cyanursäure gibt es überdies einen weiteren Eintragspfad - wenn Landwirte ihre Kulturen mit Wasser gießen, dem ein bestimmtes Mittel gegen Algen zugesetzt wurde. Auch dabei wird die Säure nämlich frei, wie ein Modellversuch mit Salat im Stuttgarter Untersuchungsamt zeigte.
    Auch wenn die gesundheitliche Bewertung noch aussteht: Man fragt sich schon, ob potenzielle Nierengifte unbedingt in Düngemitteln und Gießwasser enthalten sein müssen. Und ob man das nicht vorsorglich ändern sollte.