Donnerstag, 28. März 2024

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Götz und Meier

Winter 1941/42 in Belgrad. Götz und Meyer bei der Arbeit: Sie fahren Lastwagen, ein bis zwei Fahrten pro Tag, sonntags ist Ruhetag. Die Ladung: Juden. Alte, Frauen und Kinder. Die Männer wurden schon liquidiert. Auf dem Weg halten die SS-Unteroffiziere Götz und Meyer kurz an, stecken einen Gummischlauch aufs Auspuffrohr und verbinden ihn mit dem Innenraum. Die Juden werden vergast. Ihre Leichen schaffen gefangene Serben in Massengräber. - 5000 Juden haben die Nazis damals tatsächlich so umgebracht. - Diese und andere grausamen Details trägt der namenlose Erzähler von "Götz und Meyer", ein Lehrer, zusammen, weil er im Holocaust von Belgrad fast seine ganze Familie verloren hat. - Seine Recherche ist zur Besessenheit geworden. In seiner Wohnung stapeln sich Ordner mit Dokumenten, Briefen und Biographien von Belgrader SS-Leuten. Dazu David Albahari:

Birand Bingül | 06.05.2003
    Er beginnt mit der Überzeugung, dass er Klarheit schaffen kann, wenn er die Fakten ausfindig macht. Wenn er die kleinen fehlenden Teile an die richtigen Stellen setzt. Aber genau so kommt es nicht. Je tiefer er in die Geschichte dringt, desto mehr verliert er sie. Am Ende ist er praktisch ein Opfer seiner eigenen Suche.

    Wenn diese Suche nach Fakten einen der Wahrheit nicht näher bringt, dann vielleicht die Phantasie?! Der Lehrer fängt an, mit Götz und Meyer zu sprechen, auf einer Parkbank, bei einem Schnaps. Die Suche nach der Familie verkehrt sich zur Suche nach Götz und Meyer. Eine Perversion der Geschichte, die Albahari geschickt erzählt: Die NS-Mörder sind Teil der Familie. Das heißt: Geschichte ist persönlich, Persönliches ist Geschichte. Also darf der verschrobene Erzähler auch persönliche Fragen stellen: Worüber Götz und Meyer wohl sprachen bei ihren Fahrten, wenn die Juden gegen die Wände hämmerten und schrien? Ob sie je geweint haben? Was haben sie ihren Frauen erzählt? Wovon nachts geträumt? Waren Götz und Meyer nichts als kleine, gleichgeschaltete Rädchen der NS-Vernichtungsmaschinerie?

    So gibt die Historie uns diese Leute: als gleiche Individuen, die den gleichen Job machen, aus genau den gleichen Gründen, als Teil eines totalitären Mechanismus, der alle gleichschalten will. Die Namen sind egal. Sie können Götz Meyer und Meyer Götz nennen. Aber dahinter steckt der Versuch des Erzählers zu zeigen, dass Götz nur Götz sein kann und Meyer nur Meyer, weil wir Menschen nur so existieren. Wir sind alle Individuen und sollten unsere Unterschiede schätzen, stolz auf sie sein.

    Diese Unterschiede verschwimmen zwischen Götz und Meyer. – Für David Albahari, Jahrgang ’48, ist dieser Roman weniger autobiographisch als vorherige Werke wie Mutterland , obwohl auch er Familienmitglieder im Holocaust verloren hat. – Auslöser dafür, Götz und Meyer zu schreiben, waren für Albahari aber vielmehr die Bürgerkriege in Jugoslawien. Die ethnischen Säuberungen bewiesen ihm die Aktualität des Stoffs. Er stieß auf existenzielle Fragen, die ihn nicht mehr losließen:

    Wie würde ich mich verhalten, wäre ich einer der beiden, Götz oder Meyer? Wie würde ich reagieren? Wie kann ich garantieren, dass ich nicht den Druck des Moments akzeptieren würde? Ich bin nicht wirklich sicher, dass irgendeiner von uns – so schlimm sich das auch anhören mag – für sich in Anspruch nehmen kann, dass er oder sie stark genug wäre, Nein zu sagen.

    So rückte Albahari die SS-Männer Götz und Meyer in den Mittelpunkt des Romans. Historisch ist der Gaslastwagen von Belgrad eine Randnotiz. Emotional versucht Albahari, an den Kern zu kommen: Das Menschliche im Unmenschlichen zu zeigen; das Erbärmliche im Erbarmungslosen, die Beiläufigkeit der Brutalität. Denn wo die Historie endet, muss sie als Geschichte fort erzählt werden, ins Persönliche hinein, ins unerträglich Nahe; dorthin, wo es keine Vergangenheit, kein Vergessen geben kann. Insofern versteht sich David Albahari als ein Schriftsteller, der die Geschichte achtet, ja sogar fürchtet:

    Ich muss zugeben, dass mir ein Schrecken durch die Glieder fährt, wenn ich an die Geschichte denke. Ich erschrecke, weil die Geschichte gleichgültig ist. Wir enden alle als nette, kleine Zahlen im Fluss der Geschichte, den wir nicht stoppen, nicht ändern können. Die schlimmste Erkenntnis ist schließlich, dass der Geschichte nicht nur einzelne Menschen egal sind, sondern auch deine Gefühle, deine Seele. Die Geschichte ist eine sehr kalte, furchtbare Person die ich nie persönlich treffen möchte. /

    Erinnern, nicht vergessen – diesen Grundsatz hat Albahari im Roman recht pädagogisch aufgelöst: Der Erzähler fährt mit seiner Schulklasse den Weg des Gaswagens ab und lässt die Kinder Todesqualen durchleiden. Der Samen des Erinnerns sei gesäht, heißt es dann knapp. – Trotz des erhobenen Zeigefingers im Buch macht sich Albahari keine Illusionen: (19)

    Irgendwo läuft immer ein Krieg. Es gibt immer Leute, die andere Leute umbringen, trotz all unserer Versuche zu erinnern. Und das versucht der Erzähler - auf etwas merkwürdige Weise - seinen Schülern zu sagen,: Leute, die morden, sind Leute genau wie ihr. Es fehlt nicht viel, und ihr wärt genauso. Ihr müsst begreifen, dass das nicht Außerirdische aus dem All sind. Das könntet ihr sein, im nächsten Augenblick der Geschichte.

    Das Bewusstsein schärfen – mehr kann man nicht tun. Ob es nutzt? Albahari kann und will das nicht beantworten. Hauptsache, der Leser ist gefangen von seinen Worten: (9)

    Ich versuche, die Geschichte fließen zu lassen, von Anfang bis Ende. Ich will, dass der Leser sich fühlt, als beträte er ein Labyrinth, ein Text-Labyrinth. Und wenn man einmal drin ist, gibt es kein Zurück mehr. Man muss immer weiterlesen, um aus dem Labyrinth herauszukommen. Nicht, weil man Angst bekäme im Labyrinth, sondern weil es der einzige Weg raus ist.

    Dieses Labyrinth umfasst 150 Seiten, geschrieben in einem zirkulierenden Stil, der bestimmte Details erst andeutet und später auflöst. Allerdings fehlt dem Buch der natürliche Fluss, die Hauptfigur wirkt hölzern, ihre Gefühle übertragen sich kaum. Sprachlich leistet Albahari sich einige abgehalfterte Bilder, an anderer Stelle glänzt er mit feiner Ironie. Albahari sind die historischen Passagen am besten gelungen, ohne Hoffnung, mit großer Lakonie, die nicht nur aus der Holocaust-Geschichte, sondern aus ihm selbst heraus erwachsen ist. (29)

    Ich bin in den Sechzigern, Anfang der 70er groß geworden, als Hippie, als Beatnik. Ich dachte, die Vorstellungen von Frieden, Freiheit und Gleichheit würden die Welt ändern. Aber das passierte dann natürlich nicht. Das wurde mir schließlich bewusst in dem furchtbaren Krieg im früheren Jugoslawien. Der zerstörte nicht nur meine Träume, glaube ich, sondern die Träume von Millionen von Menschen, nicht nur in Jugoslawien, auch in Europa. Denn plötzlich erkannten sie, dass in Europa wieder etwas passierte, das hätte gestoppt werden können. Aber als die meisten Leute anfingen, darüber nachzudenken, war es zu spät.

    Zu spät auch für Albahari selbst. Das Milosevic-Regime war für ihn unerträglich. Ein Stipendium führte ihn vor neun Jahren nach Kanada. Es gefällt ihm dort. Er kann schreiben, an einem ruhigen Ort für einen desillusionierten Mann. Der Lehrer in "Götz und Meyer" hat weniger Glück. Er entwickelt sich zu einem Don Quijote des 20. Jahrhunderts, mit einem Regenschirm im Anschlag, um die Vergangenheit endlich zu stellen. Und Götz und Meyer stehen am Ende ohne Arbeit dar: Ein NS-Inspekteur stellt fest, dass Gaslastwagen in Städten für die Endlösung nicht so effizient sind wie Konzentrationslager. - Die Geschichte ist nicht neu, sie wiederholt sich, also muss sie nicht neu, aber immer wieder erzählt werden. Das ist David Albaharis Verdienst.