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Ich muss erzählen Mein Tagebuch 1941 - 1945

Mascha Rolnikaite, 75 Jahre alt. Eine kleine Frau mit großen dunklen Augen, ein auffordernder Blick. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in einer kleinen Zweizimmerwohnung, das Esszimmer ist auch Wohn- und Arbeitszimmer, auf dem Schreibtisch ein Computer, die Wände voller Bücher. Das wertvollste ist ein dickes schwarzes Album, in dem sie Erinnerungsstücke gesammelt hat: Blechmarken und Judensterne, abgegriffene Ausweise, vergilbte Fotos. So oft hat sie ihr Album des Grauens schon gezeigt, dass die Fotoecken nicht mehr halten.

Simonetta Dibbern | 22.10.2002
    Sie selbst braucht diese Beweisstücke eigentlich nicht, sie hat alle Erinnerungen in ihrem Kopf gespeichert - und hält sie wach, indem sie immer wieder darüber spricht. Ohne Aggression.

    Ich bin Mekane, Mekane, das ist ein (...) hebräischer Wort, die Leute, die sind auch die waren im KZ, die waren im Ghetto, aber nachdem sind sie, wer Arzt, wer Lehrer geworden ist und die leben ein normalen Leben und das ist Vergangenheit und viele wollen so gar nicht erinnern darüber oder sehr selten. Und ich bin die ganze Zeit noch dort.

    13 Jahre alt ist sie, als die Deutschen Wilna besetzen, am 22. Juni 1941. 3 Monate später muß die Familie ins Ghetto umziehen - 18 Menschen in einem Zimmer, Hunger, Kälte, Todesangst. Aber es gibt auch Theater, Musik, eine Bibliothek im Wilnaer Ghetto - Widerstandsgruppen. Und immer wieder Erschießungen.

    Am 23. September 1943 wird das Ghetto liquidiert, an diesem Tag hat Mascha ihre Mutter und die beiden kleinen Geschwister das letzte Mal gesehen - sie selbst wird deportiert, erst in das KZ Strasdenhof, in der Nähe von Riga, danach nach Stutthof, heute: Stutovo, bei Danzig. Das Mädchen Mascha hat Tagebuch geschrieben, die ganze Zeit. Minutiös festgehalten, wie die Sonne fröhlich scheint, wie die Brotkarten ausgegeben werden, wie sie heimlich ohne Judenstern zum Friseur in der Stadt läuft, wie ein blutiges Bündel Mensch abtransportiert wird. Mit der schonungslosen Naivität eines Kindes, das über Nacht erwachsen wird, notiert sie alles, was sie sieht, hört, fühlt, denkt. Schreibt es mit Bleistift in die Spalten eines Haushaltsbuches, später auf Papierfetzen und lernt es anschließend auswendig - damit die Soldaten es nicht finden. Chronik einer Überlebenden.

    Sie hat überlebt - sie wog zwar nur noch 38 Kilo, als sie zurückkam nach Vilnius, hatte keine Zähne mehr, die Füße waren so oft abgefroren gewesen, dass sie kaum laufen konnte. 18 Jahre alt, ein körperliches Wrack. Doch allein die Tatsache, dass sie lebte und Millionen anderer nicht, war für sie eine Art innerer Auftrag. Anders als ihre ältere Schwester, die nach dem Krieg Jura studiert und als Rechtsanwältin gearbeitet hat, konnte und wollte Mascha Rolnikaite nicht ein normales Leben führen. Das Erinnern wurde ihr zur Lebensaufgabe, es war nach dem Krieg auch, sagt sie, eine Form von innerem Protest. Schon im Ghetto und sogar im KZ hatte sie, fast immer die jüngste, die anderen Frauen zu kleinen Sabotageaktionen angestachelt.

    Wir mussten - am Sonntag arbeiten wir in Fabrik nur ein halben Tag, damit wir sollen nicht ruhen, mussten wir marschieren und singen und es war für uns ein spezielles Lied: "Wir waren die Herren der Welt, jetzt sind wir die Läuse der Welt". Ich wollte nicht so ein Lied singen. Da hab ich verfasst (singt auf jiddisch): 'Wir seinen die Strassenhofer Iden, das neue Europa bauen wir./Die Arbeit was mir haben ist verschieden, aber zorres haben mir genog a Schier./Wir Strasdenhofer, bis zum Hals, bis zum Mir Eur Strasdenhofer, wir wird ne.../Eur Strasdenhof, wenn werden kommen die Zeit wenn wir werdn sein befreit. Und so weiter.

    Die Notizen im Ghetto und im KZ waren in jiddisch, nach dem Krieg hat sie ihr Gedächtnis-Tagebuch in litauisch aufgeschrieben, heute schreibt sie auf russisch. Das Thema ihrer Romane und Erzählungen ist immer das gleiche: Leben nach dem Holocaust. Dass sie nach dem Krieg die Sprache der Täter lernt, liegt nicht nur daran, dass man am Moskauer Gorkij- Literaturinstitut, wo sie nach dem Krieg studierte, nur französisch oder deutsch als Fremdsprache nehmen konnte, und ihr, wie sie sagt, für französisch die Voraussetzungen fehlten. Es hängt auch mit ihrem Charakter zusammen, der Realität ins Auge zu sehen und sei sie noch so schmerzhaft.

    Im KZ hörte ich "jüdische Schweine", "polnische Schweine", "Mützen ab", wenn Appell ist, "Stillstand", "schneller, schneller, mach, dass du weggehst". Ich sag Ihnen, wenn ich deutsch hörte, wurde ich so nervös, unruhig. Das war ein schlechte Sprache. Aber vielleicht weil mein Vater gelernt hat. Vielleicht, weil mein Vater viel über Deutschland erzählt hat, und dass wir auch im Ghetto Beethoven, Schiller, kolmer... alle Menschen sind Brüder.

    Man kann nicht das ganze Leben hassen, sagt Mascha Rolnikaite. Als ihr Tagebuch das erstemal auf deutsch erschien, Ende der 60er Jahre, ist sie gegen den Rat von jüdischen Freunden zu Lesungen und Diskussionen nach Deutschland gefahren, in die damalige DDR. Nicht um persönliche Gefühle gehe es, sagt sie, sondern um die Sache. Darum war sie auch Kompromisse eingegangen, damit das Buch die sowjetische Zensur passieren konnte: Die Aufzeichnungen eines jüdischen Kindes waren, so das Institut für Parteigeschichte, nicht von der richtigen Klassenposition aus geschrieben.

    Nun erscheint ihr Tagebuch erstmals unzensiert auf deutsch, diesmal nicht aus dem Russischen, sondern direkt aus dem jiddischen Original übersetzt. Und nicht nachträglich bearbeitet - bis auf wenige Kürzungen muss der Leser das Leben im Ghetto und im KZ miterleiden, jeden Stiefeltritt der deutschen Soldaten, jede schlaflose Nacht, jeden Peitschenschlag auf den Kopf. Ein Tagebuch der Hölle, ein Mahnmal gegen die Gleichgültigkeit. Gegen die Gleichgültigkeit in Deutschland, aber auch in Russland, wo es seit den 80er Jahren eine Neonaziszene gibt, wo die Nationalistische Partei Jagd auf farbige Ausländer macht, wo Jungfaschisten in Uniform in der Metro fahren, ohne Aufsehen zu erregen, auch in St. Petersburg, erzählt Mascha Rolnikaite.

    Der Kampf gegen das Vergessen treibt sie an. Aber natürlich klingen zwischen den Zeilen der kleinen starken Frau Zweifel an, Mutlosigkeit manchmal auch. Und ein bißchen Müdigkeit - das Laufen fällt ihr immer schwerer, die Rente, die sie und ihr Mann bekommen, ist spärlich, jetzt wird auch noch die Unterstützung für die Heizkosten gestrichen. Immerhin können sie wie alle alten Leute in St Petersburg umsonst mit der Metro fahren. Und Brot, sagt Mascha Rolnikaite, Brot haben wir genug. Sie hofft, dass ihr Buch in Deutschland ein Erfolg wird, nicht, weil sie reich oder berühmt werden will, sondern weil ihr lebenslanger Kampf dann doch einen Sinn hat:

    Das ist für die Leute, die gleichgültig sind. Für die Gleichgültigen (...) Doch, doch, irgendwo zappelt sich eine Hoffnung, vielleicht wird jemand nicht gleichgültig bleiben.