Samstag, 20. April 2024

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Melanie Fritscher-Fehr
"Demokratie im Ohr"

Das Radio als demokratieerziehendes, aber auch als ideologisches Instrument: So sahen die Alliierten die Funktion des Leitmediums nach 1945 bei ihren "Re-education"-Konzepten. Nach und nach emanzipierten sich die Journalisten dabei von den Vorgaben der Historikerzunft.

Von Moritz Küpper | 06.05.2019
Hintergrundbild: Ein Radiogerät von Quelle, das Simonetta Stereo-Großsuper ST 6501 aus dem Jahr 1965 Vordergrund: Buchcover
Eine Bilanz von Ideen und Werten des westdeutschen öffentlichen Rundfunks in seine Blütezeit. (picture alliance / dpa / Daniel Karmann/ transcript Verlag)
"Am 16. März 1935 verkündete Hitler die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht."
Töne aus der Vergangenheit, aus der Nachkriegszeit…
"Am darauffolgenden Tage bekräftigte der Reichswehrminister von Blomberg das Bündnis mit den Nationalsozialisten."
… Aus einer Zeit, in der das Radio das zentrale Leitmedium und ein wichtiges Erziehungsmittel nach Ende des Zweiten Weltkriegs war. Aufnahmen aus der Sendereihe "Das Dritte Reich in Dokumenten. Eine Hörfolge zur Zeitgeschichte", die in den Jahren 1954/55 ausgestrahlt wurde – und mit der erstmals der Versuch gewagt wurde, sich statt mit spielerischen Hörszenen, in dokumentarischer Form mit dem Thema Nationalsozialismus/NS-Diktatur zu befassen.
"Mit dem Führer, die nationalsozialistischen, deutschen Arbeiterpartei unter der Gestalt des Feldmarschalls von Hindenburg trafen sich symbolisch jene zwei Kraftströme…"
Mit dieser Form wiederum hat sich Melanie Fritscher-Fehr genau befasst. "Das Radio als geschichtskultureller Akteur in Westdeutschland, 1945 – 1963", das ist der Untertitel ihres Buches. Der Zeitraum ist bewusst gewählt, es war die Blütezeit des Mediums, so dass sich Fritscher-Fehr fragte:
"Wie nutzten eigentlich Journalistinnen und Journalisten historische Themen, um die eigene Gegenwart zu legitimieren, um den demokratischen Gründungsprozess der Bundesrepublik zu unterfüttern oder auch eben diesem Sinn zu verleihen."
Das Radio als Erziehungsmedium
Dem Buch liegt ein geschichtswissenschaftliches Dissertationsprojekt zugrunde, was zu einem hohen Anteil an Fußnoten führt. Dennoch ist die Umsetzung und Ausarbeitung leicht lesbar, was auch an vorangestellten Zitaten sowie einigen Grafiken liegt. Mit sechs Kapiteln ist das Buch zudem klar strukturiert, das Konzept folgt einer zeitlichen Chronologie, an dessen Anfang eine zeitliche wie inhaltliche Hinführung steht:
"Demokratisierung, Westbindung und Antikommunismus zählten zu den zentralen Themen, die nach dem Kriegsende die Diskussion um ‚Erziehung‘ nachhaltig prägten und von denen sowohl die Westalliierten als auch die Deutschen ihre Erziehungsvorstellungen ableiteten. In deren Zentrum stand die Frage, wie die heranwachsenden Kinder und Jugendlichen zu demokratischen BürgerInnen erzogen werden könnten. Dass insbesondere das Radio als Leitmedium der Nachkriegszeit hierbei behilflich sein könnte, stand für alle Beteiligten außer Zweifel."
Fritscher-Fehr konzentrierte sich bei dem Projekt auf den sogenannten "Schulfunk", also die Sendungen, die sich speziell an die Jugend richteten, im Südwesten der alten Bundesrepublik…
"Zum einen, weil es zwei Sendeanstalten, also, in dem Fall jetzt der Süddeutsche Rundfunk mit Sitz in Stuttgart und der Südwestfunk mit Sitz in Baden-Baden und in Freiburg. Diese beiden habe ich rausgesucht, weil zum einen zwei unterschiedliche Besatzungszonen damit verbunden waren. Im Falle des SDR war das die amerikanische, im Fall des SWF war das die französische. Und zum anderen hat sich aber auch schon institutionsgeschichtlich gezeigt, dass beide Sendeanstalten über die Jahre dann auch Kooperationsverhältnisse eingingen."
Woraus letztlich der heutige SWR entstand.
Demokratie als Hausaufgabe
Die Schulfunk-Sendungen waren für die Autorin besonders interessant, weil sie den gesellschaftlichen Wandel unterstützen sollten.
"Also, ganz grundsätzlich habe ich ja erst einmal danach gefragt, inwiefern das Radio und dann in dem ganz speziellen Fall der Schulfunk eben zunächst von den Alliierten genutzt wurde, um ihre Re-Education-Vorstellungen an die westdeutsche Gesellschaft heranzutragen oder eben auch diese Re-Education-Maßnahmen über Radio-Inhalte umzusetzen. Und ich habe dann aber auch mich weiter dafür interessiert, inwiefern eigentlich das Radio hier eine demokratisierende Funktion für die westdeutsche Gesellschaft hatte? Inwiefern hat man aber auch versucht, das jugendliche, westdeutsche Publikum für die Demokratie zu begeistern."
Fritscher-Fehr konnte alle Hörfunkmanuskripte auswerten, die Gremienprotokolle einsehen, mit Literaturlisten arbeiten, die die Redaktionen genutzt haben und - das spiegelt auch die Kapitel-Struktur wider – drei Phasen identifizieren: "Demokratie als Hausaufgabe" heißt der Abschnitt von 1945 bis 1949; "In Zeiten der Kulturkritik" die Phase 1950 bis 1954; gefolgt von "Bildungsradio und Fernsehen" bis 1963, jenem Zeitpunkt, an dem das Radio immer stärker vom Fernsehen abgelöst wurde. Fritscher-Fehrs Resümee:
"Dass die (Massen-)Medien und insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk diese Rolle übernehmen, ist kein politischer Automatismus, sondern auf einen historischen Prozess zurückzuführen, der seinen Ausgangspunkt in der alliierten Besatzungszeit hat. Die Westalliierten legten mit ihren ‚Re-education‘-Konzeptionen, in die sie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einbanden, den Grundstein dafür, dass sich das Leitmedium Radio als demokratieerziehendes, aber auch als ideologisches Instrument verstand."
Die Emanzipation der Journalisten
Interessant ist breite und an Zusammenhängen interessierte Analyse Fritscher-Fehrs, die auch die Beschäftigung mit dem Personal in den Redaktionen einschließt, beispielsweise der damals 20-jährigen Hertha Sturm:
"Sturms Lebenslauf liest sich wie eine Stellvertreter-Biografie der beschriebenen ‚45er‘-Generation: Als Beamtentochter 1925 in Nürnberg geboren und aufgewachsen, studierte sie Psychologie und Rechtswissenschaften in Erlangen […] Trotz fehlender journalistischer Ausbildung und Erfahrung übernahm sie die Leitung des Jugendfunks. Da sich die Suche nach geeigneten AutorInnen anfangs schwierig gestaltete, musste Sturm zu Beginn die meisten Manuskripte selbst verfassen. Um den Jugendfunk stärker an sein eigentliches Zielpublikum zu binden, verstärkte sie die Suche nach einer jungen Autorenschaft und plädierte innerhalb des Senders für einen Umzug nach Freiburg. Die Stadt im Breisgau bot sich aufgrund ihrer Universität und ihres Studentenleben an und sollte zukünftig Sitz der Jugend- und Schulfunkredaktion des SWF werden."
Es sind solche interessanten Schilderungen, Querverweise und -verbindungen, mit denen Fritscher-Fehr verschiedene Abläufe und Ergebnisse erklärt und herausarbeitet:
"Diese starke Kooperation mit der Geschichtswissenschaft. Also, die Historikerinnen und Historiker haben sehr stark mit darüber entschieden, welche Richtung diese Sendungen bekommen haben. Veränderungen innerhalb des Programms sind stark darauf zurückzuführen, ob die Journalistinnen und Journalisten beispielsweise auch auf andere Quellen zurückgegriffen haben oder andere Autorinnen und Autoren gefunden hatten. Und gerade in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat sich zum Beispiel gezeigt, dass diese Orientierung an der westdeutschen Historikerschaft gar nicht so stark das beeinflusst hat, sondern das beispielsweise jüdische Studien Berücksichtigung gefunden haben und also: Der Diskurs wurde durch den Journalismus erweitert."
Letztlich, bilanziert die Autorin, zeigte sich daran auch die Idee und der Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks:
"Alle Sendungen, die in dem Zeitraum gelaufen sind, waren immer auf die Frage zurückgeworfen: Was ist das für eine Nation, in der wir leben? Wie wollen wir leben? Was ist das für eine Demokratie, in der wir leben wollen? Und diese Sendungen haben schon mit dazu beigetragen, das auszuhandeln. Allerdings lassen sich auch, gerade in den frühen 50er Jahren, schon auch Demokratie-feindliche Inhalte finden."
Es ist auch diese, bis heute gültige Facette, die "Demokratie im Ohr" zu einem interessanten und lesenswerten Beitrag einer hochaktuellen Diskussion machen.
Melanie Fritscher-Fehr: "Demokratie im Ohr. Das Radio als geschichtskultureller Akteur in Westdeutschland, 1945–1963",
Transcript Verlag, 487 Seiten, 49,90 Euro.