Dienstag, 23. April 2024

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'Auschwitz Poems' und 'Zu viele Männer'

Es ist die Stimme der Zweiten Generation, die sich in den Achtzigern mit Lily Brett in der Literatur erhebt. Die Kinder der jüdischen Lagerüberlebenden sind erwachsen, das verkapselte Schweigen ihrer Eltern bricht auf. Für die dreifache Mutter Lily Brett ist es die neue Liebe zu dem Maler David Rankin, die sie 36jährig aus ihrer beschaulichen Vorstadtidylle ausbrechen lässt. Die australische Starjournalistin fängt an in sich hinein zu hören, statt andere zu befragen. Brett:

Jochanan Shelliem | 15.08.2001
    Die "Auschwitz Gedichte" sind das allererste Buch gewesen, dass ich schrieb. Die englische Ausgabe erschien1986. Damals war mir noch nicht klar, dass dieses Buch die Wende in meinem Lebens markieren würde. Ich hatte keine Ahnung davon, dass diese Gedichte das umreißen würden, womit ich mich die nächsten zwanzig Jahre beschäftigen würde. Als Journalistin hatte ich mich immer wohl gefühlt, ich hatte nichts verändern wollen und wenn mein Mann mir sagte: "Du bist viel interessanter als die Menschen, die du portraitierst." Dann dachte ich, oh ja, der Mann liebt mich, er ist voreingenommen. "Du solltest deine eigenen Sachen schreiben", sagte er. Dabei war ich sehr glücklich, anderen zuzuhören. War sehr erfolgreich. Ich konnte mir die Themen selbst auswählen. Ich schrieb Portraits, weil mir das am besten gefiel. "Versuch's, nimm dir ein Jahr", sagte er. Ich wollte es nicht. Wusste auch nicht wozu, fühlte mich mit dem, was ich tat, sehr wohl. Er sagte mir auch nicht, worüber ich seiner Ansicht nach schreiben sollte. Ich bin mir nicht sicher, ob er es wusste, was geschehen würde. Er sagte nur, "Hör' auf zu arbeiten und schau, was dann geschieht." Das wiederholte er eindringlich bei jedem Auftrag, den ich übernahm, dass ich es eines Tages tat. Und ich war völlig davon überrascht, was mich dann zu beschäftigen begann. Es hätte mich nicht überrascht, wenn ich begonnen hätte, das Strandleben von Australien zu beschreiben. Doch als ich die "Auschwitz Gedichte" zu schreiben begann, fuhr ich zum ersten Mal nach Polen.

    Das war der Anfang einer langen Reise, einer Reise durch die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt der Journalistin und Vorzeigetochter entwurzelter Überlebender, die in Australien ein Exil gefunden hatten, ein extensives Lager mit Zäunen aus Korall, Wellen und Sand. Ein fremdes Land, dessen Einwohner sie nicht als Untermenschen ansahen, sondern als Greenhorns mit Tarzan-Englisch betätschelten. Gut für das zarte Selbstbewusstsein der jungen Poetin war, dass der Gedichtband gleich einen bedeutenden literarischen Preis errang, der Victorian Premier's Literaty Award trug der verstörenden Kraft ihrer Dichtung Rechnung. Hier nur das kürzeste, das freundlichste und sanfteste der nun bei Hanser vorliegenden und von David Rankin illustrierten poetischen Skelette von Lily Brett:

    "Für dich"

    "Hast/jahrelang/mit den Zähnen/geknirscht/hast/von/Kindern/gesprochen/ im Schlaf/ von/ Kindern/ mit hohlen Wangen/ das rote Haar/ um dein starres Gesicht/ sonderbar schreiend/ hast/ für dich gegessen/ irgendwo abseits/ konntest/ mich/ nicht berühren/ Mutter/ Musstest/ dich selber/ halten/"

    Eigentlich, so sagt sie lachend, hätte sie ihren Roman besser "Zu viele Reisen" nennen sollen, anstatt "Zu viele Männer", doch ihre Heldin sei von so vielen Männerbildern umgeben, dass ihr kein anderer Titel eingefallen sei. Unprätentiös und tränenlos nähert sich die Autorin dem eigenen Alp, auch im Roman:

    Es war Ruths dritte Reise nach Polen. Sie wusste nicht genau, warum sie gekommen war. Und sie wussten nicht, warum sie wollte, dass ihr Vater nachkam. Ihre erste Reise nach Polen hatte sie gemacht, um sich zu vergewissern, dass ihre Eltern von irgendwoher stammten. Um ihre Vergangenheit als etwas anderes als ein abstraktes Gebilde nicht abreißenden Entsetzens zu sehen. Um Ziegel und Mörtel zu sehen. Die zweite Reise war ein Versuch, weniger überwältigt zu sein als beim erstenmal. Der Versuch, nicht Tag und Nacht zu weinen. Und sie hatte beim zweiten Besuch weniger geweint. Jetzt war sie gekommen, um mit ihrem Vater auf diesem Flecken Erde zu stehen:

    Ich habe meinem Vater das nicht angetan. Jahrelang habe ihn gefragt, ob er mich nach Polen begleiten würde. Er ist nicht mitgekommen. Und ich habe ihm versichert, mir zuliebe sollte er nicht nach Polen reisen. Er solle nur mitkommen, wenn es ihm für sich selbst sinnvoll erschien. Jahrelang hat er mir also zugesehen. Er hat mich wohl für verrückt gehalten, doch eines Tages sagte er, ich komme mit. "Wieso", fragte ich mich und begann mir Sorgen zu machen. "Du hast mich so oft gebeten" Und ich begann mit ihm zu diskutieren. Er wurde ganz verdrießlich. "Wir treffen uns unterwegs," sagte er. "Auf dem Weg ? Du kommst von Sidney, ich aus New York, ich hole dich in Warschau am Flughafen ab. Ich kann dich nicht auf dem Weg nach Polen treffen." Als wir dann in Warschau waren, sagte ich, "Vielleicht magst du vieles nicht sehen, was ich besuchen will. Wir werden uns in sehr guten Hotels aufhalten, für alles ist gesorgt. Auschwitz wirst du wahrscheinlich nicht besuchen wollen." "Ich gehe überall hin, wo du hingehst." Und als wir dann in Auschwitz waren, fühlte ich mich davon überwältigt, mit ihm in diesem Lager zu stehen, wo ihm so viel angetan worden ist, und meiner Mutter und so vielen Menschen und ich stand mit ihm unter dieser Schrift ARBEIT MACHT FREI, die so schockierend winzig ist, weil ihre Bedeutung so ungeheuer viel enthält. Ich stand dort mit ihm und ich sagte, "Schau, wir beide stehen hier. Und wir lieben einander, was will uns das sagen, dass man hier stehen kann, mit jemandem, der alles Recht der Welt besitzt, nicht mehr lieben zu wollen, keine Freude mehr zu empfinden." Und hier standen wir und teilten dieses Gefühl. Wir hatten es geschafft, etwas aus dieser Katastrophe aufzubauen, etwas, was ich für das Wichtigste im Leben halte, nämlich die Fähigkeit jemanden zu lieben. Auch wenn die Reise unglaublich anstrengend war, er hat mir alles zeigen wollen, in Auschwitz und Birkenau. Da war kein Halten mehr, ich fragte ihn andauernd, ob er in Ordnung sei. "Hör auf zu fragen", sagte er. "Sag du mir, wenn du nicht mehr kannst." Einerseits hat ihn mein Interesse an seiner Vergangenheit beunruhigt, andererseits hat es ihn sehr stolz gemacht, denn es ist schwer, diesen Teil der Geschichte mit jemandem zu teilen.

    "Hätten Sie Interesse an einer Besichtigung des Auschwitz-Museums?" sagte der Taxifahrer. "Ich mache Ihnen eine guten Preis. Sehr günstig." Ruth war sprachlos. Wie viele Leute verscherbelten in dieser Stadt Fahrten nach Auschwitz ? Und woher wussten sie, welche Klientel dafür in Frage kam? Die Abnehmer, die potentiellen Kunden mussten ein totsicheres Erkennungszeichen aufweisen, dachte Ruth."

    Es ist das minutiöse Protokoll einer neurotischen Reise in das polnische Herz der Finsternis. In Warschau, Krakau, Lodz waren ihre Eltern Kinder gewesen, bevor sie im Ghetto heirateten, sich in Auschwitz verloren und in einem bayerischen Lager wieder fanden, nach dem Krieg. Auch Rudolf Höss kommt vor, als schrille Stimme und was sollte er sonst tun, als sich zu rechtfertigen. Es ist die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt einer Nachgeborenen, die die Traumata ihrer nach Australien geflohenen Eltern aus dem brüllenden Schweigen ihrer Kindheit löst. Dass diese Reise aber einen Sog entfaltet, wi e sonst allein die Filme Woody Allen's, liegt an der schonungslosen Transparenz dieses Romans, an ihren kleinen Seitenblicken, den Tippeldialogen und an ihrem Mut, im Gegensatz zu Woody Allen, das was ihr Leben bis heute verstört, angstvoll aber entschlossen und facettenreich selbst zu beschreiben. Last but not least ist der Roman aber auch ein Triumphgeheul, das kindliche Triumphgeheul von Lily Brett über den Lebenshunger ihres knorrigen Vaters, jenes radebrechenden Eddy Rothwax, der seine Tochter im Roman jenseits aller Pietät und Larmoyanz absatzweise in den Wahnsinn treibt. Und seinen Lesern Tränen auf die Wangen zaubert, Tränen voller Lachen.