Donnerstag, 28. März 2024

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Ein Winter unter Hirschen

Irene ist Sachbuchbearbeiterin in der Filiale einer Buchhandlung und endlich, nach zwei Jahren, von ihrem Mann Matze geschieden. Also stehen eines Sonntags ein paar befreundete Kollegen pünktlich vor Irenes Tür, um dieser zu helfen, den Anteil ihres Ex-Mannes aus dem Haus zu schaffen. Matze darf sich nämlich dem ehemaligen Domizil auf richterlichen Beschluss hin nur noch bis zur Garageneinfahrt nähern. Zwar hatte Irene um jeden "vollgepupten Sessel", wie es heißt, gekämpft, aber ein paar Möbel sind natürlich doch an ihren Mann gegangen. Den Videorecorder versteckt sie vor dessen Eintreffen noch schnell auf dem Dachboden. Zum Dank für die Hilfe der Kollegen-Freunde – man spielt zusammen Tennis - verspricht Irene diesen, ein "Frühstück vom Feinsten" zu spendieren. Und nachdem dann die größten Brocken runter in die regensichere Garage geschafft sind, gibt es zur Wiedererlangung der verausgabten Kräfte Rahmgeschnetzeltes.

Thomas Palzer | 19.08.2001
    Das ist grob der plot einer Geschichte, die Gesang der Hunde heißt und die das neue Buch von Ralf Rothmann eröffnet – einen Band mit insgesamt zwölf Erzählungen, die unter dem Titel Ein Winter unter Hirschen zusammengefasst sind.

    Natürlich geht es bei der eben erwähnten Geschichte nicht um das Verladen von Möbeln. Es geht auch nicht darum, dass Irenes Kampfhundverschnitt Flicka den Ich-Erzähler an sein vergittertes Tier Jacky erinnert, dass dieser des Maulkorberlasses wegen verschenkt hat. Und es geht nicht darum, dass am Ende der Geschichte Irene zusammen mit ihren Helfern und deren mitgebrachten Kindern im Kleinbus in die Stadt aufbricht - und dann der Junge von Carsten - dem Mann am Steuer - in die Runde fragt, ob Hunde auch Musik mögen, worauf einer nach dem anderen, Irene, Carsten und der Ich-Erzähler, in den besagten Gesang der Hunde einfällt. Es geht, natürlich, um etwas anderes – um das, was gewissermaßen die Oberfläche generiert. Es geht um Liebe und Liebesverlust, um die verräterische Klarheit unscheinbarer Gesten, um die ungestillte und unstillbare Sehnsucht der Menschen nach Wärme und Zuwendung. Und von all dem versteht der 1953 in Schleswig geborene und heute in Berlin lebende Autor Ralf Rothmann wahrlich zu erzählen – feinsinnig, unaufdringlich, atmosphärisch dicht:

    Die Scharniere der Ladeklappe quietschten. Matze hatte sie gerufen. Irene drückte die Zigarette aus und stand auf, antwortete aber nicht. Sie knibbelte an ihren Fingern herum, zog sich etwas Nagelhaut vom Daumen. Die Lippen nur noch ein Strich.

    Matze schien sie nicht zu sehen. Er hob eine Hand über die Augen und rief noch einmal: "Renchen?"

    Sie war kreidebleich, hielt sich an Carstens Schulter fest. Doch der blieb seelenruhig sitzen, löffelte seinen Kuchen. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr. "Was willst Du?"

    Ihr Ex trat zwei Stufen höher, was er eigentlich nicht durfte. Doch jetzt sah er sie wohl. "Die Kiste mit den Platten fehlt."


    Ein Winter unter Hirschen ist ein Buch von seltener Wärme und Poesie. Es versammelt Geschichten, die den zwischenmenschlichen Alltag beleuchten - kleine Szenen und Begebenheiten, die einer Welt entstammen, die der Gegenwart ähnelt, der Bundesrepublik -, und in denen der Autor dem spirituellen und psychologischen Raum jenseits seiner physikalisch-politischen Ausdehnung nachspürt. Bereits voriges Jahr mit Milch und Kohle, einem Roman, der im Ruhrpott spielt, ist es Rothmann gelungen, die Geschichte der Bundesrepublik zu mythologisieren, die Geschichte ihrer Pubertät zu erzählen; und an eben dieser Mythologisierung schreibt der Erzählband auf seine Weise fort. Der Autor gibt der inzwischen zur Berliner Republik mutierten Bundesrepublik Geschichte, in dem er Geschichten erzählt, über die jene sich ihrer selbst versichern und sagen kann: Ja, so ist es gewesen. Darin, in der Erfindung von Erinnerung, denken wir, ließe sich das poetologische Programm Ralf Rothmanns fassen.

    Brümmerchen, eine weitere Story aus dem Buch, erzählt von dem seltsamen und beiläufigen Verhältnis eines Krankenpflegers zu einer Dialyse-Patientin, die gerade eine neue Niere transplantiert bekommen hat. Die Frau ist Mitte sechzig und hat eine Berliner Schnauze:

    "Meine Niere gehörte einem Taxifahrer", sagte sie neulich. "Da gibt’s doch wohl Kollegen-Rabatt, wenn ich in ‘ne Droscke steige?"

    Auf der Station wird Brümmerchen, wie die Dame genannt wird, von allen geliebt. Während einer Visite kollabiert Brümmerchen unvermutet, und der Krankenpfleger erlebt ihren Herzstillstand und den routinierten Versuch der Ärzte, mittels Schockgerät dieses wieder in Gang zu bringen. Durch die offene Zimmertür und die weißen Kittel hindurch vernimmt er jedoch nur das sterbende Fiepen der Herzkurve – und verzieht sich ins Dienstzimmer, um Kaffee mit Cointreau zu trinken, die Füße auf den Schreibtisch zu legen, eine Zigarette zu rauchen und den nahen Feierabend herbeizusehnen.

    Jetzt ein nahezu chirurgischer Schnitt, den der Autor setzt: Wochen später. Der Krankenpfleger hat Ärger mit seinem Chef bekommen und beschließt, seinen Job, den er ohnehin satt hat, aufzugeben. Die Kündigung bereits in der Tasche, schiebt er das wiederauferstandene Brümmerchen im Rollstuhl über den Gang und fragt, aus einer Laune heraus, diese nach ihrer Nahtodeserfahrung. Hat sie ein Licht gesehen, einen fernen Klang gehört? Doch Brümmerchen wehrt ab, ist viel zu sehr mit einer Illustrierten beschäftigt, in der sie blättert. Sie sei nicht zurückgeholt worden, wie die Ärzte meinten, erklärt sie endlich lapidar dem Pfleger, sondern sie sei zurückgekommen, weil sie noch etwas zu erledigen habe. Und dabei erwähnt sie ein Detail, das den Ich-Erzähler aufmerken lässt: Sie sei nämlich just in jenem Moment zurückgekommen, als dieser im Dienstzimmer Kaffee getrunken habe.

    Wie sie das denn wissen könne, fragt der junge Krankenpfleger, dass er im Dienstzimmer Kaffee getrunken habe, wo sie doch im Krankenzimmer gerade reanimiert wurde?

    Sie hob die Schultern, versuchte ein Lächeln, wobei die Prothese ein wenig verrutschte. "Das weiß ich jetzt auch nicht."

    Eine von Ralf Rothmann charmant lakonisch erzählte Geschichte – und eine, in der es ein weiteres Mal um Zuwendung geht, um menschliche Nähe. Geradezu unterirdisch und magisch ist die Bande, die die Patientin zu ihrem Pfleger geknüpft hat, eine körper – und wortlose Bindung, die da geschaffen wurde. Und fast pädagogisch und gleichsam wie eine religiöse Fabel, nur nicht so plump, belehrt die Story Brümmerchen den Leser darüber, dass alles, was geschieht, bemerkt wird – vielleicht nicht von einem Gott, wohl aber von denen, wo es ein Zwischen gibt, einen Bezug, irgend etwas Unbenenn- und Unerklärbares.

    Der Schriftsteller Ralf Rothmann erweist sich in seinen Geschichten wie in seinen Romanen als präziser Beobachter und detailversessener Minimalist. Er ist ein Autor, der seine Figuren liebt, sie selten nur für seine Zwecke benutzt, und der virtuos mit deren gestischen und psychologischen Möglichkeiten zu spielen versteht. Die Erzählungen sind keine Novellen, die mit Ungeheuerlichkeiten aufwarten, keine Ideenträger und keine Literaturliteratur. Es sind statt dessen Texte, die eine traditionelle Form des Erzählens pflegen - eine Form, die sich der Experimente der Moderne zwar bewußt ist, diese aber nicht angestrengt wiederholt, und die sich weigert, das Erzählen zu einem gleichwie gearteten Gegenstand des Erzählten zu machen.

    Wohlgesetzt die Schnitte, die Wendungen, die Sätze. Der Jargon des Alltags in den Text so verwoben, dass er kein Fremdkörper bleibt, aus dem Fluss des Erzählten reißt. Die Sprache geschmeidig, dabei knapp, klar, nüchtern; der Ton lakonisch; die Szenen sinnlich geschildert und luzid erfaßt. Details, denen der Autor sich liebevoll widmet und mit denen er seinen Geschichten Fleisch verleiht, kontern häufig die Szenerie, indem sie als Träger von Sinndeutungen auftreten - so etwa, wenn es in der letzten Geschichte
    Der Sänger heißt, dass es trotz "der Computer mit Fernbedienung" in dem Pariser Café noch "Blechteller für das Wechselgeld" gab.

    Rothmanns Erkundungen der bundesrepublikanischen Wirklichkeit – geprägt von einem Klima zwischen Maulkorberlass und Internet-Café und bevölkert von notorischen Singles, von Alleinerziehenden und Geschiedenen - scheinen häufig inspiriert von filmischen Blickwinkeln und Einstellungen – und streifen dann zuweilen auch den Kitsch. Mal hält einer seiner Frau "aprikosenfarbene Seidenpumps" hin, mal steckt sich eine Frau mangels Taschen die herausgegebenen Scheine in den Büstenhalter. Das sind Bilder aus der Werbung - für Champagner oder für französische Zigaretten. Aber auch das, wir geben es zu, hat mit der real existierenden Befindlichkeit der Bundesrepublik oder jedenfalls einer bestimmten Generation zu tun.

    Wovon handeln die anderen Geschichten? Wir beleihen den Klappentext: Es wird erzählt von zwei Mädchen, die ihre jeweiligen Freunde durchdeklinieren; von einen alternden, von der Kündigung bedrohten Drucker, der von seiner "Erleuchtung durch Fußball" berichtet; von einem schüchternen Sechzehnjährigen, der seinen Vater als Portier in einem Arbeiterheim vertritt, das unter dem seltsamen Namen "Bullenkloster" bekannt ist. In jener Geschichte wiederum, der das Buch den Titel entliehen hat, erzählt eine junge Frau von ihrem Zusammenleben mit einem Revierschoner, und in der letzten Erzählung kommt eine andere Frau - in Paris, wo sie mit ihrem Mann weilt, der sie, selbst noch geschäftlich im Hotelzimmer telefonierend, schon mal vorschickt - dem Glück sehr nahe, dem Wiederaufleben der Jugend in der Erinnerung.

    Das Universum, welches das Buch in seinen Texten ausbreitet, wird beschienen von einer meist melancholischen, manchmal auch nostalgischen Sonne. Die Welt der 70er und 80er, in der die Figuren wie ihr Autor jung waren und in der sich eine gewisse bohèmistische Lebenshaltung vollends ausprägte, ist im Verschwinden begriffen, eine andere, rechnergestützte Welt bereits heraufgezogen. Diese neue Welt mag etwa Paris "etwas zu leicht", wie es irgendwo heißt, also zu unbefragt – was bedeutet oder bedeuten könnte, dass ein nicht existierendes Paris wie ein Brennglas all die Sehnsüchte derjenigen in sich sammelt, deren fortgeschrittenes Leben inzwischen um das Wissen der Vergeblichkeit menschlicher Hoffnungen und Wünsche und um die Bitternis verflüchtigter Erfahrungen bereichert ist:

    Dann ging sie auf den Boulevard St. Germain, der voller Menschen war, besonders vor den Kinos. Sie hatte hier gewohnt, zwei Semester lang, kannte jeden Winkel des Quartiers, und als sie am Mittag vor der Tür ihres ehemaligen Zimmers in der Rue Mazarine gestanden hatte, waren ihr fast die Tränen gekommen. Keinen der Namen an der modernen Klingelanlage kannte sie mehr, die alte Concierge längst tot, im Parterre ein Handy-Geschäft; aber an der Zimmertür noch immer der wacklige, schon vor Jahren mit Draht geflickte Knauf aus geblümtem Porzellan.

    Die Welt in
    Ein Winter unter Hirschen ist eine brüchig gewordene Welt, eine Welt, die an ihrer eigenen Abschaffung arbeitet, die Welt einer Generation, der der Autor des Buches selbst entstammt – nicht notwendig biographisch, doch von der inneren Stimmung oder der Gestimmtheit her -, und die eine Generation ist, die wie jede vor ihr allmählich erkennt, dass die Träume und Hoffnungen zerronnen sind, dass nichts von dem, woran man geglaubt hat, sich bewahrheiten durfte, und dass man doch weiterhin daran glaubt – irgendwo, in einem winzigen und unbesiegbaren Winkel der Seele. Rothmann erzählt in zwölf unterschiedlichen Szenarien die Geschichte seiner Generation, die die Single-Generation war und aus der die Ego-GmbH wurde, die die Bildungskatastrophe der 60er überstand und die nun konfrontiert ist mit der Erziehungskatastrophe der eigenen Brut. Kein Buch für die Toskana-Fraktion, sondern eins für die Post-Toskana-Fraktion – eins für eine neue, erneuerte Lost Generation.