Literarischer Gegenentwurf zu Freud

15.05.2012
Der Mediziner Schnitzler setzte sich intensiv mit Freuds Traumanalyse auseinander - und notierte selbst seine Träume. Im Laufe der Zeit entwickelte sich Schnitzlers Traumtagebuch jedoch zu einem Gegenentwurf zu Freud - und beweist doch, welche Durchschlagskraft Freud hatte.
Arthur Schnitzler und Sigmund Freud waren Zeitgenossen, sie lebten in derselben Stadt, und der Widerstreit zwischen Kunst und Wissenschaft, die gegenseitige Anziehung und Abstoßung tritt wohl nirgendwo markanter zutage als in der Beziehung zwischen dem Schriftsteller des Wiener Fin de siècle und dem Begründer der Psychoanalyse. Freuds "Traumdeutung", 1900 erschienen, ist so etwas wie das Grundbuch der Psychoanalyse, und Schnitzler, der Mediziner war, hat es sehr früh wahrgenommen und sich intensiv mit Freud auseinandergesetzt. Dass er selbst in seinen Tagebüchern immer wieder eigene Träume notiert und auch kommentiert hat, schafft interessante Bezugsfelder. In seinem Nachlass fand sich zudem ein unveröffentlichtes Typoskript, dass mit "Träume" betitelt war und die Träume betreffenden Stellen aus den Tagebüchern zusammengestellt, konzentriert und in eine eigene literarische Form überführt hat. Es wird nun zum ersten Mal als selbstständiger Text veröffentlicht.

Mehrfach verweist Schnitzler in den ersten Jahren nach 1900 auf Freuds "Traumdeutung" und kommentiert seine eigenen Träume mit kurzen Bezügen auf diese Leseerfahrung. Ein Beispiel ist besonders virulent: Schnitzler träumt davon, dem Kaiser Wilhelm in "Uniform mit Civilhosen" zu begegnen, und erinnert sich sofort an eine Stelle bei Freud, wo dieser hinter einer solchen "vorschriftswidrigen Adjustierung" die "Nacktheit" an sich entdeckt. Die Herausgeber des Bandes stellen darüber hinaus eine interessante Verbindung zur Erzählung "Leutnant Gustl" her - hier scheint Schnitzler bewusst mit Freuds Erkenntnissen zu arbeiten und zu spielen.

Im Lauf der Zeit tritt jedoch das Problem hervor, das Schnitzler mit Freud hat: Seine eigene Form literarischer Erkenntnis steht zwangsläufig in Konkurrenz zu Freuds Vorgehen, der die Psychoanalyse wissenschaftlich fundiert und vieles von dem - vor allem auch auf den begrifflichen! - Punkt bringt, was Schnitzler ausführt. Was den Schriftsteller umtreibt, zeigt sich am prägnantesten in einem Eintrag aus dem Ersten Weltkrieg: "Traum, dass die Russen vollständig umklammert seien. (Freud würde zweifeln, dass ich die Russen gemeint habe.)" Das wendet sich, durchaus ironisch und witzig, gegen Freuds direkte Übersetzungen von Traummotiven und Symbolen in die Sexualsphäre. Auf die Spitze getrieben sieht Schnitzler dies bei Freuds Schüler Wilhelm Stekel, den er im Jahre 1925 dann "lächerlich" findet.

Das Aufschreiben seiner eigenen Träume, das gegen Ende seines Lebens zum konkreten Buchprojekt wird, wird für Schnitzler immer mehr zu einem literarischen Gegenentwurf zu Sigmund Freud. Als Vorbild könnten die für viele Schriftstellerkollegen faszinierenden Tagebücher Friedrich Hebbels gedient haben: Hebbel versuchte schon hier, eigene Träume in einen erzählenden Kontext zu überführen und sie zu literarisieren. Schnitzlers "Träume" künden von einem dramatischen Konflikt: Im Zentrum stehen die Quellen literarischer Inspiration und die Eigendynamik der Kunst. Aber gleichzeitig ist Schnitzlers Projekt auch der Beweis dafür, wie fundamental Freud gewirkt und welch wunde Punkte er getroffen hat.

Besprochen von Helmut Böttiger


Arthur Schnitzler: Träume. Das Traumtagebuch 1875-1931
Hg. von Peter Michael Braunwarth und Leo A. Lensing
Wallstein Verlag, Göttingen, 2012
493 Seiten, 34,90 Euro
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